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Titel: All together now! Kunst im Kollektiv · S. 46 - 47
Titel: All together now! Kunst im Kollektiv ,

All together now!

Kunst im Kollektiv
herausgegeben von The Collective Eye

Kollaboration. Kooperation. Komplizenschaft. Partizipation. Kollektiv. Alles Begriffe, mit denen diverse Formen der Zusammenarbeit auf den unterschiedlichen Gebieten umschrieben werden. In der Wissenschaft, der Forschung, der Industrie, ebenso in den Bereichen Film, Literatur, Philosophie, Theater, Oper, Tanz, Kultur im allgemein und natürlich auch in der Kunst. Nicht zum ersten Mal befasst sich KUNSTFORUM International mit diesem Phänomen. Bereits 1978 erschien „Künstler-Ehen“, 1983 „Gemeinschaftsbilder“, 1991 „Von der Utopie einer kollektiven Kunst“, in diesem Jahr „Zusammenleben“, zudem eine Gesprächsreihe zu „Kollaborationen“. Und obwohl Kollektivität zum Alltag gehört und der Zusammenschluss von Künstler*innen zu Kollektiven keine Seltenheit ist, fanden sie in der Kunstszene und im Kunstmarkt kaum Beachtung.

Spätestens mit dem an das Array Collective verliehenen Turner Prize (2021) und der zunehmenden Einbeziehung von Kollektiven bei Biennalen und der Manifesta schien ein Wendepunkt erreicht zu sein. Und immer häufiger wurden Künst ler*innenkollektive eingeladen, Biennalen zu kuratieren. Als 2019 das interdisziplinäre Kollektiv ruangrupa aus Jakarta zum Kurator*innenteam der documenta fifteen ernannt wurde, wirkte dies wie die Krönung des radikalen Umdenkens innerhalb der westlichen Kunsthemisphäre. Nicht nur, weil noch nie zuvor einem Team aus dem Globalen Süden eine der bedeutendsten Weltausstellungen im Globalen Norden anvertraut wurde, sondern auch, weil dieses statt Werken von Einzelkünstler*innen vornehmlich Projekte und Prozesse von bei uns noch völlig unbekannten Kollektiven präsentierte und ein interkollektives Netzwerk ins Leben rief.

Der konzeptionelle Ansatz geriet alsbald ins Kreuzfeuer medialer Kritik, die ihm Antisemitismus vorwarf und behauptete, Künstler*innenkollektive entzögen sich per se der Verantwortung, weil diese grundsätzlich eine individuelle sei. Kollektive wurden über einen Kamm geschert. Dabei unterscheiden diese sich in ihrer Gruppensubjektivität, ihren Beweggründen, Hoffnungen, ihrer Ästhetik genauso stark wie die Einzelkünstler*innen in ihrer Subjektivität.

Das Projekt-Kollektiv The Collective Eye, die Herausgeber des neuen KUNSTFORUM-Bandes „All together now! Kunst im Kollektiv“, rückt diese Vielfalt in den Fokus seiner Betrachtungen. Es bietet eine Innenansicht anhand der Fragen von Victoria Tarak und Heinz-Norbert Jocks: Was bewegt eine oder einen Künstler*in zur Zusammenarbeit? Wie wird Subjektivität zur Intersubjektivität? Was ist das Fundament kollektiver Praxis? Welche Rolle spielen die Unzufriedenheit mit dem Status quo, das Unbehagen der Geschlechter und die Suche nach neuen Wegen des Zusammenlebens? Wie wird im Team ohne Hierarchie entschieden? Angesichts des menschlichen Bedürfnisses nach Zusammensein und eines Begriffs wie Zwischenmenschlichkeit wird darüber hinaus gefragt, ob die Dichotomie von Individuum und Kollektiv nicht ein Trug der Entfremdung ist.

In dem Eingangsessay „Wir waren immer kollektiv“ beleuchtet Heinz-Norbert Jocks die Konstituierung des Ichs, das keine Selbstschöpfung aus dem Nichts, sondern Spiegelung im Anderen ist. In einem Gespräch von Tarak und Jocks verdeutlicht die Philosophin Judith Butler, dass wir Menschen aufgrund der Verflochtenheit aller Leben nur in gegenseitiger Abhängigkeit existieren können. Der Soziologe Richard Sennett denkt über soziale und ästhetische Verschränkungen von Kunst und Leben, trügerische Annahmen der Partizipation und den Einfluss des Nonverbalen auf kollektive Zusammenarbeit nach. Janice Michell, die in die internationale Geschichte der Künstler*innenkollektive einführt, erkennt in deren Praxis eine „Strategie, durch die Räume geschaffen werden, in denen Diskurse eine auf die Gesellschaft überspringende Dynamik entfalten können.“

Um die ganze Bandbreite der Diversität vor Augen zu führen, werden Künstler*innengruppen vorgestellt. DEMOCRACIA, Superflex und Guerrilla Girls verstehen ihr Tun als Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit, während sich Petrit Halilaj & Alvaro Urbano, The Nest, das Array Collective und SPIT! mit Genderfragen in unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften befassen. Dass zwei schon ein Kollektiv sind, erörtert Claire Fontaine auch im Namen von Mountain River Jump! und FORT. Zu guter Letzt weitet die Philosophin Gesa Ziemer den Blick auf die Neugestaltung von Städten zu Räumen humanen Miteinanderlebens.