Das Potenzial des Textilen in Skulptur und Architektur
von Uta M. Reindl
Eine möglichst realistische Wiedergabe von faszinierend transparenten, schimmernden Textilien ist von jeher die Herausforderung für Kunstschaffende, ob in der Malerei oder in plastischen wie architektonischen Disziplinen. Das feine Tuch der Gewänder in barocken Porträts gewann eine besonders taktil reizvolle Qualität, die gemalten Kleidungsstücke schienen sich gar aus der Zweidimensionalität der Darstellung zu befreien, als wollten sie die Standeszugehörigkeit der „edlen“ Träger*innen fühlbar machen.
Yael Bartana modellierte 2024 ihr Skulpturen-Ensemble The Wolf shall Dwell with the Lamb aus Marmor. Bei diesem schmiegt sich feines Tuch faltenreich an darunter liegende Körper der im Titel genannten Tiere und erinnert in seiner Geschmeidigkeit an Renaissance-Plastiken, bei denen der marmorne Werkstoff mit der Anmutung von hauchdünnem Seiden-Chiffon und einem verlockenden Transparenzversprechen etwa das Antlitz eines oder einer Porträtierten überzieht. Unmissverständlich spielt die Israelin mit der im Kriegsjahr ihres Landes entstandenen zeitgenössischen Adaption der Prophezeiung Jesajas (Kapitel 1, Vers 61) auf den Wunsch nach friedlicher Koexistenz an.1
Nicht bloß das bemerkenswerte Fließen, die Weichheit der Stoffe und Gewebe aus organischem Material, auch deren handfeste Robustheit reizt seit der Moderne zunehmend Künstler*innen, Textilien in ihren Materialexperimenten zum Einsatz zu bringen – gerne auch synthetisch oder als Simulation aus textilfernen Materialien. Hinzu kommt, dass sich seitdem die zeitgenössische Kunst vom Formen- und Materialrepertoire der außereuropäischen, indigenen Kunst und Folklore inspirieren ließ und sich der Interdisziplinarität sowie einer zunehmenden Durchlässigkeit zwischen der freien und der angewandten Kunst öffnete.2
Anspielungsreiche Auftritte von der Puppe zum verwobenen Objekt
Hannah Höch, Protagonistin von Berlin-Dada, wurde von…