Das Selbstporträt als Bildtypus
Werner Lippert
Das Selbstporträt als Bildtypus – ist eine Untersuchung der Mechanismen dieser speziellen Form der Selbstdarstellung. In vielen Arbeiten der zeitgenössischen Kunst – der letzten Zeit vor allem – zeigt sich zunehmend ein Hang zum Individuellen, zum Persönlichen und eben zur Person des Künstlers. So schien es uns angebracht, diesen ‚Bildtypus‘ in seinen verschiedenen Formen aufzuzeigen und in seinen unterschiedlichen Funktionsweisen zu analysieren. Ausstellungen zum Thema ‚Selbstporträt‘ gab es bisher in der Galerie Martano, Turin, 1974, mit Katalog; in der Galerie Magers, Bonn, 1974, mit Katalog; im Kaufhaus Wertheim, Berlin; – der Kunstverein in Braunschweig hat für dieses Jahr eine Ausstellung mit Selbstdarstellungen aus einer deutschen Privatsammlung angekündigt.
Das Selbstporträt – allgemein, das Porträt -ist primär weniger ästhetisches Produkt, als das Ergebnis eines Repräsentationsbedürfnisses. Unabhängig von seiner physischen Anwesenheit will der Dargestellte anwesend sein – das Porträt re-präsentiert ihn im wahrsten Sinne des Wortes, wie verschiedene juristische Bräuche am konkreten Beispiel belegen: dem byzantinischen Kaiserbild werden den Zeremonienbräuchen gemäß fürstliche Ehren zuteil, Todesurteile werden -und das ist der andere Pol des Repräsentationsvermögens – bei flüchtigen Verurteilten ‚in effigie‘ vollstreckt. In Geßlers Hut (Wilhelm Teil) oder in der sympathetischen Magie finden sich die mehr mythischen Formen bildlicher Vergegenwärtigung. Die repräsentierende Kraft, die dem Porträt innewohnt, läßt es zu einem Gradmesser sozialer Rollenverhältnisse und -Verschiebungen werden, zugleich bedingt sie eine Entwicklung von Darstellungstypen und -schemata, die notwendig sind, um konventionelle Verhältnisse bildhaft umzusetzen.
Auch wenn in der allgemeinen historischen Entwicklung das Porträt (scheinbar) seinen Rang, seine institutionale Bedeutung verloren hat, wohnt den verschiedenen Porträtformen immer noch ihre Repräsentationskraft inne. In der Fotografie werden (gleich mit ihrer Popularisierung) die Repräsentationsbedürfnisse des Bürgertums aufs Beste befriedigt – die Gattungen der Darstellung werden der Malerei entlehnt: das ganzfigurige Staatsporträt etwa wird mit all seinen Requisiten übernommen. Wie grotesk solche Übernahmen sein können, zeigt die Geschichte des Porträts im achtzehnten Jahrhundert, in der privilegierte Bürger sich in fürstlichem Pomp darstellen lassen, Fürsten aber ihr Konterfei in bürgerlichen Requisiten bestellen.
Aus den ästhetischen Forderungen der Kunstlehren des fünfzehnten Jahrhunderts erwachsen dem Porträt besondere Bedeutungen. Das ritratto (= Bildnis) enthält in höchster Form die Forderung nach dem ritrarre, nach der Nachbildung nach der Natur, der ‚wunderbaren Erzeugerin aller Dinge‘. Im Aufrechterhalten des Gedächtnisses der Toten und im Repräsentationspotential des Bildes wird diese Bedeutung im Porträt noch erhöht, zugleich aber auch verdeutlicht sich in ihm in herausragender Weise ein Dilemma der Kunst: ‚Wenn Du Kunst auch Sitten und Geist malen könntest, dann wärst Du das schönste Bild hier auf Erden‘, heißt es in einem Bild des frühen Fünfzehnten Jahrhunderts. Hier wird ein Mangel beklagt, den schon Plinius im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Kunst anrechnet, der immer wieder den Porträtisten zu schaffen macht.
Erst die Aufhebung des lange als selbstverständlich hingenommenen Zweistufenschemas von empirischem Naturstudium und nachfolgender intuitiver Selektion führen mit einem sich wandelnden Selbstverständnis der Künstler zu einem Umdenken, das sich vor allem auf das Porträt auswirken soll. Die Aufhebung des Identitätscharakters zugunsten einer Darstellung des vergeistigten Gehalts (deutlich in Michelangelos Aversion gegen bildnerische Identitätssuche etwa) geben den Weg frei für neue Formen, die das sechzehnte Jahrhundert zu einer Wendemarke werden lassen: hier werden Porträttypen ‚erfunden‘, die heute noch ihre Gültigkeit besitzen.
Die eigentliche Geschichte des Künstlerselbstporträts beginnt im frühen vierzehnten Jahrhundert (literarisch sind Selbstbildnisse schon für das achte vorchristliche Jahrhundert nachgewiesen) mit sogenannten Autorenbildnissen, Porträts, die den Künstler bei der Übergabe seiner Kunstwerke an den Stifter zeigen. Im Assistenzporträt verstärkt sich der Teilnahmecharakter der Darstellung – der Künstler wird in das soziale Leben integriert durch seine Teilnahme (als Randfigur) an den Ereignissen, die er darstellt. Immer aber noch tritt er hinter den Rahmen der Handlung zurück (etwa als Wirt beim Abendmahl). Gleichzeitig verdichtet sich der Signaturcharakter des Selbstbildnisses, der durch die Forderung nach bildhafter Identität unterstützt wird. (Etwa in den Porträts, in denen der Maler sich selbst im Spiegel darstellt, so in dem bekannten Bildnis des Arnolfini, der Jan van Eyck und dessen Frau porträtiert.) Immer stärker aber entwickelt sich die Assistenzfigur des Künstlers zum selbstbewußten Teilnehmer; die Konfrontation mit den Bildstiftern, den privilegierten Teilnehmern, wird offensichtlich. Die Emanzipation des Künstlers im Bilde aber findet ihre Grenzen in den Gepflogenheiten der Zeit und der Abhängigkeit von Auftraggebern. Erst in der Hinwendung zum mobilen Selbstporträt (Tafelbild), das sich sowohl von den Gepflogenheiten als auch von der Abhängigkeit (die sich wechselseitig bedingen, bzw. die Kunstproduktion beeinflussen) löst, vollzieht sich auch die Autonomität des Selbstporträts. (Schon ein frühes Bildnis des Leone Batiste Alberti von 1446 mag hier als Hinweis und Ausgangspunkt dienen.) Die Selbstdarstellung wird thematisiert, wird zum Bildtypus. Zugleich aber auch drängt das Porträt heraus aus dem naiven Selbstbildnis des fünfzehnten Jahrhunderts, aus dem ritrarre hinaus zur Invention. Die (Selbst-) Reflexion des Künstlers findet ihren Niederschlag, das Selbstporträt wird eingekleidet in Geschichten, in die Geschichte (portrait historiée), der Künstler nimmt Rollen ein, die über Zeit und Geschichte hinausgehen. (Zum Beispiel Giorgiones ‚Darstellung als David mit dem Haupt des Goliath‘ oder Raffaels ‚Raffael mit seinem Fechtmeister‘) In der Genremalerei hingegen wird das Selbstbewußtsein des Künstlers so stark, daß er eine Identifikation nur noch über die dargestellte Situation erlaubt.
Eine historische Darstellung des Selbstporträts bis hier dürfte einer Markierung der Funktionsmöglichkeiten und der Entwicklung gewisser Typen und Schemata genügen. Akademische oder später bürgerliche Eingriffe konnten dem einmal angelegten Porträt-‚Apparat‘ nichts mehr hinzufügen. Selbst die massenmediale Überstrapazierung des Porträts und des Selbstporträts im zwanzigsten Jahrhundert veränderten Bedeutung und Funktion nicht grundlegend. Zwar hat das ‚Bild der Lieben‘, das jeder mit sich herumträgt, eine soziale Funktion im weiteren Sinne verloren, zwar haben Fernsehen und Zeitschriften die ‚Öffentlichkeit‘ der dort hergezeigten Porträts enorm erweitert, doch werden diese ‚oberflächlichen‘ Veränderungen nicht als Modifikation im Künstlerselbstporträt wirksam, es sei denn als ikonographische Rückverweise oder Wiederaufnahmen (wie sie sich besonders in den Porträtreihen Andy Warhols finden, die ‚Öffentlichkeit‘, Repetition und Klischierung als Merkmale des durch die Medien verbreiteten Porträts in sich vereinen). Unverändert aber funktionieren immer noch die alten Porträtformen: im Trivialen etwa die Ganzfigur des Idolfotos, oder die immer noch ‚klassische‘ Form des Potentatenporträts (und das nicht nur in totalitären Staaten), in der Kunst das Selbstporträt zur Reflexion historischer und sozialer Rollenverteilung durch die Übernahme von Posen und Requisiten mit Verweischarakter (Salvo, Dimitrijevic, Ontani), oder von der Funktion her das Porträt als Untersuchungsträger geistiger Gehalte (Ben Vautier: Who am I? ), das Signaturporträt (Manzonis Daumenabdruck, Penone) oder das Genre-Porträt (die Porträts und Porträtserien von Duane Michals könnte man als Genre-Bildnisse bezeichnen).
Die Beschäftigung mit der eigenen Person, die sich in zahlreichen Beispielen jeder Kunstrichtung finden läßt, wirft die Frage auf nach der Motivation der Selbstdarstellung, nach dem ‚Selbst‘, das dargestellt ist. Beides sind Fragen, die sich auf keinen Fall pauschal beantworten lassen, deren eingehende Untersuchung immer am Beispiel zu erfolgen hätte. Aber ist das Selbstporträt ein Selbst-Porträt, ist es ein Ich-Porträt, ein Es-Porträt? Neben der Frage nach der künstlerischen Intention, nach ästhetischen Implikationen, dürfte das in jedem Falle die wichtigste Frage sein, um ein Selbstporträt in seinem Charakter faßbar zu machen.
Sicher spielt darin (expliziter vielleicht als in anderen menschlichen Ausdrucksformen) die Idee der Selbstverwirklichung eine Rolle, als ein ganzheitliches Motiv, das allem (?) menschlichen Handeln zugrunde liegt, als ein Drang, sich in Handlungen und Gedanken zu verwirklichen. Selbstverwirklichung als Vermittler zwischen dem Unbewußten und dem Bewußten, die in der Aufhebung der Widersprüche zwischen beiden Schichten zur Individuation führt; Selbstverwirklichung als die Tendenz, die nach Autonomie strebt, die das Individuum der Kontrolle der Umwelt entkommen läßt? Oder manifestiert sich im Selbstporträt das passive Ich, das sich aus den Erfahrungen des Individuums herausbildet, als eine Persönlichkeitsstruktur, die auf der Orientierung an sozialen Bedürfnissen, an Wünschen oder Interessen basiert? Oder zeigt sich hier das Es, das sich im Gegensatz zum ‚Ich‘ der bewußten Kontrolle entzieht, das Triebhafte? Oder hat das Überich auch hier die konstituierende Rolle, die ihm durch die Forderungen der Sozialisation zugewiesen wird? Oder als was oder wie kann sich das Selbstporträt gegen darin implizierte Rollen kritisch absetzen?
All diese Fragen hätten sich nicht zuletzt zu orientieren an dem Grad der Selbstvergewisserung, die zwangsläufig im Selbstporträt (wenn es nicht nur formale Adaptation ist) stattfindet. In der Entfaltung von Bewußtsein, das sich mit dieser Selbstvergewisserung verbindet, stellt sich der Künstler im Selbstporträt aber auch bewußt auf ein ‚moralisches‘, ‚politisches‘ Podest, entzieht er sich qua Bildfunktion der konventionellen Forderung nach dem kollektiven Gesamtbewußtsein. Nicht das Selbstbewußtsein aber ist provokant, sondern die Situation macht es provokant! Wo in einer Gesellschaft Kommunikationsunfähigkeit und Identitätsverlust zwangsläufig Hand in Hand gehen, wird das Selbstbildnis zum expliziten Sinnbild einer Ausbildung von Identität über eine Kommunikation mit der Umgebung, über eine Auseinandersetzung mit der Umwelt (ganz gleich auf welche Aspekte der Umwelt sich das Porträt bezieht – Erinnerung/Historie bei Christian Boltanski, Rollenverteilung/patriarchalische Gesellschaft bei Urs Lüthi). Da diese Tendenzen innerhalb der Bildform ‚Selbstporträt‘ aber in allen Fällen einer weiterreichenden Intention (oder Ästhetik) untergeordnet sind, fehlt ihnen sicher der restaurative Charakter, der einer Selbst-Abbildung um ihrer selbst willen (und der impliziten Tendenzen exemplarischer Individuation etc) zueigen wäre. Daher erübrigt sich auch eine Unterscheidung des Selbstporträts nach seinem subjektivistischen oder mimetischen Gehalt etwa. Echt differenzierbar bleibt das ’neue‘ Selbstporträt aber nach seiner Funktion innerhalb des künstlerischen Kontextes des Einzelnen und in seiner Medialität (Materialität) als Bild- und Funktionstypus:
Eine Arbeit wird zum Selbstporträt, weil sie die Person des Künstlers reflektiert, seine soziale Stellung (Urs Lüthi) in Bezug auf konventionelles Rollenverhalten oder seinen ‚historischen‘ Bezugsrahmen innerhalb seiner Gesellschaft (Christian Boltanski). Die Bestimmung der eigenen Position erfolgt an der Untersuchung des Bezugsnetzes und seiner Einflußmöglichkeiten auf die eigene Person. Bei Urs Lüthi steht die eigene Person für ein soziales Rollenverhalten, dessen Identität und Charakter untersucht werden soll. Am Beispiel ‚Lüthi‘ untersucht er selbst geschlechtsspezifische Definitionen, die für das Bild einer Gesellschaft maßgeblich sind. Über den Rahmen der Travestie hinaus werden Probleme der Konfrontation von ‚maskulin‘ und ‚feminin‘ herausgeschält und einer weiterreichenden Analyse zugeführt. Zugleich werden vor dem Hintergrund der Tabuisierung gewisser Themen allgemein als pathologisch angesehene Rollen inszeniert und als Exempel der Verfügbarkeit/Anwendbarkeit der eigenen Person umschrieben. Da die Verfügbarkeit der eigenen Person (Persönlichkeit, Image) zugleich ein Problem der Identität bedeutet, sind diese Rollen-Bilder auch eine Analyse der Tragfähigkeit eines ‚Bildes‘ (=Image) und dessen Bedeutung für die soziale Stellung, in dem Sinne, daß ein Bild zugleich Ergebnis einer sozialen Fixierung (Konvention) und auch selbst rollenbildend (Konventionen bildend) ist. Im Rahmen der Kunst läßt sich dieses Untersuchungsschema, das zum ersten Mal in größerem Rahmen 1974 in der Luzerner Ausstellung ‚Transformer‘ vorgestellt wurde, zurückverfolgen über einzelne Arbeiten Marcel Duchamps etwa bis in künstlerische Darstellungen des Pansexualismus, wie sie für einige Formen des Manierismus charakteristisch sind. Eines anderen konventionellen Repräsentationsschemas bedient sich Christian Boltanski: Konstruktion und Rekonstruktion von Bildern mithilfe von Artefakten, wie sie sich als ein Merkmal einer ‚zivilisierten‘ Menschheit und ihrer Geschichtsauffassung zeigen. Fragwürdigkeiten der Verfahren und Austauschbarkeit der Konstruktionen sind zwar bewußt, werden aber zugunsten der sozialen Wertigkeit solcher Verfahren (Geschichtsbilder, Viten, Museen…) verdrängt. ‚Die Zeit anhalten und Momente des Lebens (zu) bewahren‘, sind die Vorstellungen, deren Christian Boltanski sich bedient, um seine eigene (fiktive) Vergangenheit zu rekonstruieren. Er sucht Bilder seiner selbst, stellt Gegenstände seiner Jugend wieder her, sammelt Klischees, die auf ihn passen, ihn beschreiben, um ein ‚Bild‘ seiner selbst zu geben und zu bewahren. Er weiß um den Wert solcher ‚abgelegten‘, vergangenen Dinge und spielt mit der Repräsentationsfähigkeit des Artefakts. Die ‚wissenschaftliche‘ Gründlichkeit der Untersuchung tritt in einen Wechselbezug zum Geschichtsbewußtsein einer Gesellschaft, in der das Fragment einer Persönlichkeit ungeachtet seiner ursprünglichen Funktion ästhetisiert wird.
Die Person des Künstlers wird reflektiert und als Setzung genommen, an ihr hat sich das Umfeld zu orientieren, an ihr wird es gemessen (Manzoni, Salvo, Ben). Die eigene Person wird zum Maß, die Arbeit zwangsläufig zum Selbstporträt. ‚Kunst ist das, was ein Künstler macht‘, könnte die Grundidee für Manzonis Arbeiten lauten. Der Ausgangspunkt ist sein Künstler-Sein, das sich in verschiedenen Objekten (=Kunstwerken) manifestiert. So kann er, ausgehend von dieser Idee, Personen zu Kunstwerken deklarieren, oder Dinge mit seinem Daumenabdruck signieren und dadurch ebenfalls zu Kunstwerken machen. Ein repräsentatives Zeichen seiner Persönlichkeit (Fingerabdruck, Signatur) reicht, um das Wesentliche des Künstler-Seins weiterzugeben, mithin das Essentielle der eigenen Existenz zu übertragen.‘ Während Manzonis Attitüde eine Definition von Kunst ist, geht es Salvo um eine Analyse der Kunst, die er an ausgewählten Beispielen durchführt: Auf einer Gedenktafel ordnet er sich unter die Namen der ‚Großen‘ von Aristoteles bis Che Guevara ein, er zeichnet sein Porträt in die Kopie eines Bildes von Raffael ein, oder läßt sich in der Pose historischer Künstlerporträts ablichten. Die Selbstdarstellung wird zum Leitfaden einer Kunst(geschichts)betrachtung, an der sich die konventionelle Wertigkeit und Wertgebung von Kunstwerken verifizieren lassen. Zugleich verdeutlicht sich das unterschwellige Problem der ‚Bedeutung‘, die allen Kunstwerken innewohnt – Bedeutung die sowohl dem Objekt selbst anhaftet (Aura) als auch Bedeutung, die dem Dargestellten durch die Darstellung verliehen wird. Welche Objekte oder Personen sind darstellungswürdig? und: welche Arten von Kunst sind würdig, diesen oder jenen Sachverhalt wiederzugeben? Salvo überläßt die Beantwortung nicht der posthumen Klärungssucht der Geschichtsschreiber, sondern setzt sich selbst in die Stelle des Juroren: er entscheidet mit welchem Namen er auf einer Marmortafel verewigt wird, er entscheidet in welcher Pose sein Porträt zu fertigen ist, er entscheidet mit welchen anderen Meisterwerken seine Arbeiten in einem Raum zu hängen haben. Er benutzt den einmal akzeptierten Apparat und weist sich selbst die ‚öffentliche‘ Anerkennung zu, die er» für angemessen hält. So spiegelt er zugleich auch das soziale Selbstverständnis einer (seiner) Kunst wider.
Die Subjektivität der Wahrnehmung zwingt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Person und dem eigenen Modus der Perzeption, der jedem seine ‚eigene Sicht‘ der Dinge ermöglicht bzw. aufdrängt. In Anselmos ‚Lato destro‘ beschreibt er seine rechte Halsseite mit ‚Lato destro‘ (=’rechte Seite‘) so, daß er es im Spiegel lesen kann. Die direkte Wahrnehmung dieser tautologischen Beschriftung aber ist nur ihm beim Blick in den Spiegel möglich. Eine Metapher in dem Sinne, daß es nur jedem selbst vergönnt ist, sich selbst zu sehen und zu erfahren, daß jede Abbildung, jede ‚Darstellung‘ eines Mechanismus bedarf, der die Wahrnehmung verändert. ‚Rechte Seite. Nicht wie mich die anderen sehen, aber wie ich mich sehe. Nicht mein Gesicht ist wichtig, sondern der Gesichtspunkt.‘ Als psychologisch motivierter Gegenpart zu dieser mehr mechanischen ‚Abbildtheorie‘ stellt sich die Arbeit Giuseppe Penones dar: Wahrnehmung ist mittelbar, ist nur vollziehbar durch Verfahren, die in ihrer grundsätzlichen Gestalt von der Persönlichkeit des Wahrnehmenden beeinflußt werden, – so sein Konzept, Kontaktlinsen mit den Linien seines Fingerabdrucks zu beschichten: ‚Die Haut ist, wie das Auge, ein Grenzelement, eine äußerste Schicht, die uns von der Außenwelt trennt… Wenn die Realität außerhalb sich ändert, erlaubt die Haut mir, mich selbst zu erkennen.‘ Auch sein Bild mit den verspiegelten Kontaktlinsen beschreibt diese Erkenntnis. Im Bild, das man sich von einem anderen macht, spiegelt man sich selbst wider – und: was man sieht (erfährt) gibt (spiegelt) man auch wider. So wie der Porträtierte in die Welt schaut, will er auch, daß man ihn ’sieht‘.
Eine besondere Form des Selbstporträts findet sich bei Hans-Peter Feldmann und Hans Haacke. Feldmann bezeichnet seine Arbeit insgesamt als ‚Selbstporträt‘, in dem Bewußtsein, daß Arbeit und Person einander so stark bedingen, daß die Arbeit seine Person repräsentiert. Wenn Hans Haacke die Geburtsurkunde seines Sohnes als Selbstporträt bezeichnet, dann wird hier der mentale Wechselbezug, der sich bei Feldmann findet, gegen einen physischen ausgetauscht. Ein ähnliches Verständnis findet sich in der Komposition ‚Selfportrait for one performer‘ von Frederik Rzewski von 1964. Er sagt dazu: ‚Die Komposition des Stückes beschreibt keine Objekte, Töne oder Tonstrukturen, sondern subjektive Situationen, das heißt, die Situation des Aufführenden in seiner Aufführung. Alle Bestimmungen werden vom Vorführenden getroffen in Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von dem, was einen ‚Klang‘ ausmacht…‘
Das Selbstporträt wird zum Material künstlerischer Untersuchungen oder Tätigkeiten und wäre austauschbar gegen andere Bildformen (Giulio Paolini, G.O. Päffgen, Timm Ulrichs) oder es wird zum Relikt eines Gestus (M. Duchamp). In vielen Performances, in den frühen Happening- und Fluxusaktivitäten und anderen Einzelfällen (etwa Beuys) werden Interesse und Aktivität der Arbeit auf den eigenen Körper gerichtet, der damit zum Material der künstlerischen Arbeit wird. Auf verschiedenen Ebenen wird dann die Aktivität selber oder ihre Dokumentation zu einem Selbstporträt des Künstlers, das in diesem Falle einfach die materiale Konsequenz der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper oder der eigenen Person ist.
Eine offensichtliche Übernahme konventioneller Porträtformen findet sich in den Porträtfotos und -Serien von Duane Michals; da auch das Funktionsschema (etwa im symbolischen Porträt) beibehalten wird, handelt es sich um eine Übernahme des Bildtypus ohne Modifikation oder Reflexion der Bildstruktur und ihres Gehaltes. Über die narrative Struktur eines Fotos oder einer Serie wird die Identifizierung nur möglich über eine Interpretation bestimmter Faktoren mit Verweischarakter auf die Person und Persönlichkeit des Urhebers. Die Übernahme eines konventionellen Schemas findet sich auch bei Andy Warhols Selbstporträt. Durch die Mehrstufigkeit der Repräsentationsstruktur aber wird der Konsumcharakter einer Abbildung, eines Porträts herausgestrichen: Von der realen Pose, die schon eine Adaptation eines konventionellen Porträttypus ist, wird eine Reproduktion (Foto) erstellt, das durch die wiederholte massenmediale Veröffentlichung zu einer zweiten Realitätsebene wird und in Bezug auf Warhol typologischen Charakter und repräsentative Verweisfunktion einnimmt.
In der zusätzlichen Übernahme dieses Fotos und seiner Verwendung als Bildvorlage wird der Klischierungsvorgang aufgedeckt und verdeutlicht: Übernahme einer konventionellen Struktur heißt bei Warhol nicht Verweismöglichkeit auf das Individuum (wie bei Michals) sondern Verweis auf das kollektive Bild (Klischee), das von einem Individuum gefertigt wird. Er arbeitet nicht mit der Metapher selbst, sondern mit dem Mechanismus der Metapher.
Verallgemeinern läßt sich, daß im zwanzigsten Jahrhundert das Selbstbildnis (unter Ausschluß ‚malerischer‘ Porträts) einen medialen Charakter angenommen hat, d.h. es wird zum Bildtypus, der ‚verfügbar‘ ist, der zur einzig denkbaren Auseinandersetzung werden kann (Salvo, Gilbert and George, Vito Acconci). Repräsentation (nicht als würdevolle Vergegenwärtigung) und Selbstreflexion sind die Wesensmerkmaie des Selbstporträts und werden als solche im Bewußtsein der Funktionsfähigkeit einer Präsentationsform (eines Typus) eingesetzt. Der Mechanismus der Darstellung wird als wesentlich empfunden und analysiert, die Analyse vielfach mit in den erweiterten Mechanismus einbezogen.