vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Titel: Arkadien in der Krise · von Ann-Katrin Günzel · S. 50 - 69
Titel: Arkadien in der Krise ,

Der Blick auf die Welt oder: Der lange Weg durch die Landschaft

Zur Aktualität des Landschaftsbildes in der Kunst
von Ann-Katrin Günzel

Seit Jahren untersuchen Wissenschaftler*innen die verheerenden Effekte des Anthropozäns, Auswirkungen, die aufgrund menschlicher Eingriffe in die Natur zu verzeichnen sind. Die Übernutzung durch intensive Landwirtschaft, Siedlungsausdehnung, Versiegelung von Böden, Vernichtung von Wald flächen mittels Rodungen oder Brände, die Verlegung oder Begradigung von Flussläufen und der Abbau natürlicher Ressourcen für wirtschaftliche Profite und Energiegewinnung – all das verändert das Bild der Landschaft nachhaltig und auf nie dagewesene Weise. Findet sich irgendwo doch noch „unberührte“ Natur, so wird sie direkt vom Tourismus erschlossen. Zudem mehren sich Gütertransporte und Autoverkehr sowie die dafür notwendigen Verkehrswege, die sich wie Schneisen ihren Weg über den Globus bahnen. Die Landschaft hat sich in fast allen Teilen der Welt dadurch nicht nur stetig gewandelt, sondern ist systematisch zerstört worden.

„Die Sprache der Landschaft entwickelt und verändert sich mit der Struktur der Gesellschaft.“

— Lucius Burckhardt1

Mit der Veränderung der Landschaft, verändert sich aber immer auch der Blick auf sie und damit auch das Landschaftsbild in der Kunst. Ein solcher Perspektivwechsel tritt nicht erst seit der Ausrufung des Anthropozäns auf, denn das Landschaftsbild war immer schon auch ein Blick auf die Welt und damit Ausdruck eines – je nach Epoche, Kultur oder Ansicht – wechselnden Weltbildes. Die Beschäftigung mit dem mehr und mehr als fragil und endlich erkannten Motiv „Landschaft“ welches sich der Mensch in seiner Hybris als geologischer Akteur angeeignet hat und eigenmächtig gestaltet, ist jedoch relativ neu und erfordert eine anders geartete, verantwortungsvolle(re) Form der Auseinandersetzung als beispielsweise noch vor 100 Jahren.

Zerstörte Natur, Ressourcenknappheit, Artensterben, fortschreitender Klimawandel und die mit all dem einhergehende Selbstauslöschung des Menschen sowie die langsam aufdämmernde Erkenntnis, dass die Erde kein lebloser Gegenstand zur Bedürfnisbefriedigung des Menschen ist, sondern ein hochkomplexer Organismus, haben in der Kunst dazu geführt, unseren Umgang mit Natur, die ökologische Katastrophe und die Verantwortung, die wir dafür haben, zunehmend zum Thema zu machen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen finden sich verschiedene Referenzen an das Landschaftsbild als kunsthistorisches Genre, die den historischen Blick häufig brechen und in eine zeitgenössische Betrachtung übersetzen: romantisches Pathos weicht einer dystopischen Dramatik und die erhabene, unendliche Weite wird in ihrer erdgebundenen und auch sehr fragilen Endlichkeit entdeckt;

Stürme, Seekatastrophen und Vulkanausbrüche, die im 18. Jhd. zwar ein faszinierender Schrecken, aber auch die geheimnisvolle Kraft unbekannter Mächte begleitete, werden nun zum schrecklichen Zeichen menschlicher Überheblichkeit und rücksichtsloser Gewalt. Wolken, die lange Zeit weiche Sitzkissen für überirdische Gestalten waren und auf denen sich Engelchen wie auf einer Sofalandschaft tummelten, tragen jetzt giftigen Regen mit sich, verdunkeln sich oder fallen direkt vom Himmel.

Geschwungene Hügellandschaften zeigen sich verdorrt, Felder sind durch die Furchen der schweren Fahrzeuge für die industrielle Landwirtschaft statt durch Erntefarben gekennzeichnet und die Berge, die bis zum Einsetzen des Alpinismus im 18. Jhd. Angst und Schaudern ob ihrer schieren Größe und Erhabenheit auslösten, in der sie gefährlich, gar lebensbedrohlich, aber auch unerschütterlich wirkten, zeigen sich jetzt als gefährdete, schmelzende Gletscher, selbst in ihrem Überleben bedroht, Innbegriff für die Klimakatastrophe.

Zahlreiche Künstler*innen der Gegenwart nehmen daher das Abschmelzen der Gletscher zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten, um die Aufmerksamkeit auf diese bedrohliche Auswirkung des Klima wandels hinzuweisen, und verorten sich damit gleichzeitig auch als Akteur*innen im Anthropozän, die neue Landschaftsbilder unter den aktuellen Bedingungen erschaffen. So sieht man Julian Charrière z. B. mit einem Gasbrenner ausgerüstet auf einem Eisberg in Island stehen, den er versucht, aktiv weiter abzuschmelzen. Damit geht er weit über die Beobachtung und anschließende Wiedergabe eines Landschaftsmotivs hinaus – er erschafft durch sein Handeln direkt im Außen ein neues Landschaftsbild und regt gleichzeitig mit seiner erschreckend anschaulichen Aktion dazu an, das, was wir täglich durch unser Handeln in Gang setzen, zu überdenken. [01]

Der Bestandsaufnahme des Seins folgt also heute ein (Aufruf zum) Nachdenken über die zerfallende Gegenwart und die bedrohliche Zukunft. Damit einhergehend ist methodisch eine neue Form des Landschaftsbildes entstanden, die das klassische landscape painting ausweitet in unterschiedliche Medien. Neben malerischen Ansichten werden Objekte, Skulpturen, Installationen, Aktionen, Landkarten, Videos oder virtuelle Landschaften entwickelt.

Das Landschaftsbild als Blick auf die Welt

Eine ästhetische, vom praktischen Nutzen losgelöste Wahrnehmung von Landschaft begann sich in der Antike durch die einsetzende Unterscheidung von Stadt und Land zu entwickeln, nachdem die über genug Reichtum verfügende städtische Bevölkerung, anstatt sich mit der Arbeit auf dem Land abmühen zu müssen ihre Landsitze lediglich zur Erholung aufsuchen konnte.

Schon zur Zeit Vergils, so der Soziologe und Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt (1925 – 2003), haben die Sklav*innen auf Sizilien schwitzend die Scholle beackert und sich die Hände schmutzig gemacht, während die Landschaft literarisch in die Dichtung und bildlich als Fresko auf die Innenwände der Anwesen einzog, um dort die Villenbesitzer*innen zu erfreuen, ohne dass sie aus dem Fenster auf den schwer arbeitenden Teil der Bevölkerung sehen mussten, die das Bild nur gestört hätten.2

Man bevorzugte die unberührte und schön gestaltete Natur in Kunstform; Wälder, Grotten oder Berge in harmonischer Verklärung, um einen friedvollen Anblick zu haben, ein Idyll, das aller Mühe und Sorgen enthoben war, einem Paradiesgarten vergleichbar. Das Erspüren von Ruhe und Frieden inmitten unberührter Natur war in der Folge dann jahrhundertelang ein maßgebliches Kriterium für das Landschaftsbild, das in allen Zeiten mehr als ein bloßes Abbild des uns umgebenden Naturraums war.

Das Landschaftsbild par exellence ist vermutlich die ungestörte Idylle Arkadiens geblieben, die durch die antike Dichtung zum Bild der idealen – im Sinne einer schönen – Landschaft wurde, eine Vision von glücklichen, Flöte spielenden Hirten in der Natur, die als Inbegriff der Sehnsucht einer Utopie gleichkam. Damit konnte eine Stimmung ausgedrückt werden, die sich von der tatsächlich herrschenden Mühsal freizumachen versucht. [02]

Wann genau die Entstehung des nachantiken Landschaftsbildes zu datieren ist, darüber herrscht bis heute kein Einvernehme,3 was wohl damit zusammenhängt, dass seine Ausprägung als eigene Gattung, oft gleichberechtigt neben das Auftreten der Landschaft als Bildhintergrund gestellt wird, so dass sich in der Kunstwissenschaft eine Kontroverse darüber entsponnen hat, ob der Beginn der Landschaftsmalerei eher im 15. Jahrhundert in den Niederlanden oder bereits im Trecento Italiens zu suchen sei.4

Nachdem der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818 – 1897) in seiner Studie „Die Kultur der Renaissance in Italien“ Mitte des 19. Jhds. pauschal formulierte: „Die Italiener sind die frühesten unter den Modernen, welche die Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes wahrgenommen und genossen haben“,5 schlossen sich ihm in der Literatur zahlreiche Wissenschaftler*innen an und sehen bis heute in Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336, welche dieser in seiner gleichnamigen Schrift schilderte,6 die erste emotional aufgeladene Naturbetrachtung. Sie wird als Beginn eines modernen Naturgefühls, ja bisweilen gar als die „Entdeckung der Landschaft“ gewertet.7

Petrarca war demnach der erste, der (nach der Antike) die Landschaft aus ästhetischen Gründen betrachtete, d. h. er stieg weder aus strategischen oder militärischen Motiven auf einen Berg noch um einen zielgerichteten Weg an einen bestimmten Ort zurückzulegen, sondern um den Fernblick zu genießen, den Blick in die Landschaft, den Blick auf die Welt.8[03] Mit dem etwa zeitgleich entstandenen Landschaftsfresko der Auswirkungen der „Guten und Schlechten Regierung“ (1338 / 39) von Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico in Siena [04] gelangte auch die künstlerische Darstellung zu einem Blick von außen auf die Landschaft und man erhielt ein Verständnis von ihr als Bild, womit das Landschaftsbild „zur Welt gebracht“ war.9

Diese Entwicklung ging einher mit der Entdeckung des Raums und der Perspektive, dem Schritt aus dem transzendentalen Goldgrund der Sienesischen Maler in ein Stück Land, das man auf Lorenzettis Fresko als ein beackertes, von Menschenhand bepflanztes und damit kultiviertes Landstück, eben ein Landschaftsbild erkennt. Während die Auswirkungen der schlechten Regierung zu brennenden Häusern inmitten verödeter Hügel führt, in denen die Menschen nur herumlaufen, um andere zu überfallen, reiten auf dem gut regierten Landstück edle Gestalten zur Falken-Jagd und treffen dort auf Bauern, die ihre Ernte zum Wohle der gesamten Bevölkerung in die Stadt bringen.

Damit setzt eine anthropozentrische Sicht auf die Geschehnisse ein, welche die Annahme eines durch den Menschen lenkbaren Verlaufs der Ereignisse und die Überzeugung impliziert, es besser zu können als die Natur, die in ihrer unkontrolliert wuchernden Wildheit die stutzende Hand des Menschen als Korrektiv benötige.

„Macht euch die Erde untertan, herrschet über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, über das Vieh und alles Getier…“

— Bibel, Genesis 1,28

Diesen bereits aus der Schöpfungsgeschichte gelesenen Auftrag war man nur zu gewillt, zu erfüllen. Der von nun an durch den humanistischen Blick geprägte Mensch begann mit der wissenschaftlichen Erforschung und der selbstbewussten Gestaltung der eigenen Welt. An diesem Punkt löste sich die Vorstellung einer idealen Welt aus dem Jenseits heraus und wurde zur durchaus irdischen Jetztzeit-Vision. Der Mensch war jetzt in der Lage, die Welt zu begreifen und zu erklären, also konnte er sie auch weiterentwickeln, verbessern und darstellen. Es ist sein eigener Lebensraum, den er von nun an auch in die Kunst einbringt.

Das Bewusstsein über diese Gestaltungsmöglichkeiten entwickelte sich sowohl innerhalb der Kunst (im Bild) als auch außerhalb, in der Welt (der Landschaft) gleichermaßen. Mit dem in der Renaissance einsetzenden humanistischen Weltbild konstruierte sich der Mensch seine Bildräume ebenso wie die architektonischen, urbanen und intellektuellen Räume, die sehr bald auch ausgeweitet wurden auf weitere Landschaftsräume, welche durch Entdeckungen und Eroberungen repressiv erschlossen und besetzt wurden. Es war eine Blütezeit der Städte, in der die reichen Schichten der Gesellschaft sich entweder erneut gerne aufs Land zurückzogen, um dort zur Ruhe zu kommen oder aber in der Stadt Kontemplation in Landschaftsbildern fanden.

„Ich halte die Landschaft für ein Konstrukt der Wahrnehmung, das durch Vergleiche […] entsteht.“

— Lucius Burckhardt11

Der italienische Humanist, Kunst- und Architekturtheoretiker Leon Battista Alberti (1404 – 72) behauptete 1452, dass der Anblick von Natur und von Naturbildern entspannend auf die Seele wirke, Harmonie erschaffe und den Einklang mit der kosmischen Ordnung bekunde und der ihm 100 Jahre später nachfolgende italienische Künstler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511 – 74) berichtete, dass Naturbilder im 16. Jhd. eine solche Freude bereiteten, dass sie zur Massenware für die bürgerlichen Schichten in den Städten geworden sind.10

Die Natur als Ressource und Reservoir für den Menschen und die Landschaft als bildgewordene Vorstellung seines Naturverständnisses sind demnach seit Jahrhunderten in derselben Weise zu beobachten – eine Grundlage für den menschlichen Lustgewinn.

Die Landschaft als Konstruktion

Landschaft ist also während all dieser Entwicklungen zu keiner Zeit einfach gleichzusetzen mit Natur, sondern immer etwas von Menschen Gestaltetes, eine konstruierte Natur, die kultiviert, d. h. durch menschliche Eingriffe umgestaltet wird. Das künstlerische Landschaftsbild ist damit eine doppelte Konstruktion. Es ist die Kreation eines Zustands, der nur über Veränderung des Vorhandenen (d.h. des Natürlichen) geschieht und von dem im Anschluss ein individueller Eindruck wiedergegeben wird.

Die im 17. Jahrhundert in Frankreich mit Nicolas Poussin (1594 – 1665) und Claude Lorrain (eigtl. Claude Gelée, 1600 – 1682) entstehende klassizistische Landschaftsmalerei, als einer der Höhepunkte dieses Genres, ist eine Konstruktion von Wahrscheinlichkeit in der Darstellung. Es entstehen landschaftliche Ideale, die nicht den Anspruch hatten, der Realität zu entsprechen. Während Poussin eine auch als „heroisch“ bezeichnete Landschaftsmalerei betrieb, in der mit bis an Pathetik grenzender barocker Dramatik mythologische Gestalten aus der Antike auftauchen, zeigt Lorrain harmonische Landschaftskompositionen, zusammengesetzt nach dem Prinzip der Erfindung, in denen das Licht als Thema und Form der Landschaft auftritt [05]. Er wird damit zum bedeutendsten Landschaftsmaler seiner Zeit, Goethe schrieb gar „in Claude Lorrain erklärt sich die Natur für ewig“.12

Mit seinen lichtdurchfluteten Bildern entsteht eine klassische idealistische Landschaftswelt, die sowohl einen enormen Einfluss auf die Landschaftsmalerei der nächsten Jahrhunderte als auch auf die Entstehung der englischen Landschaftsparks hatte – der englische Garten in München beispielsweise orientiert sich in seiner Gestaltung, die nicht mehr streng geometrisch ist, an der Landschaftsmalerei Lorrains und steht damit exemplarisch für den Versuch, die Natur selbst in ein Bild zu verwandeln (während Lorrain umgekehrt versuchte, das Bild in eine Landschaft zu verwandeln). Die englischen Aristokrat*innen des 18. Und 19. Jahrhunderts unternahmen sogar Landschaftsausflüge durch Italien mit kleinen getönten Spiegeln, sog. Claude-Gläsern, die, indem man sie vors Gesicht hielt, die Landschaft hinter dem / der Betrachter*in in der Rahmung des Spielgels so aussehen ließ wie auf Bildern von Claude Lorrain.13

Diese gesteigerte Reduktion der Natur auf ein Bild entsteht als Konsequenz aus der wachsenden Distanz zur Natur im Zuge der Industrialisierung und der industriellen Umwandlung der Natur in Landschaft, die bis heute anhält. Die Claude-Gläser der Gegenwart sind die digitalen Oberflächen. Als ausgeschaltete Black Screens zeigen auch sie Spiegelungen ihrer Umwelt – soz. den Blick auf das reale Leben. Der US-amerikanische Künstler Tom Burr (*1963) hat mit seinen dunkel glänzenden Oberflächen der Skulpturen „No Access. Cluster one. B D E I M“ eine Reminiszenz an die Claude Gläser geschaffen. Er vergrößert die Hochglanzflächen auf das Ausmaß von Plakatwänden und zeigt in ihnen durch die Spiegelung die sie umgebende Landschaft ihres Standortes, den Kölner Skulpturenpark. [06] Als Betrachter*in kann man mit einem Blick auf die Screens die Landschaft hinter sich und damit das Bild einer Landschaft in Gestalt des Parks im gespiegelten Bild erkennen, gleichzeitig steht man sichtbar mittendrin in Natur und Landschaftsbild.

Zur „Kompensation des Naturverlustes“, schrieb der Schriftsteller und Kunstkritiker Denis Diderot bereits 1767, wurden Landschaftsbilder im 18. Jhd. von den Städtern an die Wände der Salons gehängt.14

Vor allem in den Gärten und Parks sah er den Verlust der Natur manifestiert – hier sollte für Augenblicke das verlorene Glück gefunden werden, eine selbstbetrügerische Kompensation, die er im Übrigen auch im Landschaftsbild sah.15 Dadurch, so der Schriftsteller, seien aber immerhin „fiktive Reisen“ möglich, Spaziergänge, welche Einsichten in das Glück der Natur vermitteln könnten.

Schon damals sind die möglichst geradlinigen Pfade als eine Form bequemer, störungsfreier Spazier- und Reisewege Ziel und Inhalt dieser „Glückserfahrung“ gewesen. Der Anspruch des Menschen als ordnender, strukturierender Gestalter der Natur zeigt sich in der Geschichte der Gartenarchitektur, die als begehbare Landschaftsbilder nach ästhetischen Kriterien entworfen wurden, ganz deutlich, geht aber weit darüber hinaus.

Georges Louis Le Clerc, Comte de Buffon (1707 – 88), der zwischen 1749 und 1804 die „Histoire Naturelle“ als größte Naturgeschichte des 18. Jhds. begann, war gar der Auffassung, dass die Natur scheußlich, gefährlich und stinkend sei, sie müsse vom Menschen verbessert werden, kultiviert, indem Sümpfe trockengelegt, Disteln und Dornen ausgerottet und verjährte Wälder verbrannt werden, „zwingt die lebenden Geschöpfe zu Ordnung, Unterwürfigkeit und Eintracht“ schrieb er 1764 im 12. Band (De La Nature), denn „der Mensch, der sie [die Natur] sinnend betrachtet, der sie studiert, gelangt allmählich zum Zentrum der Allmächtigkeit.“16

So manch ein aktueller Werbeeintrag auf den Internetseiten von Unternehmen für sog. „Landschaftspflege“ könnten Zitate des Grafen von Buffon darstellen [„Rechtzeitiges Eingreifen macht Grundstücke deutlich pflegeleichter“], die Resultate in den Vorgärten und Garageneinfahrten bürgerlicher Wohnsiedlungen, wie sie der Düsseldorfer Künstler Oliver Gather in seiner Arbeit „Buchsbaum analyse“ [07], aufgreift, hätten ihn sicher zufriedengestellt.

Die erfundenen zur Komposition zusammengefügten Szenen und Prospekte in den Landschaftsbildern Lorrains, die im 17. und 18. Jhd. als ein zu erreichendes Ziel in der Kunst galten, veranlassten den damaligen Direktor der Londoner Kunstakademie Joshua Reynolds (1723 – 92) dazu, sie als vollkommene Naturschönheit, als das, was die Natur sozusagen nicht geschafft hat, zu preisen und sie den unvollkommenen, die Natur, den weiten Himmel über tiefliegendem Horizont bloß nachahmenden Holländischen Landschaftsbildern als überlegen gegenüberzustellen.17[08]

Derartige Einschätzungen zeigen, wie stark das Landschaftsbild subjektiv geprägt und von einem jeweils zeitgenössischen Blick abhängig ist. Nicht zuletzt war es immer auch den jeweils regionalen und geografischen Gegebenheiten wie Licht, Vegetation, Geologie etc. unterworfen, ob der „ästhetische Anblick“ der Schönheit der Natur einen nordischen, tiefen Horizont unter einem großflächigen Himmel oder südliches Licht erfordert. Während viele Landschaftsmaler Stimmungen und Eigenheiten ihrer Heimat eingefangen haben, sind andere genau dafür auf Reisen gegangen haben ein bestimmtes Licht oder (ideale) landschaftliche Aspekte gesucht.

Erd-Kunde: Die Welt als komplexes Landschafts-(Ge)Bild(e)

Wurde die Landschaft mit Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux 1336 zu „Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes“,18 löste sich also aus dem Funktionszusammenhang und wandelte sich durch die Betrachtung zur Entdeckung, woraufhin sich der Mensch als geistiger Bedeutungsgeber in den Mittelpunkt stellte und die Landschaft als ästhetisches Konstrukt aus der Natur herausbildete, so bedeutete das auch ein Heraustreten aus dem rein irdischen Dasein. Das zog im nächsten Schritt ein Begreifen des „Kosmos“ in natur-wissenschaftlichen Untersuchungen nach sich.

Im frühen 19. Jhd. wurde die Natur von Alexander von Humboldt (1769 – 1859), der 1802 den Chimborazo in Ecuador und damit den höchsten damals bekannten Punkt der Erde bestieg, genau unter die Lupe genommen und in der Kunst daraufhin im Laufe der Zeit auch von Künstler*innen immer mehr wissenschaftlich analysiert. Seit dem 18. Jhd. begann die Geografie damit, die Gestalten der Landschaften zu gliedern und nach Gattungen, Arten, Unterarten und Singularitäten einzuteilen.19

Alexander von Humboldt war diesbezüglich wegweisend, er hat auf seinen Forschungsreisen mit den unterschiedlichsten Messinstrumenten wahrhaft Erd-Kunde betrieben, jeder Pflanze und jedem Stein der Orte, an denen er war, seine volle Aufmerksamkeit geschenkt und seine Erkenntnisse anschließend in „Kosmos“, einem mehrbändigen Werk, das er 1845 – 62 verfasste, gesammelt und auf die Erde als Ganzes bezogen. Diese empirische Kunde der Erde ging einher mit der romantischen Vorstellung der Welt als komplexes Gebilde, in dem die erhabene Größe des Kosmos, das Geheimnisvolle und Unendliche sich mit dem subjektiven Empfinden und Erleben vereinten. Caspar David Friedrich (1774 – 1840), kann ohne Zweifel als der romantische Maler bezeichnet werden, der nicht nur damals zu den wegweisendsten und bekanntesten Landschaftsmalern gehörte, sondern auch heute noch derjenige ist, dessen Bilder eine Vielzahl an Künstler*innen der Gegenwart beeinflusst.

Kosmische Zusammenhänge drücken sich bei Friedrich in Stimmungen aus. Der „Mönch am Meer“ (1808 – 10) und das „Eismeer“ (1823 / 24), zwei seiner bekanntesten Werke, werden bis zum heutigen Tag in zahlreichen Arbeiten zeitgenössischer Kunst aufgegriffen. Im Gegensatz zu Lorrains lichtdurchfluteten Landschaften zeigt Friedrich mit dem „Mönch am Meer“ [09] einen blassen, trostlosen Küstenstreifen, auf dem einsam und verloren die winzige Figur des Mönches in Richtung des dunklen, fast schwarzen Meeres blickt, an dessen Horizont nebelhaft Wolken aufsteigen. Aufgrund der erstmals ohne Kompositionselemente auftretenden radikalen Grenzenlosigkeit, die das Individuum und seine Gefühle in den Mittelpunkt stellt und sich direkt mit der Landschaft identifizieren lässt, gilt das Bild auch als das „Altarbild des modernen Menschen“20 bzw. als „Inbegriff des modernen Bildes“.21

Heute ist es vor allem das „Eismeer“, lange Zeit auch (fälschlicherweise) mit dem Untertitel „Die gescheiterte Hoffnung“ versehen, das angesichts des Klimawandels und der Erderwärmung, die sich bildlich in schmelzenden Gletschern und Eisbergen ausdrücken, oft in zeitgenössischen Werken aufgegriffen wird – von Per Kirkebys „Fram“ (1968) [s. Monografie, S. 150] über Monica Bonvicinis seit 2010 im Hafenbecken von Oslo treibende 17 × 16 × 12 m große Stahl-Glas-Konstruktion „She Lies“ [10] bis zu Matthias Kesslers langsam schmelzender Miniaturversion eines Eismeers im Kühlschrankfach (2012), thematisieren sie die ökologische Katastrophe, nähern sich dem Geist der Romantik über die sichtbare Fragilität der Welt und hinterfragen gleichzeitig kritisch das romantische Naturbild.

Die wissenschaftlichen Untersuchungen haben im 19. Jhd. künstlerische Studien der Natur nach sich gezogen, so dass Wolkenformationen in ihrer ständigen Veränderlichkeit, ebenso wie das bewegte Meer, gewaltige Wogen [11], Steilküsten und Strandufer Themen von Landschaftsbildern wurden, denen die Maler sich widmeten. Während es sich im ausgehenden 17. und im 18. Jhd. eher um wagemutige Erkundungen in Segelbooten über das sturmgepeitschte Meer handelte, die in den zahlreichen Seestücken der damals vorherrschenden Handelsmacht der Niederlande Eingang fanden, wurde Landschaft im 19. Jhd. durch zunehmende Reise- und Transportmöglichkeiten immer weiter erschlossen, Tourismus setzte ein und machte das Exotische im Erfahrungshorizont viel selbstverständlicher.

Durch die Fotografie wurden Landschaftsmotive für eine breite Masse zu wiedererkennbaren Motiven und als solche zielgerichtet aufgesucht, um ein bereits vorhandenes Bild bestätigt zu bekommen. Auf diese Weise wird die Landschaft immer weiter als ein Konstrukt sichtbar. 1783 erfolgte die erste Luftreise im Aerostat der Gebrüder Montgolfier, ein Heißluftballon, welcher den Blick von oben, der ehemals eine reine Herrscherperspektive war, erstmals tatsächlich ermöglichte, so dass nun auch eine stärkere Kartografierung von Landschaft einsetzte, die versuchte, objektiv messbare Ergebnisse wiederzugeben. Ohne die heute üblichen Satellitenaufnahmen und für jedermann schnell abrufbaren Luftaufnahmen von Google Earth, waren im 15.Jhd. vor allem für die zunehmenden Eroberungen, Expeditionen und Handelsrouten gute Karten nötig. Nicht unwichtig war es den Handelsreisenden und Forschern außerdem, die „weißen Flecken“ von den Landkarten zu tilgen.

Einige Künstler habe in der Renaissance bereits Karten angefertigt, die wahre Kunstwerke waren und ganze Landschaftspanoramen malerisch wiedergaben. Auf diese Weise entstanden Landschaftsbilder, sog. Chorografische Karten, die Weltansichten darstellten und auch Sitten und Gebräuche einer Region beinhalteten. Die damals sichtbare Subjektivität in der Gestaltung von Karten hat heute einer scheinbar wissenschaftlichen Objektivität Platz gemacht, tatsächlich aber bleiben Karten natürlich immer, ebenso wie die Grenzziehungen, von denen sie zumeist handeln, subjektiv und willkürlich.

Karten sind abhängig vom Interesse des Kartographen, daher können sie immer auch ein ganz anderes Bild von der Landschaft abgeben, als das, was wir auf herkömmlichen Karten erwarten. Künstler*innen der Gegenwart zeigen dementsprechend ganz persönliche Karten als Ansichten ihres Weltverständnisses. So hat die französisch-marokkanische Bildhauerin Latifa Echakhch die Weltkarte in ihrem Anspruch auf Gültigkeit wie Müll zerknüllt und als Objekt auf den Boden geworfen [12], der österreichische Bildhauer Stephan Huber zeigt hingegen in der „Passage durch den Überbau“ [13], seinen individuellen Lebensweg in einer eigens dafür angelegten Weltkarte.22

Wege durch das Landschaftsbild

Wege und Straßen sind seit jeher mehr oder weniger starke Eingriffe in die natürliche Landschaft und damit eine Beeinflussung des Landschaftsbildes. Je höherentwickelt dabei die Techniken sind, mit denen die Eingriffe stattfinden, umso gradliniger wird auch die Weggestaltung, die sich „Hindernisse“ aus dem Weg räumt, so dass der einstige Fußpfad erst zum Weg, dann zur Straße wird, bis schließlich Autobahnen sich ihre Spur durch die Landschaft fräsen.

Wie stark der Straßenbau das Landschaftsbild verändert, zeigt sich im Laufe der Jahrhunderte bereits in den frühen Straßenzügen des Perserreiches, der Inkaund Römerstraßen, die angelegt wurden, um staatlichen, militärischen und imperialistischen Interessen zu dienen, das ganze steigert sich vielleicht weniger qualitativ als vielmehr quantitativ bis heute enorm. Aber auch Tunnel durch Gebirge, Schienenwege und Brücken, welche alles, was einem direkten Erreichen des Ziels im Wege steht, technisch befahrbar machen, werden zu beeindruckenden Bauwerken erklärt, die im Zuge der Moderneeuphorie bejubelt werden und selbst als Motiv und gestalterisches Element Eingang in das Landschaftsbild erhalten.

„Großartige Brückenbauten sind im Gebirge mit seinen wilden Schluchten, wie im Flachland mit seinen großen Strömen häufig und immer besonders eindrucksvolle Gebilde im Landschaftsbild“ schrieb Hasenkamp 192522 und natürlich erlauben sie stets ein rasches „Fortkommen“ und das erfolgreiche Erreichen nicht zuletzt von pittoresken Urlaubszielen und damit Landschaftsbildern. Um angenehm klimatisiert, bequem und dazu noch schnell das ersehnte Ziel zu erreichen, wird der Weg selbst nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich verkürzt und die Landschaft motorisiert angesteuert. Allerdings zerfließt das Landschaftsbild dabei zu einem vorbeieilenden Streifen, wie der Kölner Künstler Matthias Surges in seinen Wandarbeiten aus mit RAL-Farben lackierten Aluminiumblechen zeigt, auf denen aufgeklebte Ralleystreifen wie Horizontlinien erscheinen [14].

Die Landschaft verschmilzt bei ihm zu dem als Landschaftsmotiv betitelten Autolack der RAL Farbe (Fernblau) und dem Geschwindigkeit symbolisierenden Streifen, der zugleich das Verschwinden der Landschaft impliziert, eine sich der Betrachtung entziehende Bewegungslinie, die nur noch eine Überbrückung von A nach B darstellt. Das als Zielort anvisierte Landschaftsbild als Postkartenmotiv – heute abgelöst vom Social-media-Bild – ist als malerische Sehnsuchtsmotivation allerdings nach wie vor ungebrochen. Einmal im Bild festgehalten und vervielfältigt, werden die Kreidefelsen auf Rügen, die Hügel der Toskana oder die Klippen von Etretat zum Anlaufpunkt unzähliger Touristen, denn sie versprechen paradoxerweise ein ungestörtes, ursprüngliches Naturerlebnis, suggerieren, am „richtigen“ Ort zu sein. „Postkarten lügen nicht“ (1994 – 2007) lautet das Statement einer Serie von Lutz Fritsch, die aus Ansichtskarten pittoresker Urlaubsziele besteht [15 a+b], welche er mit Einzeichnungen von roten, vertikalen Linien versieht, die genauso aussehen wie die Stelen, die er tatsächlich als Markierungen in die Landschaft stellt.

Oft benutzt er dazu beschriebene und abgestempelte Flohmarktfunde, welche durch diesen zurückgelegten Weg authentifiziert erscheinen, tatsächlich aber eben immer „nur“ Bilder bleiben, die Ewigkeit von etwas versprechen, das es nur in dem einen Moment gegeben – oder wie in diesem Fall auch nicht gegeben – hat. So ist das Bild der Landschaft, das wir am Ende unserer Reise vorfinden werden, nicht zwangsläufig immer das, was wir uns erhofft haben, welches die Postkarte (der Katalog, facebook oder Instagram) versprochen hatte. Zumeist schaffen wir es aber, trotz allem das zu sehen, was wir sehen wollen, denn die Landschaft ist per se als Konstrukt nicht in der Erscheinung der Umwelt, sondern nur in den Köpfen der Betrachter*innen zu suchen,23 d.h. dass das, was wir finden wollen auch in unserer Wahrnehmung hängen bleibt, wir werden Bestätigung finden, denn „wir gleichen die Landschaft der Ferne, die wir allenfalls tatsächlich gesehen haben, an die typische Landschaft an, die es nur im Heimatkundebuch, im Reiseprospekt und auf gemalten Bildern zu sehen gibt.“24

Sogar trotz der mittlerweile verheerenden Umweltkatastrophen und den vielerorts kaum noch auszublendenden Auswirkungen des Anthropozäns, gelingt es uns erstaunlich häufig, die Landschaft noch als „typisch“ oder intakt wahrzunehmen. In Wirklichkeit aber stehen wir schon längst nicht mehr in der intakten Natur, sondern in einer menschengemachten Techno-Zone. Mit 20 Billionen Tonnen technologischer Infrastruktur – Straßen, Gebäude, Fabriken, Kraftwerke, Bergwerke, Flugzeuge, Schiffe, Maschinen, Werkzeuge, Smartphones, Computer und dergleichen mehr – die die Zivilisation hervorgebracht hat und die mittlerweile buchstäblich auf dem Erdkörper lastet (grob gerechnet mit 50 kg pro Quadratmeter), ist eine eigene Technosphäre entstanden, die sich buchstäblich als geologische Schicht auf dem Erdkörper sedimentiert.25 Unser heutiges Landschaftsbild ist also auch in Griechenland, der Provence oder auf Sizilien von einem idyllischen Arkadien weit entfernt.

Das zeitgenössische Landschaftsbild

Das zeitgenössische Landschaftsbild setzt sich in der Kunst genau mit diesem Wandel auseinander, mit der zerstörten Erde als zerbrechlicher Wirklichkeit. Es bildet nicht ab, versucht aber zu zeigen, erschafft Stimmungen, analysiert, reflektiert und kritisiert. War das Landschaftsbild auch oft schon Gegenstand der erweiterten Naturbetrachtung und Ausdruck des Weltempfindens, so wird es mit dem Einsetzen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Teil von uns selbst, zu einer Auseinandersetzung mit unseren eigenen Handlungen und Grenzen. Es beschreibt nicht mehr das andere, nicht mehr nur unseren Lebensraum, sondern uns selbst. Als Gestalter*innen unserer Umgebung sind wir Teil von ihr und merken immer mehr, wie stark wir von ihr abhängig sind. Daher ist es eins der wichtigsten Kennzeichen der Gegenwartskunst, damit zu beginnen, die Natur / Kultur-Dualität zu verwerfen und stattdessen von Symbiosen auszugehen, in denen die anthropozentrische Position aufgehoben und durch ein neues Miteinander ersetzt wird.

Landschaft ist „immer ein Unterwegs […] und damit die Momentaufnahme der Gegenwart.“

— Lucius Burckhardt26

Das, was schon seit den 1970er Jahren in James Lovelocks Gaia-Hypothese formuliert und durch die Studien der „symbiotischen Kooperationen“ von Lynn Margulis unterstützt und erweitert wurde27, nämlich die Theorie, dass die Erde einen einheitlichen Organismus darstellt, was wiederum eine Rückkehr zum ganzheitlichen Denken bedeutet, in dem alles Natur ist und nur ein hierarchiefreies Zusammenleben eine Zukunft für alles Lebendige ermöglichen kann, führt dann auch in der Kunst zu Darstellungen, die entweder die ausbeuterische Kultivierung der Natur, die sich einer solchen Zukunft entgegenstellt, zum Thema machen oder mögliche Gegenentwürfe in den Fokus stellen.

Mit den Untersuchungen des „Club of Rome“ und der Publikation der „Grenzen des Wachstums“ 1972, welche die aus den menschlichen Eingriffen einhergehende Zerstörung der Landschaft thematisierte, wird eben diese als Sinnbild für den Kapitalismus und den übersteigerten Selbstbezug der Menschen, der uns geradewegs ins Anthropozän und den Zustand einer bedrohten Zukunft geführt hat, dargestellt. Durch die in den 1970er Jahren aufkommenden Diskussionen um die Umweltzerstörung entwickelten sich neue Blickrichtungen auf die Landschaftsdarstellung, Aktionen, wie Beuys’ „7.000 Eichen“ [16] oder verschiedene Land Art-Projekte nehmen Landschaft als besonderen Raum wahr und nutzen ihn programmatisch für eine neue Form der Kunst.

Das Erleben von Landschaft, das in fast allen Ausprägungen der Land Art im Vordergrund stand und steht, hat die unterschiedlichsten Landschaftsbilder hervorgebracht, gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie Landschaft nicht als Hintergrund oder Metapher benutzen, sondern sie selbst das Werk wird. Der Kunsthistoriker und Land-Art-Experte Philip Ursprung beschreibt in seinem Essay für diesen Band das ambivalente Erbe der Land Art im Anthropozän, das mit der Aufhebung der Natur-Kultur-Dualität zugunsten angestrebter Symbiosen zu verzeichnen ist und untersucht die sich an dieses Erbe anschließenden Werke der zeitgenössischen Künstlerin Lara Almarcegui, die die Erde als ein gleichberechtigtes Gegenüber betrachtet.

Auf den Tag genau 650 Jahre nach Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux wandelten sich die Landschaft und unser Blick auf sie noch einmal nachhaltig und in dramatischer Weise. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl verstrahlte am 26.4.1986 weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine, vernichtete Leben und ließ ein dystopisches Szenarium zurück, das den Blick auf die Welt in einer epochalen Zäsur für immer veränderte. Spätestens diese Katastrophe stellte die angenommene allmächtige Kontrollfähigkeit des Menschen als Hybris bloß und zeigte, wie schnell und umfassend der Mensch sich selbst und die Umwelt vernichten kann. Eine wirklich weitreichende Sensibilisierung für die Auswirkungen der menschlichen Selbstüberschätzung(en) setzte dann mit der Ausrufung des Anthropozäns durch Eugen Stoermer und Paul Crutzen ein, der junge Klimaaktivist*innen um Greta Thunberg weltweit auf die Straße folgten, um seitdem nicht mehr nur für den Erhalt eines Landschaftsbildes, sondern für überhaupt eine Zukunft mit Landschaft zu demonstrieren.

Auch in der Kunst tritt die Fragilität der Erde, auf der wir leben, die kontinuierliche und bedrohliche Zerstörung unseres Lebensraums in zahlreichen Werken und Ausstellungen zunehmend in den Vordergrund und bekundet zweifellos die Sorge um unsere Zukunft. Die dänische Kunstwissenschaftlerin und Autorin Marianne Krogh berichtet nachfolgend von der Wasserlandschaft, die sie anlässlich der Architekturbiennale 2021 in Venedig erschaffen hat, um die Verbundenheit aller lebendigen Prozesse aufzuzeigen und die Frage zu stellen, wie wir unsere Beziehung zur Umwelt nachhaltig gestalten können. Wasserlandschaften, Ozeane und Korallensterben, werden weltweit in verschiedenen Ausstellungen aufgegriffen.

Auch die ERES Stiftung in München beschäftigt sich seit Jahren mit umweltbezogenen Themen und zeigte auf der diesjährigen Biennale in Venedig mit den Arbeiten von Tue Greenfort in der Ausstellung „Medusa Alga Laguna“ Kunstwerke, die die Veränderung der Wasserlandschaft der Lagune darstellen [17]. Verschiedene Ausstellungen wie „Critical Zones“ (ZKM Karlsruhe) oder „Territories of waste“ (Museum Tinguely Basel), thematisieren nicht mehr Landschaft als Einzelgebiete, sondern als komplexen Lebensraum, der durch Umweltzerstörung, die auf unseren Lebensstil zurückzuführen ist, bedroht ist. Auch auf der diesjährigen documenta fifteen sind die ökologischen und sozialen Zerstörungen als Auswirkungen des konsumorientierten Lebensstils des globalen Nordens, das (eigentliche) Hauptthema. Die vor der Orangerie in der Karlsaue gestapelten Müllberge, von „The Nest Collective“ aus Nairobi als „Return to Sender“ [18] hierhin zurückgeschickt, versuchen das Landschaftsbild des ab 1680 angelegten Parks wenigstens für 100 Tage zu stören.

Andere künstlerische Arbeiten erschaffen hingegen alternative Szenarien, wie z. B. die derzeit auf der Biennale in Venedig von Delcy Morelos (*1967) gezeigte Installation „Earthly Paradise“ [19] bestehend aus Erdschichten, die u.a. mit Gewürzen, Tabak und Holzkohle vermischt sind und so ein begehbares Landschaftsbild entstehen lassen. Die Künstlerin hat in der den Betrachter umschließenden Erdinstallation eine haptische und sinnliche Form gefunden, die durch den Geruch und die Tatsache, dass wir nicht mehr vor einem Bild stehen, sondern uns inmitten der Erdschichten bewegen, bereits andeutet, was früher oder später der Fall sein wird: wir sind Teil der Erde und werden es als humaner Humus wieder werden. Auch Precious Okoyomon hat mit ihrer Installation „To See the Earth before the End of the World“ [20] eine Landschaft erschaffen, in der sie im wahrsten Sinne raumgreifend Erde, Pflanzen und Schmetterlinge zu einer Komposition zusammengestellt hat und die invasive Rankenart Kudzu, ein bereits vielerorts bekämpftes Unkraut, als antikolonialen Protest wuchern lässt. Zudem hat sie Erde aufgeschüttet und große skulpturale Gebilde aus Wolle, Erde und Blut darin Platz nehmen lassen, die wie eindrucksvolle mythologische Mutterfiguren wirken und gleichzeitig den Raum für die in der Natur einzigartige Transformation der Schmetterlinge bereitstellen. Etwas Neues kann also entstehen.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft ist von einer unerschöpflichen Vielfalt und kann daher hier nur in exemplarischen Auszügen und in rein subjektiver Schwerpunktsetzung aufgezeigt werden. Die Auswahl der Positionen erfolgte für diesen Band in dem Versuch, ein möglichst vielseitiges Spektrum der künstlerischen Annäherungen an ein zeitgenössisches Landschaftsbild unter den Bedingungen des Anthropozäns darzustellen und ist im Folgenden in der Bildstrecke, den Interviews und Gesprächen sowie in den Beiträgen der Gastautor*innen aufgefächert. So zeigt das Portrait des norwegischen Künstlers Per Kirkeby eine noch am ehesten dem klassischen Landschaftsbild verwandte Position und den künstlerischen Aufbau von Landschaften im Bild, die der Künstler, der sich Jahrzehntelang mit Landschaften beschäftigt hat, aus einer geologischen Perspektive erschaffen hat.

Das Projekt Feral Atlas um die Anthropologin Anna Tsing, das nachfolgend vorgestellt wird, zeichnet hingegen als Landschaftsbild eine Karte des Anthropozäns, zeigt infrastrukturelle Auswirkungen und formuliert neue Wege der Beobachtung und transdisziplinären Zusammenarbeit als Antwort auf die Klimakatastrophe. Die Kunsthistorikerin und Fotoexpertin Claudia Schubert beschreibt in ihrem Beitrag die Veränderung der Landschaft im Bild der dokumentarischen Fotografie und ihrer Entwicklung über die Jahrzehnte.

Die brasilianische Künstlerin Maria Thereza Alves untersucht landschaftsverändernde Prozesse aufgrund von (erzwungenen) Migrationsbewegungen. Sie konzentriert sich seit den 1990er Jahren auf Ballastflora, die aus der gelöschten Schiffsladung von anderen Teilen der Erde in Hafenstädte verschleppt und dort dann heimisch werden, darüber hinaus beschäftigt sie sich aber mit der Veränderung der Landschaftsstrukturen ihrer Heimat Brasilien, die vor allem durch Kolonisierungsprozesse und Ausbeutung geschehen sind und schilderte diese ausführlich in unserem per Mail geführten Austausch.

Der dänische Multimedia Künstler Jakob Kudsk Steensen wiederum kreiert ganz neue, faszinierende immersive Landschaften im virtuellen Raum und berichtete in unserem Gespräch sowohl von seiner künstlerischen Herangehensweise als auch über die Entstehungsprozesse seiner Arbeiten, während ich mich mit dem Berliner Künstler Julius von Bismarck über seine Faszination angesichts von Waldbränden und die von ihm empfundene Notwendigkeit auf die Brutalität im Umgang mit der Natur im Landschaftsbild hinzuweisen, unterhalten habe. Der österreichische Kurator und Kunsthistoriker Thomas D. Trummer hat in seinem Essay für diesen Band die Bedeutung des Landschaftsbildes unter dem Vorzeichen der „Schubumkehr des Blicks“ untersucht, in der sich das Anthropozän letztendlich gegen den Menschen selbst wendet.

Die Landschaft, so wird in den verschiedenen Beiträgen deutlich, befindet sich in einer Krise und unsere zunehmende Beschäftigung mit ihr wird durch unsere Wahrnehmung der wachsenden Katastrophe und nicht selten auch durch Angst oder zumindest Sorge gekennzeichnet. Begriffe, die wir nach wie vor auf die Landschaft münzen und die im künstlerischen Landschaftsbild sichtbar werden, wie Zerstörung, Raubbau, Auslöschung, weisen auf ein Absterben, das Ende, wenn nicht die Apokalypse hin.

Auch wenn das nicht gerade beruhigend ist, so handelt es sich hierbei aber um Beschreibungen, deren Auswirkungen vor allem uns selbst betreffen, die Landschaft wird uns so oder so in einer anderen Form überleben. Denn: sie ist immer die Momentaufnahme der Gegenwart, oder wie Bahr es treffend formuliert: „Es scheint uns so, als würden auf Erden immer wieder auch Länder, die man als Landschaften ansieht, zerstört durch Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Vereisungen oder Verwüstungen oder global durch Kriege und Klimaveränderungen.

Doch Landschaften verschwinden dadurch nicht überhaupt, mag sich für die Menschen ihr vormals paradiesisches Aussehen auch in „höllische Ödnis“ abgewandelt haben: sie ändern nur ihre Erscheinungsweise, mögen „wir“ dabei auch oft den vorübergehenden Verlust der Mannigfaltigkeit ihres Reichtums bedauern.28

ANMERKUNGEN
1 Lucius Burckhardt, Landschaftsentwicklung und Gesellschaftsstruktur, in: Ritter, M. und Schmitz, M. (Hg.): Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Berlin 2006, 4. Aufl. 2015, S. 19.
2 Lucius Burckhardt: Bergsteigen auf Sylt (1989), in: Ritter, M. und Schmitz, M. (Hg.): wie Anm. 1, S. 308 ff.
3 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass es in dem vorliegenden Essay nicht generell um die Entstehung des Landschaftsbildes in der Kunst geht, sondern um einen punktuellen Einblick in die Historie desselben, um seine Bedeutung für den Blick auf die Welt zu erkennen. Zur Genealogie gibt es eine Vielzahl an Literatur, hier sei stellvertretend die Studie von Nils Büttner: Die Erfindung der Landschaft, Göttingen 2000 genannt. In Büttners Dissertation befindet sich auch ein umfangreiches Literaturverzeichnis, das weitere Studien zu diesem Thema ermöglicht.
4 Vgl. dazu Nils Büttner (2000), S. 9 ff. Zweifellos ist das Landschaftsbild in der asiatischen Kunst schon früh(er) sehr wichtig für die Geschichte der Landschaftsbilder und es entwickeln sich in vielen anderen Kulturkreisen jeweils spezifische Landschaftsdarstellungen. Um den Rahmen dieses Überblicks nicht zu sprengen, werde ich jedoch meine Beobachtungen exemplarisch auf die europäische Kunstgeschichte richten.
5 Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Basel 1860.
6 Bei seiner Schrift, die am 26.4.1336 von Petrarca in Malaucène geschrieben worden sein soll, handelt es sich um einen Brief an Francesco Dionigi, der in der Briefsammlung der „Familiarum rerum“ veröffentlicht wurde. Vgl. Kurt Steinmann (Hg.): Francesco Petrarca. Die Besteigung des Mont Ventoux, Reclam Stuttgart 1995.
7 Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, Fundamente und Manifestationen der aperspektivischen Welt, Stuttgart 1966, S. 17, sowie vgl. auch Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Schriften zur Förderung der Westfälischen Wilhelms Universität, Heft 54, Münster 1963.
8 In der extrem umfangreichen Literatur zu Petrarcas Mont-Ventoux-Besteigung gibt es natürlich auch gegenteilige Stimmen, die den Brief als ein fiktives Schriftstück herausstellen, wie Ruth und Dieter Groh (Petrarca und der Mont Ventoux, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 46 / 1992, Heft 4, S. 290 ff.), die die metaphorische Bedeutung der Bergbesteigung betonen, hinter der das Naturerlebnis eben genau zurückstehe. Vgl. Steinmann (Hg.) wie Anm. 6, S. 64 ff. vgl. hierzu auch Hans-Dieter Bahr: Landschaft. Das Freie und seine Horizonte, München 2014, S. 65. Bahr schreibt Petrarca einen rein kartografischen Blick zu.
9 Vgl. Werner Busch (Hg.): Landschaftsmalerei, Berlin 1997. Siehe zu der Begründung der ersten Landschaftsmalerei in den Fresken Lorenzettis auch Wolfgang Kallab: Die toscanische Landschaftsmalerei im XIV. und XV. Jahrhundert. Ihre Entstehung und Entwicklung, in: Jahrbuch der Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses Wien 21, 1900, S. 1–90.
10 Hans-Dieter Bahr: Landschaft (2014), S. 194.
11 Lucius Burckhardt: Brache als Kontext – Postmoderne Landschaften – gibt es das? (1998), in: Ritter, M./ Schmitz, M. (Hg.) wie Anm. 1, S. 96 / 97.
12 Vgl. hierzu auch Georg Kauffmann: Französische Malerei, in: Die Kunst des 17. Jhds. Propyläen Kunstgeschichte, hrsg. von Erich Hubala, FfM / Berlin 1990, S. 148 – 169, hier S. 159.
13 Ein Exemplar eines solchen Spiegels findet man in London im Victoria and Albert Museum http://collections. vam.ac.uk / item / O78676 / claude-glass-unknown / aufgerufen zuletzt am 10.6.2022. Auf der Seite wird auch beschrieben, wie das Glas funktionierte.
14 Zit. nach Oskar Bätschmann: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750 – 1920, Köln 1989, S. 8.
15 Bätschmann (1989), S. 16 / 17.
16 Zit. nach Bätschmann (1989), S. 269 ff., wo das Dokument im Auszug abgedruckt ist.
17 Vgl. Bätschmann (1989), S. 32 ff.
18 Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der Modernen Gesellschaft, Münster 1963, S. 10
19 Vgl. hierzu auch Bahr (2014), S. 36 ff.
20 Eberhard Roters: Jenseits von Arkadien, Köln 1995, S. 27
21 Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, S. 46.
22 Georg Hasenkamp: Die Wege als Erscheinungen im Landschaftsbild, zugl. Univers.-Diss. der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg, Freiburg 1925, S. 42.
23 Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? (1979), in: Ritter, M./ Schmitz, M., wie Anm. 1, S. 33
24 Ebda. S. 83
25 Kai Völckler, Die erschöpfte Landschaft, in: Remembering Landscape, Kat. Mus. für Gegenwartskunst Siegen 2018, S. 292.
26 Lucius Burckhardt, Landschaft ist transitorisch (1994), in: Ritter, M./Schmitz, M., wie Anm. 1, S. 97.
27 James Lovelock: Das Gaia-Prinzip. Biografie unseres Planeten, 1988, in Zusammenarbeit mit Lynn Margulis entstanden, s. auch Lynn Margulis: Der symbiotische Planet, FfM 2018.
28 Bahr, Landschaft (2014), S. 20.
ANN-KATRIN GÜNZEL ist Kunstwissenschaftlerin, Kritikerin und Kuratorin, sie lebt und arbeitet in Köln. Promotion an der Universität zu Köln zu den serate der italienischen Futuristen als frühe Aktionskunststrategie (2006). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Aktionen und Skandalstrategien des ital. Futurismus, Geschichte und Theorie von performativen Praktiken sowie utopischen Entwürfen und postfuturistischen Ansätzen in der Gegenwartskunst. Seit 2004 publiziert sie regelmäßig Beiträge zur zeitgenössischen Kunst in Katalogen, Fachzeitschriften und wiss. Publikationen, seit 2008 für das KUNSTFORUM international; Gastherausgeberin Bd. 267 (2020) „post-futuristisch. Kunst in dystopischen Zeiten“, aus dem 2021 die Ausstellung „asap. we must hurry to slow down“ im Kunstraum hase29 in Osnabrück hervorging und Bd. 275 (2021) „Utopia. Weltentwürfe und Möglichkeitsräume in der Kunst“.

von Ann-Katrin Günzel

Weitere Artikel dieses/r Autors*in