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Magazin: Belgien · S. 241 - 243
Magazin: Belgien , 1988

Jürgen Raap
Die unsichtbare Grenze

Über das Kulturleben in Belgien

“Ich möchte einen Artikel über die Kunstscene in Belgien schreiben.” – “Über welches Belgien? Das flämische oder das wallonische?”

Eine durchaus berechtigte Gegenfrage, denn das zweisprachige Nachbarland ist durch eine unsichtbare Grenze in zwei verschiedene Kultursphären unterteilt. In diesem Staat, der nicht größer als Nordrhein-Westfalen ist und nur 13 Mio. Einwohner hat, war Kulturpolitik noch nie eine nationale Angelegenheit. Seit der Strukturreform der sechziger Jahre hat jede Sprachregion ihr eigenes Kultur- und Erziehungsministerium. Undenkbar, daß der frankophone Kulturminister Monfils eine Gruppenausstellung fordern würde, an der auch nur ein einziger flämischer Maler teilnähme. Wer an der Sprachgrenze wohnt und den Notarzt ruft, wird nicht etwa ins nächstgelegene Hospital gefahren, sondern in jenes seiner lingualen Zugehörigkeit, selbst wenn es um Leben und Tod oder um rasche Entbindung geht und das zuständige Hospital 20 km entfernt wäre. “Die Aachener fahren ja auch nicht nach Lüttich ins Krankenhaus”, hört man als Begründung für solchen regionalen Eigensinn.

Der Sprachenstreit hat dem Land zwischen Scheide und Maas mit jener Häufigkeit und Regelmäßigkeit, wie man sie sonst nur aus Italien kennt, eine Regierungskrise nach der anderen beschert. Zwischen der sozialistisch dominierten Wallonie und Flandern, wo die Christdemokraten die Mehrheit haben, herrscht eine politische Patt-Situation. Wobei hinzukommt, daß die frankophonen Christsozialen ihrer flämischen Schwesternpartei CVF ähnlich freundlich gesonnen sind wie etwa unsere CSU der SED.

Daß es die Belgier bislang nicht schafften, sich zu einer kulturellen Identität zusammenzuraufen, liegt in den historischen Wurzeln des 1830 gegründeten Königreichs: ein künstlich konstruierter Pufferstaat zwischen Frankreich…


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