Dualität, Identität und Imaginäre Welten
Die Geschichte und Bedeutung der Hali Atölyesi für die zeitgenössische türkische Kunst
von Necmi Sönmez
Auch in der türkischen Kunst ist das Textile seit Jahrhunderten präsentes Medium und Thema. Die künstlerische Auseinandersetzung mit textilen Materialien schlägt eine von Klischeevorstellungen geprägte Brücke zwischen den angewandten und bildenden Künstler*innen und bietet Anknüpfungspunkte zu traditionellem Handwerk, zu moderner und zeitgenössischer Kunst der Türkei. Das osmanische gewebte Kunsthandwerk war lange Zeit eine Inspirationsquelle für die türkische Moderne, die in ihren Anfängen an europäischen Vorbildern orientiert war.1 Die Künstler*innengenerationen um die Müstakiller (Vereinigung unabhängiger Maler*innen und Bildhauer*innen) und d Grubu (d Gruppe) haben in den 1930er Jahren in ihren Werken oft Motive von Teppichen und Farbkombinationen von diversen gewebten Gebrauchsgegenständen verwendet. Auch für die Entstehung der abstrakten Tendenzen in der türkischen Kunst nach 1945 spielen die Teppich- und Kelimmuster eine wichtige Rolle.2
Dabei galt die Verwendung textiler Materialien in der zeitgenössischen Kunstpraxis als eine Art Tabuzone für die türkischen Künstler*innen. Sie wollten eine klar getrennte Linie zwischen angewandter und bildender Kunst definieren, deshalb haben die meisten in ihren Arbeiten jegliche klischeebesetzten Stoffmaterialien vermieden. Allerdings änderte sich die Situation mit der Eröffnung der Halı Atölyesi (dem Teppich–Atelier) an der Akademie der Schönen Künste Istanbul (heute Mimar Sinan Universität der Schönen Künste) Ende der 1960er Jahre.3 Der Akademiedirektor Asım Mutlu hatte nicht nur die Gründung der Halı Atölyesi verantwortet, sondern auch die Entstehung der Fachrichtung Tekstil Sanatlar (Textile Künste) durchgesetzt.
Dieses gegenüber anderen Abteilungen eher kleine Atelier sollte die jahrhundertalte Tradition türkischer Kelimproduktion (Flachgewebe) modernisieren, die Tradition der osmanischen Hofmanufakturen…