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Fragen zur Zeit · von Michael Hübl · S. 42 - 43
Fragen zur Zeit ,

Fragen zur Zeit
Ein paar Grad Wahrheit

Michael Hübl

Es gibt sie, die gute Nachricht in der schlechten: Das Leopold Museum im Wiener Museumsquartier (MQ) hat eine Reihe von Bildern aus der gewohnten Wahrnehmungsbalance gerissen. Dienen Wasserwaage und Kreuzlinienlaser andernorts als Hilfsmittel zur exakt horizontalen Ausrichtung, so hat man hier 15 Gemälde absichtsvoll aus dem Lot gebracht – und das just im gleichsam Allerheiligsten des Hauses, in der Dauerpräsentation „Wien 1900“, die mit prominenten Namen wie Klimt oder Schiele wirbt.

Von der Kraft kluger Interventionen und ihrem Gegenteil: Einer offenbar zunehmenden Neigung zu Gewalt

Einige ihrer Werke hängen nun temporär1 Gustav Klimts lichtflirrende Landschaftsansicht „Am Attersee“ (1900) etwa ist um 2°, Egon Schieles Vedute „Die Häuser am Meer“ (1914) um 3° aus der Waagrechten gerückt. Die gezielt inszenierte Schräglage verweist auf den Klimawandel. Er bedeutet die schlechte Nachricht hinter der von der Kreativagentur Wien Nord Serviceplan konzipierten und in der Sammlung umgesetzten Intervention. Deren Ansatz: Jede Veränderung auf dem Thermometer findet ihre Entsprechung im Winkelmaß. So sind denn die „Motive aus Venedig“, um 1890 von Marie Egner gemalt, um 4° aus dem Gleichgewicht geschoben; bei einer Erderwärmung um 4° Celsius werden bis zum Jahr 2100 möglicherweise nicht nur sie, sondern die gesamte Stadt verschwunden sein, ist dem Begleittext zu entnehmen. Sollten die durchschnittlichen Temperaturen auf dem Planeten gar um 6° steigen, dürften „Apfelblüten“, wie sie Tina Blau-Lang (ebenfalls um 1890) in duftig-zartem Duktus festhielt, zumindest in Österreich kaum noch zu finden sein, weil sich die heimische Vegetation nicht schnell genug den klimatischen Umbrüchen anpassen…

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