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Titel: Über den Genius Loci · S. 28 - 31
Titel: Über den Genius Loci , 1984

Guatemala

Der Karren rollt gemächlich holpernd der Stadt entgegen. An der Absteigestelle, wo die Gasse und die Landstraße einander begegnen, steht der erste Kramladen. Seine Besitzer sind alt; sie tragen einen Kröpf, haben Gespenster gesehen, ruhlose Seelen und Erscheinungen, erzählen von Wundern und schließen die Tür, wenn die Zigeuner vorbeiziehen, die Kinder stehlen, Pferde essen, mit dem Teufel reden und Gott fliehen.

Die Gasse kommt wie die Klinge eines abgebrochenen Degens aus der Faust des Stadtplatzes. Der Platz ist nicht groß; er ist eingeengt vom Rahmen seiner alten, sehr alten und sehr edlen Portale. Die ersten Familien wohnen an ihm und in den anstoßenden Gassen; sie pflegen Freundschaft mit dem Bischof und geben sich nicht mit den Handwerkern ab, es sei denn am Tag des Apostels Santiago, an dem – wie allgemein bekannt – die Señoritas im Bischöflichen Palast den Armen Schokolade ausschenken.

Im Sommer löst sich die Allee in lauter gelbe Blätter auf, die Landschaft erscheint nackt, mit der Klarheit alten Weines, und im Winter schwillt der Fluß an und nimmt die Brücke mit sich fort.

Wie in den alten Geschichten erzählt wird, an die heute niemand mehr glaubt – weder die Großmütter noch die Kinder -, wurde diese Stadt in der Mitte Amerikas über, begrabenen Städten erbaut.

Der Mörtel, den man dazu benutzte, die Steine ihrer Mauern zu verbinden, war mit Milch angemacht. Neben der Yerba-Mala, der giftigen Wolfsmilchstaude, vergrub man Bündel mit dreimal zehn Federn und dreimal zehn Röhrchen voll Goldstaub, um die erste Spur ihres Daseins zu bezeichnen; in einem morschen…

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