Harald Szeemanns
»Plateau der Menschheit«
ODER VOM ANGRIFF DER SCHILDKRÖTEN AUF UNSER GEWISSEN
von AMINE HAASE
Diese Schildkröte war eine Laune, die Des Esseintes einige Zeit vor seinem Weggang aus Paris überkommen hatte. Als er eines Tages einen glänzenden Orientteppich betrachtet hatte und mit dem Blick den Silberglimmern gefolgt war, die über den Einschlag der aladingelben und pflaumenvioletten Wolle huschten, hatte er sich gesagt, es wäre gut, auf diesem Teppich etwas anzubringen, das sich bewegte und dessen dunkler Ton die Lebhaftigkeit dieser Farben noch schärfer hervortreten ließe.” Das schreibt Joris-Karl Huysmans, Erfinder des letzten Sprosses der Familie Floressas des Esseintes, Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Roman “A rebours” (Gegen den Strich), der als Hauptwerk der literarischen Dekadenz des Fin de siècle gilt. Im vierten Kapitel dieses 1884 erstmals publizierten Romans beschreibt Huysmans die “Laune” seines physisch kränkelnden und ästhetisch übersensiblen Protagonisten Des Esseintes, dessen Schönheits-Obsession über Leichen geht. Am Ende des Kapitels ist die Schildkröte tot. Ihr Panzer war mit Gold überzogen und Juwelen waren in Form einer Blüte darin eingelegt.
In Venedigs Giardini, dem Hauptschauplatz der Biennale, sind an allen möglichen Stellen goldene Schildkröten aufgereiht. Sie machen sich im Auftrag der Gruppe Cracking Art Group auf den langen Marsch auf unsere Gewissen – bemalte Plastiktiere als Symbole einer bedrohten und aussterbenden Art. Das mag rührend oder anrührend sein, hat aber doch eher etwas von Familien-Bastelei, von Gartenparty-Dekoration und bleibt damit eine hilflose Geste. Schaut man sich diese zweite venezianische Biennale von Harald Szeeman unter der Prämisse einer solchen Schildkröten-Perspektive an, dann mag man ihr…