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Titel: Konstruktionen des Erinnerns · von Henri Bergson · S. 90 - 91
Titel: Konstruktionen des Erinnerns , 1994

Henri Bergson:
Materie und Gedächtnis

Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist

In gewissem Sinne könnte man sagen, daß das Wahrnehmen irgend eines unbewußten materiellen Punktes in seiner reinen Momentaneität unendlich viel umfassender und vollständiger sei als das unsere, da dieser Punkt ja alle Wirkungen aller Punkte der materiellen Welt aufnimmt und weitergibt, während unser Bewußtsein nur gewisse Teile und nur gewisse Seiten dieser Teile erfaßt. Gerade in dieser Auswahl besteht – soweit die äußere Wahrnehmung in Betracht kommt – das Wesen des Bewußtseins. Aber in dieser notwendigen Armut unserer bewußten Wahrnehmung steckt etwas Positives, etwas, das bereits den Geist ankündigt: das Vermögen zu unterscheiden.

Die ganze Schwierigkeit des Problems, mit dem wir uns beschäftigen, rührt daher, daß man sich die Wahrnehmung als eine Art photographischer Ansicht der Dinge vorstellt, welche von einem bestimmten Punkt mit einem besonderen Apparat – unserem Wahrnehmungsorgan – aufgenommen wird, um alsdann in der Gehirnsubstanz durch einen unbekannten chemischen und psychischen Vorgang entwickelt zu werden. Aber warum will man nicht sehen, daß die Photographie, wenn es überhaupt eine Photographie ist, von allen Punkten des Raumes aus im Innern der Dinge schon aufgenommen und schon entwickelt ist? Keine Metaphysik, nicht einmal die Physik kann sich dieser Schlußfolgerung entziehen. Baut man das Universum aus Atomen auf: in jedem Atom machen sich, qualitativ und quantitativ mit der Entfernung variierend, die Wirkungen bemerkbar, die alle materiellen Atome ausüben. Baut man es aus Kraftzentren auf: die Kraftlinien, die von jedem einzelnen Zentrum nach allen Richtungen ausgesendet werden, leiten die Einflüsse der gesamten…

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