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Fragen zur Zeit · von Michael Hübl · S. 26 - 29
Fragen zur Zeit , 2012

Michael Hübl
Von Reisen und scheinbaren Heiligen

Das Liebäugeln mit einfachen Lösungen gebiert Ungeheuer

Ein philosophisches Bonmot kursiert seit dem Sommer 2012: „Kann man sich Hegel vor dem Fernseher vorstellen?“. Erstmals bringt Peter Sloterdijk Proben aus seinen über 100 dicke Din-A-4-Hefte umfassenden Tagebüchern an die Öffentlichkeit 1. Sie sind stark reduziert und mit Bedacht redigiert. Dieser Satz aber blieb, vibrierend vor Ambivalenz. Bedeutet er eine respektvolle Verneigung vor dem schwäbischen Denker und will sagen: Bei einem wie Hegel, der den Weltgeist in sein wirkmächtiges Amt hob, ist es schlichtweg nicht vorstellbar, dass er in Jogging-Hose und einem Shirt von Clubs wie Hertha BSC oder SV 03 Tübingen auf der Couch flätzt und sich Flaschenbier schlürfend durchs Programm zappt? Oder soll umgekehrt signalisiert werden, dass dem TV-Konsum generell nur geringe Erkenntnisrelevanz zuzumessen ist? Wäre es anders, hieße ja fernsehen so viel wie analytisch klar sehen, einsehen, verstehen; mithin müsste sich die Gattung Mensch derzeit einer Phase exponentiellen kognitiven Zugewinns erfreuen. Denn die elektromagnetisch ondulierten Wege der Weltweisheit ziehen im weltweiten Durchschnitt täglich dreieinviertel Stunden durch die Gehirne der Zuschauer – bei so viel Input sollte es lauter Hegels hageln, und Serbien wäre Spitzenreiter, da dort die televisive Tagesration den Rekordwert von satten 308 Minuten erzielt 2. Noch eine Deutung schiebt sich ins Interpretationsfeld: Hegel sieht das „Philosophische Quartett“, dessen Ur-Besetzung sich inzwischen geändert hat, und hält es allein um seines dialektischen Denkansatzes willen vor dem Apparat nicht aus, sondern will selber drinnen sein.

So oder so: Der Satz vom Philosophen als TV-Bürger…


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