vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Magazin: Publikationen · von Justin Hoffmann · S. 492 - 492
Magazin: Publikationen , 1997

Wie ein Medium eine Krankheit produzierte

»Erfindung der Hysterie« von Georges Didi-Huberman

Salpetrière war eine Stadt der Frauen, ein Verwahrungsort für 4000 weibliche Insassen, die man als verrückt bezeichnete oder einfach loswerden wollte. Georges Didi-Huberman bringt mit seiner ausgezeichnet recherchierten Arbeit das traurige Los dieser Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. wieder ans Licht. Er scheint dabei die Überlegungen Michel Foucaults an einem zentralen Punkt weiterführen und belegen zu wollen. Dabei geht es ihm nicht allein um eine Schilderung der menschenunwürdigen Zustände und Handlungen in dieser psychatrischen Klinik, sondern auch um den Beitrag, den eine neue Bildtechnologie, die Fotografie, dazu lieferte. Er stellt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Mißbrauch eines Mediums und der Mißhandlung der Abgebildeten fest.

Der Psychiater Jean-Martin Charcot wollte Karriere machen und endlich die Hysterie “objektiv” – hier wortwörtlich mit einem Kameraobjektiv – nachweisen. Das Resultat war eine “Iconographie photographique de la Salpetrière”. Die Klinik wurde zur Bilderfabrik. Die Suche der Kamera galt der körperlichen Differenz: Wie unterscheidet sich eine Hysterikerin von anderen Personen? Mit der Hilfe der Fotografie als Realitätsverweis konnten die Ärzte eine “Krankheit” in Szene setzen und gleichzeitig als Beweis dafür verwenden. Um diese “Paradoxie der Grausamkeit” geht es Georges Didi-Huberman, wenn er sein Buch “Erfindung der Hysterie” nennt. Denn ließ sich eine Patientin im Sinne des Psychiaters in hysterischer Gestik ablichten, so hatte sie sein Interesse geweckt und wurde besser als andere Patientinnen behandelt.

Der Autor fragt anhand des gesammelten historischen Materials: “Wie ist ein Körper für einen anderen zum experimentellen Objekt geworden, zum experimentierbaren, weil fürs Bildermachen gemachtes Objekt?” Eine Enteignung des Körpers, um ihn fotogen, sensationell und faszinierend aufzubereiten. Und mit der Fotografie und einigen Foltermethoden (Stimmgabel ans Ohr, Blitzlichtschocks etc.) konnte man die enteigneten Körper in der Tat für den jeweiligen Zweck immer wieder aufbereiten.

Lieblingsobjekt wurde die junge, schöne Augustine, Opfer einer Vergewaltigung im Kindesalter. Charcot beschreibt sie als “sehr klassisches Beispiel”. Schnell wurde sie so zum Star seiner Ikonographie. Die Surrealisten, ihnen voran Aragon und Breton, verehrten Augustine und genossen ihre Ekstasen. Sie fragten nicht danach, unter welchen Schmerzen ihre auf den Fotos sichtbaren Verrenkungen und Anfälle entstanden und welcher Art von Behandlung sie ausgesetzt wurde. Hatte man doch den Sitz der Hysterie im weiblichen Geschlechtsorgan erkannt – ein Wort, das zum ersten Mal bei Hippokrates’ Aphorismen auftaucht. Hysterie ist demnach eine Folge der Bewegung des Uterus. Noch im ganzen 19. Jh. bestand die übliche Behandlung der Hysterie darin, die Gebärmutter an den richtigen Platz zu schieben. Die Ärzte sperrten u.a. den Gebärmutterhals mit Hilfe einer Feder auf, um durch ein Gefäß süßliche Gerüche eindringen zu lassen, die das Zurückziehen der Gebärmutter bewirken sollten. Damit die Patientin nicht den Trick machte, in Ohnmacht zu fallen, wurde ihr während dieser Operation laut in die Ohren geschrieen. Georges Didi-Hubermans Buch ist vieles: Es erläutert, wie eine Bildersammlung à la Warburg-Archiv zu einer Methodik “wissenschaftlicher Polizisten” verkommen konnte, es zeigt Zusammenhänge zwischen Erkrankung und Erogeneität und wie das Begehren der Fotografen in den abgelichteten Personen stets zum Vorschein kam. Das Buch ist damit eine Darstellung einer der dunkelsten Kapitel der Psychologie und Fotografie.

Justin Hoffmann

Georges Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, mit einem Nachwort von Silvia Henke, Martin Stingelin und Hubert Thüring, Wilhelm Fink Verlag, München 1997 (Paris 1982), 385 S., zahlreiche S/W-Abbildungen, ISBN 3-7705-3148-5, DM 58,-.