Wir waren immer kollektiv
Zwischen Ich und Wir
von Heinz-Norbert Jocks
Künstler*innenkollektive hat es seit jeher gegeben. In Afrika, Asien und Südamerika übten sie, auch aufgrund einer anderen Kultur des Wir-Bewusstseins und aufgrund eines fehlenden Kunstmarktes, schon früh einen starken Einfluss auf die Kunstwelt aus. Sie prägten diese entscheidend mit, weshalb sie aus ihr kaum wegzudenken sind. Bei uns hatten es Kollektive hingegen sehr schwer, Sichtbarkeit zu erlangen. Nur sehr wenige vermochten es, sich durchzusetzen und den Kunstmarkt zu erobern. Die meisten führten entweder ein Schatten- oder ein Dasein außerhalb der offiziellen Kunstwelt. Mit ihrer anderen Praxis der Kunstproduktion und ihrem Begriff der Autor*innenschaft widersprechen Kollektive dem bei uns so geläufigen Bild vom individuell Kunstschaffenden in einer Gesellschaft, deren zentrale Grundhaltung sich am Individualismus heftet.
Der heute üblichen Rede von einem individuellen Selbst, das sich nicht primär über die Zugehörigkeit zur Familie und zu einer Gruppe, sondern über Freiheit, Autonomie und Unabhängigkeit definiert, ging ein langer historischer Prozess voraus. Die spätestens im ausgehenden Mittelalter, bzw. in der frühen Renaissance aufkeimende Idee des Individualismus, bereits verwurzelt in der griechischen (Perikles) und der römischen Zeit (2. Jahrhundert), wurde durch die anhaltenden religiösen Schismen in Europa und im 13. Jahrhundert durch den aufblühenden Handel in Italien aktiviert. Doch erst im 16. Jahrhundert, nicht zuletzt dank der Reformation, wurde das Selbst als Einheit und etwas Einzigartiges zum Thema, mit der Folge, dass fortan zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung durch andere unterschieden wurde. Weil die Hoffnung auf Selbsterfüllung spätestens seit der Aufklärung nicht mehr auf das Jenseits zielt, sondern…