REACT TO ART
Die neue Macht des Publikums
von Annekathrin KOHOUT
„Wo immer das Publikum steht, ist für mich heiliger Boden.“1 Marina Abramovićs berühmtes Diktum verweist auf eine künstlerische Grundwahrheit: Ohne Publikum bleibt Kunst stumm. Doch was, wenn das Publikum plötzlich überall ist? Wenn es durch die Linsen und auf die Screens von Smartphones blickt, durch die Feeds, For-You-Pages und Storys Sozialer Netzwerke scrollt, swiped, skippt. In einer Welt, in der das Doppeltippen eines Instagram-Bildes ein flüchtiges „Gefällt mir“ verheißt, in der Kommentarspalten zu trügerischen Schauplätzen ästhetischer Urteile werden und in der die Anzahl der Follower zum Maßstab künstlerischer Relevanz avancieren, hat sich die Rezeption von Kunst radikal verändert. Instagram, TikTok und andere Plattformen prägen durch ihre technischen und kulturellen Eigenheiten maßgeblich, wie Kunst gesehen, bewertet und verstanden wird. Wer scrollt, der urteilt – oft in Milli sekunden. Die vielbeschworene Aufmerksamkeitsökonomie operiert mit unmittelbarer Messbarkeit: Sichtbarkeit wird zur Währung, Viralität zur Qualität. Die Frage „Ist das Kunst?“ wird zunehmend von der Frage „Funktioniert das auf Social Media?“ verdrängt. Der digitale Blick liebt Zugespitztes, Witz, Emotionalität – und vor allem: Teilbarkeit. Damit entsteht ein neues ästhetisches Raster, das sich weniger an Originalität oder kritischer Tiefe orientiert, als an Performanz und Reaktionstauglichkeit.
Vom stillen Schauen zum performativen Reagieren
War Kunstrezeption lange mit kontemplativer Distanz verbunden, und hatte sie dementsprechend Architekturen und Inszenierungsformen geschaffen, die die Aufmerksamkeit auf die Kunst möglichst bündeln sollten, ist sie mittlerweile durch Smartphones und Social Media einer „sozialen Aufmerksamkeit“ gewichen. Eine Entwicklung, die Claire Bishop treffend als Rückkehr zu einer vormodernen geselligen…