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Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten - I. Tanz und Museum · von Michael Krajewski · S. 68 - 73
Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten - I. Tanz und Museum ,
Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten - I. Tanz und Museum

Das Skulpturale im Tanz – Tanz im Skulpturalen

von Michael KRAJEWSKI

Skulptur bleibt, Tanz vergeht – eine scheinbar stabile Dichotomie. Doch wie jede kulturelle Zuschreibung ist sie historisch und sozial konstruiert. Die Vorstellung von Dauer in der Bildhauerei gründet auf dem Material: Stein, Metall, Holz – Symbolträger des Ewigen. Tanz hingegen wird als flüchtig wahrgenommen, als Kunst der Bewegung und Zeit. Das ignoriert die Gemeinsamkeiten: Beide Disziplinen agieren im Raum und teilen eine Bühne: die Tanzfläche oder den Ausstellungsort. Beide adressieren unsere körperliche Erfahrung.

Schon lange beschränkt sich Skulptur nicht mehr auf Meißeln und Modellieren, bezieht Readymades, Ephemeres und körperliche Elemente ein. Kinetische Kunst, Konstruktionen und Installationen haben das Spektrum erweitert, Konzept, Film, Narrationen und Digitales ihre Entmaterialisierung vorwärtsgetrieben. Selbstverständlich stellt skulpturale Auseinandersetzung mit dem Körper heute die Frage nach dessen Repräsentation und Sichtbarkeit. In all diesen Entwicklungen spielten der Tanz, seine Beweglichkeit und Musikalität eine inspirierende Rolle. Oskar Schlemmers Triadisches Ballett wirkt in der Skulptur über hundert Jahren nach. Die Kostüme aus ungewöhnlichen Materialien wie Stahlblech und Sperrholz schränkten die Tänzer*innen stark ein und verwandelten den menschlichen Körper in abstrakte Figurinen. Später konnten nur wenige bildende Künstler*innen solche solche Totalkostüme oder Ganzkörpermasken auf die Bühne bringen. Zu den Ausnahmen gehört Jean Dubuffets Coucou Bazar, ein spektakuläres ‚animiertes Gemälde‘ , das Malerei, Skulptur, Theater, Tanz und Musik zum multimedialen Spektakel verband, wurde nur dreimal zwischen 1971 und 1973 aufgeführt – ein künstlerischer Kraftakt, dessen immenser Aufwand eine breitere Rezeption verhinderte.

Skulpturale Umbrüche standen immer wieder in Beziehung zum Tanz, etwa bei Merce Cunningham, dessen Zusammenarbeit mit Robert Morris in die Blüte der Minimal Art fiel. Als Morris’ erste Skulpturen als Bühnenelemente für Tanzaufführungen dienten, befeuerten sie die Debatte um die Theatralität dieser Kunstrichtung. 1968 integrierte Cunningham Andy Warhols Silver Clouds in sein Stück Rainforest. Die schwebenden Mylar-Kissen erzeugten einen kinetischen Bühnenraum, den die Bewegungen der Tänzer*innen ständig veränderten. Sie können heute neben den Brillo Boxes als Warhols bedeutendster Beitrag zur Skulptur gelten.

Der amerikanische postmoderne Tanz brachte ein Gestenvokabular von nüchterner Prägnanz und formaler Strenge hervor, das sich zugleich in Europa verbreitete. Auch in Performance, Body Art und Video traten an die Stelle narrativer Arrangements vermehrt performative Setzungen, die den Körper als skulpturales Medium etablierten. Bruce Naumans Performances, etwa Slow Angle Walk (1968), demonstrieren exemplarisch, wie das Medium Video ein repetitives Bewegungsmuster – das Gehen – in seiner Wirkung steigert; ein Motiv, das vielfältig weitergeführt wurde. So lässt sich Samuel Becketts Quad (1981) an der Schnittstelle von Theater und Tanz als Variation des Themas begreifen. Erst medial vermittelt erschloss sich die geometrische Präzision des minimalistischen Fernsehspiels als skulpturales Ereignis. Die Präsentation auf der documenta X 1997 konnte dann den vollzogenen Paradigmenwechsel markieren. Grenzgänge in dieser Reduktion blieben allerdings weitgehend isolierte Phänomene, deren Potenziale wurden eher selten ausgeschöpft. Einige Beispiele können zeigen, wie sich skulpturale Praktiken auf unterschiedlichen Ebenen jüngst produktiv dem Tanz als nonverbale Ausdrucksform nähern.

Johannes Brus (*1946) setzt in Probe zu: Tanzen für Brancusi (2016) Skulptur und Tanz mit schalkhafter Präzision in ein spannungsreiches Wechselspiel. Drei Tänzerinnen – zwei überlebensgroße, ausdrucksstarke Figuren und eine kleinere Reservetänzerin auf einem Grafikschrank – verharren in einer erstarrten Choreografie, knallbunte Brancusi-Paraphrasen auf Blechtonnen schauen zu. Brus denkt Tanz plastisch, und er denkt weiter. Seine Inspiration: eine Fotografie von Ursula Kaufmann, die das Ensemble von Pina Bausch über Jahre dokumentierte. Bausch hatte ihre Tänzer*innen nicht einfach Schritte einstudieren lassen – sie forderte Gesten, Erinnerungen, Emotionen. Brus überträgt dieses Konzept auf sein eigenes gipsernes Tanztheater. Ein zweites Foto klingt nach: die ikonische Aufnahme der Tänzerin Lizica Codréanu aus dem Jahr 1922, entstanden in Brancusis Atelier. In Brus’ Tanzprobe erscheint sie wie das Echo aus einer heroischen Zeit, als die Moderne jung war. Brus selbst beschreibt seine künstlerische Praxis mit Ironie, dass „zu viel Verstand den reinen Genuss versperrt“. Diese Haltung spiegelt sich in der Installation wider, deren Leichtigkeit das Pathos der Gattung hinwegtanzt.

Kalin Lindena (*1977) übersetzt Gehen, Stehen und Tanzen seit nahezu zwanzig Jahren in skulpturale, performative und filmische Ausdrucksformen. Ihr Film Geleise, Du Schatten – Gehtanz III (2011) verdichtete früh Raum, Bild und Rhythmus zu einem offenen choreografischen System.

Statt professioneller Tänzer*innen zeigt sie Menschen, deren Schreiten im Takt der Musik beiläufig wirkt, dabei jedoch einer subtilen Dramaturgie folgt. Farbige Bodenmarkierungen legen keine festen Bahnen fest, sondern öffnen ein Spiel zwischen Struktur und Freiheit. Die Offenheit ist zentral für Lindenas Gehtänze, sie verweigert strikte Regeln und betont eine autonome, fast improvisierte Form. Lindena selbst beschreibt Gehtanz als „everydayDance“. Vielleicht werden die scheinbar unbeholfenen, doch in ihrer Alltäglichkeit präzisen Akteur*innen zu wandelnden Skulpturen – vielleicht auch nicht. Doch ihre schlichte Präsenz stellt zumindest Konventionen des Tanzes infrage.

Skulpturale Umbrüche standen immer wieder in Beziehung zum Tanz, etwa bei Merce Cunningham, dessen Zusammenarbeit mit Robert Morris in die Blüte der Minimal Art fiel.

Damit setzt Lindena einen Kontrapunkt zu Bruce Nauman oder Samuel Beckett: Während diese existenzielle Zuspitzung suchten, findet sie Poesie im Gewöhnlichen und stellt dem ästhetischen Überfluss das Unscheinbare entgegen. Ihr Gehtanz ist mehr als eine performative Geste – er ist eine Neubetrachtung von Körperlichkeit, die die Choreografien des Alltags würdigt.

Zu entdecken und bemerkenswert ist auch die langjährige Kooperation zwischen dem Bildhauer Koenraad Dedobbeleer (*1975) und dem Tänzer sowie Choreografen Marc Vanrunxt (*1960). Vanrunxts Interesse zeichnet sich durch eine minimalistische Ästhetik aus, bei der die immaterielle Dimension und die kollektive Produktion im Mittelpunkt stehen – nicht als bloßer Stil, sondern als künstlerische Haltung.

In 13 Koproduktionen seit 2001 setzen die beiden Belgier auf die Autonomie ihrer Disziplinen. Statt direkter Interaktion bevorzugen sie reduzierte, räumliche Interventionen, bei denen Tanz und Szeno grafie sich ergänzen, ohne einander zu dominieren. Eine Ausnahme stellt Prototype (2016) dar: Hier bewegten die Tänzer*innen Dedobbeleers leuchtend farbige Objekte, wodurch sich der Raum in ein dynamisches Spielfeld verwandelte. Die Formen erinnern an Plastiken von Ellsworth Kelly – eine Reverenz beider Künstler vor Kellys Schaffen. Bereits 2005 hatte Dedobbeleer in Deutsche Angst das Potenzial der Interaktion erprobt. In dieser Produktion trat er sogar selbst in die Szenografie ein, bewegte eine blaue Folie hinter dem Tänzer Etienne Guilloteau und bildete so eine lebendige, bewegliche Kulisse.

Antony Gormley (*1950) steht für die ständige Neudefinition der menschlichen Figur: seine skulpturale Praxis beschränkt sich nicht auf Material und Volumen, sondern geht aus von der körperlichen, menschlichen Verfasstheit. Das spiegelt sich auch in den weniger bekannten Tanzproduktionen, in die er nun nahezu zwanzig Jahre lang involviert ist. Der Beginn dieser Kooperationen setzte mit zero degree (2005) ein. Dabei traf Gormley früh auf Sidi Larbi Cherkaoui (*1976) und Akram Khan (*1974), heute zwei der einflussreichsten Choreografen, die sich intensiv mit dem Thema Identität und verschiedenen Tanzkulturen auseinandersetzen. Gormley schuf für die beiden Tänzer figürliche Doppelgänger aus Gummi, mit denen sie in zero degree in Beziehung traten, die Bühne in einen Raum des Dialogs zwischen bewegten Körpern und statischen Figuren verwandelten. Seitdem konnte Gormley insgesamt zu fünf Tanzproduktionen beitragen, die jüngste und wohl spektakulärste davon ist Sidi Larbi Cherkaouis Icon (2016) in Göteborg: Die beiden brachten 3,5 Tonnen Ton auf die Bühne, in dem zwanzig Tänzer*innen wühlten, ihn kneteten und gemeinsam gestalteten: als archaische Metapher der Erde, aus der wir kommen, die wir formen und die uns formt; aber auch als Referenz auf grundlegende bildhauerische Verfahren wie das Modellieren. Das Interagieren der Tänzer*innen mit Doppelgänger*innen oder flexiblem Material trägt nicht nur zum choreografischen Prozess bei, sondern macht diesen erst möglich.

Chiharu Shiota (*1972) hat sich mit spektakulären, raumfüllenden Installationen einen Namen gemacht, die oft den Übergang von Skulptur zur Raumkunst markieren. Ihr „Markenzeichen“ ist der Faden, der nicht nur in ihren Ausstellungen eine zentrale Rolle spielt, sondern auch in Bühnenbildern, darunter für zwei Tanzproduktionen. Für die von Sasha Waltz choreographierte Oper Matsukaze von Toshio Hosokawa schuf Shiota zusammen mit Pia Maier-Schriever erstmals 2011 eine monumentale Installation aus schwarzen Fäden als Bühnenbild: Ein Netz im gesamten Bühnenraum erzeugte eine träumerische, fast gespenstische Atmosphäre. Die Tänzer*innen und Sänger*innen, die sich unter dem und im Gespinst bewegten, schienen in einer Zwischenwelt gefangen zu sein. Die Fäden, die zerrissen und nach der Aufführung immer wieder neu geknüpft werden mussten, wurden auch zum Symbol für die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen und der Erinnerung. In dieser Welt sind die Verbindungen ständig im Fluss.

Für Mozarts Oper Idomeneo, die Cherkaoui 2024 / 2025 mit Tanz als integralem Bestandteil inszenierte, kehrte Shiota zu ihrem charakteristischen Fadenuniversum zurück, diesmal jedoch aus einer neuen Perspektive. Das Bühnenbild macht die subtilen Beziehungen zwischen den Charakteren sichtbar, die, ohne direkten Kontakt, dennoch im ständigen Austausch stehen: Die Tänzer*innen manipulieren die Fäden oder Seile in einem dynamischen Wechselspiel und erschaffen so eine fließende Struktur, in der die Figurenkonstellationen in flüchtigen Bildern Gestalt annehmen. Shiotas Bühnenbildern gelingt es darüber hinaus, abstrakte Konzepte wie Identität, Erinnerung und Verlust greifbar zu machen. Sie transformieren Räume und erzeugen Verknüpfungen – sowohl greifbare als auch imaginäre –, die den Dialog zwischen den Elementen der Inszenierung intensivieren. Die Zusammenarbeit mit Theatern erfordert intensive Planung und präzise Abstimmung, die sich deutlich von Shiotas Arbeit im Atelier oder dem Aufbau mit ihrem eigenen Team unterscheidet. In diesem Prozess entstehen Maquetten, die selbst skulpturale Qualitäten annehmen. Neben der komplexen Kooperation mit einer Institution lässt Shiota sich offen und engagiert auf die choreografischen Prozesse sowie die Dynamik des Tanzes und der Tänzer*innen ein.

MICHAEL KRAJEWSKI ist Kunsthistoriker, Kurator, Kunstkritiker und Publizist. Er studierte Kunstgeschichte in Bonn und Wien und schloss mit einer Dissertation zum Thema Jean Dubuffet und Art brut ab. Er war in folgenden Institutionen tätig: 1993 – 99 Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf; 2001 – 03 Museum Ludwig, Köln; 2011 – 22 Ausstellungskurator und Kustos der Sammlungen moderne und zeitgenössische Kunst am Lehmbruck Museum, Duisburg; 2023 – 25 Ausstellungskurator in den Kunstmuseen Krefeld. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen und Beiträge, kuratierte diverse Projekte und Ausstellungen, u.a. zur zeitgenössischen Skulptur und zur mediumistischen Kunst sowie zu Isa Genzken, Wolfgang Tillmans, Bridget Riley, Hans-Peter Feldmann, Ludger Gerdes, Paul Thek, Jana Sterbak, Wiebke Siem, Peter Buggenhout, Joseph Beuys, Marcel Duchamp, Walter Pichler oder Friedrich Kiesler. Foto: Alistair Overbrück

von Michael Krajewski

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