I Crave Submerge, Not Release
Exzess, Intensität und Auflösung des Selbst bei Michelle Handelman
von Christian Liclair
„Wollust raubt Kräfte und schwächt die Glieder“, proklamiert, nach gängigen Übersetzungen, die lateinische Bildunterschrift eines Stichs von Pieter Bruegel d. Ä., welcher Szenen von Ausschweifung und Exzess, Rausch und Sex zeigt. Die Arbeit ist Teil einer zwischen 1556 und 1557 entstanden Serie der sieben Todsünden, und Luxuria – zu deutsch: Wollust – ist ein solches Hauptlaster. Die Frau in der Mitte von Bruegels Komposition, die Verkörperung der Luxuria, wird von einem Eidechsenmenschen begrabscht, während sie ihre Hand zwischen ihre Schenkel gleiten lässt; ein, wortwörtliches, Arschgesicht im unteren Register des Bildes genießt das klebrige, angeblich aphrodisierend wirkende Innere eines aufgespaltenen Eies; und in der Mitte der Komposition thront ein stattlicher Hahn, ein Attribut der Unkeuschheit.
Doch anders als Luxuria und ihre lasziven Begleiter*innen nehmen Kunstgeschichte und ästhetische Theorie traditionell eine keusche Haltung gegenüber der körperlichen Lust ein. So unterschied die Philosophie des 18. Jahrhunderts zwischen ästhetischer Lust – als Effekt intellektueller Erfahrung und Grundlage kritischer Werturteile – und rein fleischlicher Lust. Diese Form des „kastrierten Hedonismus“, einer „Lust ohne Lust“, wie sie Theodor W. Adorno der Ästhetik Immanuel Kants vorwarf,1 ist auch im Bereich der künstlerischen Produktion und in den Prozessen der symbolischen und kulturellen Wertbildung verbreitet. Dem einflussreichen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu (1930 – 2002) zufolge ist die Ablehnung allzu fleischlicher Genüsse unter Ästhet*innen ein Mittel, sich vom Chaos der menschlichen Körperlichkeit zu distanzieren. Mit der Empfindung von Lust wird also ein Verlust kritischen…