Berlin
Lygia Clark
Retrospektive
Neue Nationalgalerie 23.05.–12.10.2025
von Laura Helena Wurth
Man kommt in letzter Zeit kaum umhin, dass man in Kunstausstellungen aufgefordert ist selbst teilzunehmen. Der passive Kunstgenuss scheint der Vergangenheit anzugehören. Erst, wenn man in einen Stoffschlauch kriecht, Tischtennis spielt oder seine Schuhe auszieht, hat man eine Ausstellung wirklich gesehen. So ist das auch in der Retrospektive der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark. Clark, 1920 geboren und 1988 gestorben, hat ein umfangreiches und vor allem abwechslungsreiches Werk geschaffen, das – speziell in Europa – noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Deswegen ist die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie so beachtenswert. Als Mitbegründerin des Neoconcretismo war für sie ein Kunstwerk, kein statisches Objekt, sondern etwas, das sich, genau, wie die Menschen, die es betrachten, verändern konnte und sollte. So erscheint die Entwicklung ihrer Kunst, der eigentlich interessante, weil dynamische Teil. Malte sie zu Beginn ihrer Karriere noch geometrisch-abstrakte Gemälde, begann sie in den 1960er-Jahren mit ihren „Bichos“, den Tieren: Skulpturen, die man selbst zu verschiedenen Tieren formen kann. Wie ein Spielzeug muten die kleinen, delikaten Objekte an. Sie verwischen die sonst einzuhaltende Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachtendem. So arbeitete sich Clark von der Leinwand in den Raum.
Mit Skulpturen und Architekturmodellen erweiterte sie ihre Kunst konsequent, bis sie schließlich bei partizipativen Kunstwerken landete, die erst ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie genutzt werden. Es ist eine überraschende und eine radikale Wende, von den aufgeräumten konstruktivistischen Kunstwerken ihrer Anfänge über die veränderbaren Skulpturen bis hin zu den Performances. Und dennoch ergibt sich im Verlauf der Ausstellung, deren Architektur, es ermöglicht Clark, wie in einem wundersamen Labyrinth zu entdecken, ein stringentes Bild der Künstlerin. Man dringt durch die klug gesetzten Wände, aus Vorhängen immer näher an das heran, was Clark seit 1964 gemacht hat. Es findet seinen Höhepunkt in der Kunsttherapie. So sind die Besuchenden beispielsweise eingeladen, sich auf einen Sandsack in die Mitte des Raumes zu legen, die Augen zu schließen und einen Stein in der Hand zu halten. Dann wird man mit allerlei Gegenständen belegt. An die Ohren kommen Muscheln, durch die man das eigene Blut rauschen hören kann, ein Sack mit Sand auf den Oberkörper, der einen tiefer in die Unterlage drückt und mit der Erde verbindet. Es ist eine neue Körpererfahrung und das, was heute oft von Kunst in öffentlichen Museen gefordert wird. Kunst nicht als etwas, das man sehen kann, sondern als etwas, das man machen kann. Dabei hat Clark diesen Ansatz bereits Ende der 1960er Jahre entwickelt. Da war sie gerade, wegen der brasilianischen Militärdiktatur, nach Paris gegangen und hatte beschlossen, dass ihre Kunst nicht mehr unabhängig von der Beteiligung von Menschen funktionieren konnte. Dazu passt, dass sie in dieser Zeit an der Acádemie des Beaux Arts unterrichtete und viele ihrer Projekte mit ihren Studierenden verwirklichte. Die brasilianische Strömung des Neoconcretismo ist als Kunstströmung als Antwort auf den Konkretismus zu verstehen, den Clark zu Beginn ihres Werks sehr streng eingehalten hat. Speziell die aufgeräumte Arbeit des Schweizers Max Bill haben sie beschäftigt und beeinflusst. Es sind Werke, die in ihrer Klarheit an Mondrian denken lassen, die in dieser Zeit in Brasilien entstanden und die einen immer wieder daran erinnern, dass man die Kunst und ihre Geschichte
als globales Phänomen begreifen muss, wenn man sie wirklich verstehen will. Darauf folgte der Ausbruch aus den strengen Vorgaben der Kunstrichtung; man kann einer Künstlerin in dieser klug kuratierten Ausstellung bei ihrer Entwicklung, die man vielleicht auch als Geschichte einer Befreiung lesen kann, zuschauen. Einer Befreiung von Konventionen, von ihrer Ehe – sie hat sich in ihrer Zeit in Paris scheiden lassen – von einem brutalen Regime. Dabei sind unter anderem Arbeiten herausgekommen, bei denen man sich zwei Menschen in jeweils einen Anzug begeben und sich durch verschiedene Löcher gegenseitig betasten können. Es geht um Körpererfahrungen, um eine bewusste Wahrnehmung und eigentlich immer, darum eine Verbindung zum Anderen aufzubauen und zu etablieren. Es ist vielleicht genau deswegen die Kunst der Stunde in einer Zeit, in der man sich vor Vereinzelung fürchtet und sich immer öfter einsam vor einem kleinen Screen wiederfindet. Vermutlich kommt auch daher die Sehnsucht nach menschlicher Verbindung in der Kunst und dem Bedürfnis nach sensorischen Erfahrungen. Dass das manchmal albern ist, liegt in der Natur der Sache und ist wohl mit einer gewissen Großzügigkeit zu betrachten. Zur Ausstellung, die im Oktober nach Zürich wandert, wird ein umfassender Katalog erscheinen, als auch ein wissenschaftliches Symposium zur Bedeutung von Clarks Werk stattfinden. Es ist höchste Zeit, den Arbeiten von Lygia Clark auch in der europäischen Kunstgeschichte ihre Bedeutung zuzuweisen.