vorheriger
Artikel
nächster
Artikel
Titel: N/Akt - Zeitgenössische Aktdarstellungen · von Martin Seidel · S. 44 - 47
Titel: N/Akt - Zeitgenössische Aktdarstellungen ,

N/AKT

Zeitgenössische Aktdarstellungen
herausgegeben von Martin Seidel

Jeder Mensch, ob hetero, homo, inter oder divers, spricht auf visuelle und noch mehr auf sexuelle Reize an, auch auf solche, die nicht seiner eigenen oder der allgemein gelebten und erwünschten Sexualität entsprechen und ihm gefallen müssen – das ist das weite Feld nicht nur der Mainstreampornografien, sondern auch der wie auch immer bildwerdenden und gestaltannehmenden erotischen Kunst.

Die sexuell konnotierte Kunst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht denkbar ohne die Forschungen und Erkenntnisse von Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld, Wilhelm Reich, der beiden Kinsey-Reports (1948, 1953), der Studien von William Masters und Virginia Johnson oder des feministischen Reports von Shere Hite (1977). Sie alle beseitigten Tabus, erweiterten die Sicht auf Geschlechteridentitäten, sie entlarvten Scheinheiligkeit, Doppelmoral und Bigotterie. Sie befassten sich mit unterdrückten Trieben und Deviationen, und sie erkannten, analysierten und behandelten sexuelle Störungen. Hinzu kamen die sexuellen Befreiungsschläge der Student*innenbewegung, die Einführung der Pille, die Sexwelle in den Medien, die Legalisierung der Pornografie seit Ende der 1960er Jahre.

Ihrerseits trägt sexuell freizügige Kunst selbst seit dem 19. Jahrhundert ganz wesentlich zu einer veränderten, emanzipierteren gesellschaftlichen Wahrnehmung des Sexuellen bei. In den USA läutete 1969 Andy Warhols Film Blue Movie das „Golden Age of Porn“ ein. Heute konkurrieren Ausstellungen und Symposien im Anspruch, offen, tabulos und grenzüberschreitend und dabei aufklärend und engagiert zu sein.

Andererseits brechen KI-Chatbots selbst bei Eingabe von Begriffen wie „Erotica“ gschamig die Antwort ab. Gerade ein paar Monate her, da bestätigte der Bundesstaat Arizona ein aufs Jahr 1864 (!) zurückgehendes Abtreibungsverbot. Und Homophobie wird aktuell selbst in Ländern der EU wieder politik- beziehungsweise wie in der Slowakei sogar kulturpolitikfähig.

Das ist der ebenso spannungs wie anspruchsvolle Hintergrund des vorliegenden KUNSTFORUM-Bandes. Das Spektrum der Essays reicht von der Betrachtung der Rolle queerer Künstlerinnen und Künstler bei der Entwicklung der Avantgardekunst der Moderne bis hin zu pornografischen Aufweichungen des Kunstbegriffs.

Inhalte sind die Erscheinungsweisen, die vielfältigen künstlerischen Darbietungen und medialen Aneignungen des Nackten, Erotischen und Sexuellen in der Kunst sowie die Themen und die damit verbundenen Absichten. Zum anderen beleuchtet der Band kunstgeschichtliche, rechtliche und moralische Bedingungen und Voraussetzungen von Nacktheit, Eros und Sex in der Kunst und fragt nach deren Wahrnehmung und Akzeptanz sowie auch nach deren Vermittlung in der kuratorischen Praxis.

Es zeigt sich dabei immer wieder: (S)Explizite Kunst ist vital, temperament-, kraft- und lustvoll. Sie basiert auf der Lust, zu zeigen, und der Lust, zu schauen. Gleichzeitig ist sie rebellisch und engagierter Bestandteil feministischer und genderpolitischer Diskurse und kann nicht vom Recht auf Selbstbestimmung, vom Anspruch der Selbstermächtigung, humanistischen Appellen und der Solidarisierung mit marginalisierten Gruppen getrennt werden. Sie ist die Kraft, die auch einer explizit dargestellten Sexualität das Begehren mit Mehrwert zurückgewinnt.