Sittsamkeit und Recht und Freiheit
Bedingtheiten erotischer Kunst
von Martin Seidel
Die Vielfalt erotischer Bildwerke verdankt sich nicht nur der sexuellen Orientierung, der Lust und den Obsessionen, der Sensibilität und Kreativität der Künstlerinnen und Künstler [02]. Eine wichtige Rolle spielen – das zeigt nicht zuletzt der Erfolg der großen Erotikkünstler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts [01] – auch die erotisch-sexuellen Vorlieben und Interessen all derer, die die Kunst in Auftrag geben und kaufen oder die die Kunst ausstellen und in die Öffentlichkeit vermitteln, sowie schließlich die Schaulust der Menschen, die diese Kunst betrachten. Der Bedarf an expliziter Kunst war die längste Zeit der Menschheitsgeschichte ein anderer, größerer und drängenderer als heute, wo nichtkünstlerische Pornofotos und -filme in größter Auswahl, tauglichem Realismus und höchster Bildschärfe jederzeit in der guten Stube auf dem Notebook oder unterwegs auf dem Smartphone verfügbar sind und die stets vorhandenen Bedarfe von Lusterweckung und -steigerung abdecken. Lange war die bildende Kunst die einzige Möglichkeit der Produktion und Rezeption von sexuell stimulierenden Bildwerken. Aufgrund der seit dem 19., 20. und 21. Jahrhundert durch die Entwicklung der bildgebenden Medien und Möglichkeiten jeweils radikal veränderten Voraussetzungen ist sexuell konnotierte Kunst heute oft reflektierter und differenzierter und weniger auf die direkte, durchs Betrachten hervorgerufene körperliche Affizierung und sexuelle Stimulation bedacht. Im Unterschied etwa zu den grafischen Illustrationen zu Klassikern der Erotikliteratur besonders des 19. Jahrhunderts und im Unterschied zu minderwertiger, meist filmisch realisierter Mainstreampornografie folgen erotische Bildwerke von Rang heute weitergehenden Intentionen. Junge feministische Künstlerinnen nunmehr der dritten Generation und junge Künstler…