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Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten · von Uta M. Reindl · S. 44 - 47
Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten ,
Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten

TANZ!

Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten
herausgegeben von Uta M. REINDL und Ellen WAGNER

Die Präsenz des flüchtigen Mediums Tanz in Ausstellungshäusern ist gegenwärtig bemerkenswert. Institutionelle Projekte mit interdisziplinären Kunstangeboten scheinen sich mittlerweile überbieten zu wollen. Die vorliegende Titelgeschichte nimmt dies zum Anlass, historische wie gegenwärtige Entwicklungen im Verhältnis zwischen bildenden Künsten und Ballett beziehungsweise Tanz genauer zu betrachten.

Während meist ritueller Tanz in früheren Jahrhunderten zu Darstellungen in Malerei und Skulptur inspirierten, nehmen Kooperationen zwischen bildenden und darstellenden Künsten seit der Moderne stetig zu. Die „Augenhöhe“ zwischen beiden, an die Uta M. Reindl in ihrer Einführung appelliert, bleibt bis zu aktuellen Formaten eine Herausforderung. Wie sich das Verhältnis des Tanzes zu Raum- und Medienkunst entwickelte, vertiefen Essays von Michael Krajewski und Claudia Giannetti. Victor Čech ergänzt dies um Bezüge zu Literatur und Grafikdesign in der tschechischen Avantgarde. Die Tänzerin und Choreografin Meg Stuart, die mit zahlreichen bildenden Künstler*innen unterschiedlicher Genres kollaborierte, ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie in ihrem Gespräch mit Nele Lipp zu erfahren ist.

Wenn man aber tanzt, gibt es keine Schlussfolgerungen. Es passiert einfach. Ich habe mich für diese Kunstform entschieden, weil sie mit dem Jetzt verbunden ist. – Hofesh Shechter

Doch braucht es für eine gelungene Zusammenarbeit nicht bloß die Offenheit individueller Akteur*innen. Auch Institutionen sind mehr denn je gefordert, zudem bereit, Bedingungen für „mehr als eine Kunst“ zu schaffen – nicht selten mit dem Hintergedanken, so die hehren, manchmal gar verstaubten Museumshallen mit der Anmut des Tanzes auffrischen zu können. Tanz stillt in der Welt der bildenden Kunst ein wachsendes Bedürfnis nach ephemeren, dynamischen, körperlichen Erfahrungen. Zugleich bietet der Kontext der bildenden Kunst Choreograf*innen nun vielfältige Möglichkeiten, ihr Medium jenseits der klassischen Bühne oder Black Box weiter und anders zu denken, wie Tino Sehgal im Gespräch mit Barbara Hess bestätigt. Einen Überblick über Tendenzen, Tanz in Ausstellungsformate oder ein Zusammenspiel mit Museumspräsentationen zu bringen, gibt Katharina de Andrade Ruiz. Formen des Widerstands und Protests äußern sich, nicht nur in der Kunst, oft auch choreografisch, sodass über eine Vielstimmigkeit der Körper ebenso die Aushandlung demokratischer Prozesse ein Stück weit in den musealen Raum hineingetragen wird.

Der zweite Teil der Titelgeschichte nimmt die Bedeutung des Tanzes für die bildende Kunst verstärkt vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher und politischer Diskurse in den Blick. Ein flüsse von Butoh über Breaking bis hin zum Flamenco kommen dabei als spezifische Ausdrucksformen zum Tragen. Wie lassen sich tanzend Zugehörigkeiten ausdrücken und reflektieren? Wer kann es sich leisten, sich vor Publikum aufzuführen? Und welche Formationen taugen dazu, öffentliche Räume nicht nur als Bühne für wenige, sondern für alle nutzbar zu machen?

Unter anderem solchen Fragen widmet sich der israelische Choreograf Hofesh Shechter in seinen Produktionen, die er mit Iris Maczollek diskutiert, so auch die Bildstrecke des Ensembles SANFTE ARBEIT, die sich mit Bedingungen kreativer (Beziehungs-)Arbeit befasst. Bettina Haiss geht dem choreografischen Umgang mit Männlichkeitsbildern auf den Grund, während Petra Poelzl spirituelle sowie ökologische Dimensionen in Installationen Tianzhuo Chens erläutert und Kirsten Maar Konzepte der Teilhabe bei Isabel Lewis fokussiert. Auch Beziehungen zu nicht-menschlichen Akteuren in der Natur werden tänzerisch erkundet. Wie Ellen Wagner vorschlägt, können sie Einladung dazu sein, ein Stück weit Kontrolle über den eigenen Part abzugeben in Zusammenspiel der Disziplinen, um einander ergänzende Formen des Wissens hervorzubringen.

In populären Medien und Veranstaltungen erfährt Tanz mitunter eine besondere Aufladung als Ausdrucksform, die ein „unmittelbares“, „ganzheitliches“ Erleben von Identität und Gemeinschaft ermöglichen soll – und darin ideologisch leicht zu verirren droht. Die Künste sind daher umso mehr gefragt, verfestigte Haltungen und herbeigesehnte Harmonien aufzubrechen, letztlich andere, unerwartete Schrittfolgen zu erproben.