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Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten - I. Tanz und Museum · von Uta M. Reindl · S. 48 - 61
Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten - I. Tanz und Museum ,
Titel: TANZ! Choreografie und Bewegung in den Bildenden Künsten - I. Tanz und Museum

TANZ!

Tanz und Bildende Kunst, eine Wechselbeziehung
Eine Einführung von Uta M. REINDL

Seit den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts mehren sich Ausstellungen über Tanz mit verschiedenen Dialogen zwischen darstellenden und bildenden Künsten.1 So befasste sich die Ausstellung Move 2011 im K20 der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf mit Kunst und Tanz seit den 1960er Jahren. In Paris fand 2013 Dansez sa vie im Centre Pompidou mit Objekten aus der gut bestückten Sammlung statt. Nach den Tanzwelten, der historischen Überblicksschau in der Bundeskunsthalle in Bonn letztes Jahr, fokussiert sich 2025 die Wanderausstellung Fünf Freunde. John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Cy Twombly – zunächst im Museum Brandhorst München, später im Museum Ludwig in Köln – auf die im Titel genannten Künstler und stellt das Zusammenspiel beider Künste im Dunstkreis der sogenannten New York School ins Zentrum.
Mit bildender Kunst befassten sich 2024 allein in Deutschland etliche kleinere und größere Kompanien: so Pollock vom Heidelberger Tanztheater, das sich auf die tänzelnden Bewegungen des Action-Malers Jackson Pollock bei der Arbeit bezieht. In Magdeburg brachte der Choreograf Jörg Mannes mit seinem Stück Vincent die Bildkunst des Niederländers van Gogh auf die Opernbühne. Da Vincis Magie vom Tanztheater Halberstadt dürfte als veritable Hommage an den italienischen Renaissancekünstler verstanden werden.

Ganz abgesehen von den auch im letzten Jahr gestarteten Ausstellungen mit Künstler*innen, deren Werke sehr verschieden mit Choreografie assoziiert werden können. Das Haus der Kunst in München präsentierte gleich zwei davon: Rebecca Horn in einer beachtlichen Retrospektive und die nicht minder beachtliche Pussy Riot-Werkschau im ehemaligen Luftschutzkeller des Hauses. Das für seinen Tanzschwerpunkt renommierte Georg Kolbe Museum in Berlin stellte mit Noa Eshkol. No Time to Dance die Tänzerin, Choreografin und bildende Künstlerin vor, von der neben ihren Wandteppichen das für die Choreografie der Israelin markierende, weltweit einzigartige, nicht nur auf Tanz, sondern grundsätzlich auf Bewegung des menschlichen Körpers bezogene Bewegungsnotationssystem zu sehen war. Erwähnenswert sind diesbezüglich auch die diversen Auftritte im Rahmen der Großkunstveranstaltungen 2024 – so im österreichischen Pavillon auf der Biennale von Venedig. Dort hatte die russische Konzeptkünstlerin Anna Jermolaewa gemeinsam mit der ukrainischen Choreografin und Tänzerin Oksana Serheieva eine politische Auslegung des Schwanensees in Szene gesetzt, die Verweise auf eigene Migrationsgeschichten und Möglichkeiten eines Regimewechsel implizierte. Auf der Manifesta 15 in Barcelona führten die Choreographic Walks der katalanischen Künstlerin Lola Lasurt hingegen zu Orten der kulturellen Erneuerungsbewegung des katalanischen Modernismus.

Selbst wenn die internationale Moderne als Wegbereiterin für künstlerische Grenzüberschreitungen gilt, hat es früher schon Fusionen von Ballett oder Akrobatik mit bildender Kunst gegeben. Das Ballett befreite sich bekanntlich von elaborierten, alltagsfernen, vor allem kanonischen Darstellungen und Erzählungen, vom l’art-pour-l’art-Bühnentanz und öffnete sich für Einflüsse der unterhaltenden Tanzdisziplinen, wie etwa Varieté oder auch Akrobatik. Bildende Künstler*innen ließen sich von darstellenden Künsten inspirieren, malende, bildhauernde wie fotografierende Künstler*innen eigneten sich Choreografiertes an oder choreografierten selbst. Umgekehrt traten auch Tänzer*innen interdisziplinär auf, zeichneten, malten oder fotografierten die Performances ihrer Kolleg*innen. Seit den Anfängen des Films wurden ab den 1870er Jahren Tanzfilme produziert. Bis Ende der 1950er Jahre widmeten sich Musicalfilme wesentlich den Stars der Unterhaltungsbranche wie Fred Astaire, Ginger Rogers oder auch Gene Kelly. Letzterer kooperierte allerdings erstmalig im Musicalkontext mit einer klassischen Tänzerin auf Spitze. Die künstlerische Aufwertung des Balletts durch den Film jedenfalls ging nicht spurlos an den bildenden Künsten vorbei, Ballett oder Tanz etablierte sich bald als beliebte urbane Unterhaltungsform in zahlreichen Metropolen.

Tanz als Gegenstand der bildenden Kunst und dessen Aneignungen durch Künstler*innen

Tanz – als spirituelles und / oder gemeinschaftsbildendes Ritual – war bekanntlich in der Frühzeit und später in der Antike Gegenstand von Zeichnungen oder Malereien an Höhlenwänden sowie auf tönernen Gebrauchsgegenständen aller Art. Folkloristische Darstellungen der frühen Geschichte Lateinamerikas dokumentieren tänzerische Auftritte mit Masken sowie in skulpturalen Körpermasken, wie sie heute noch etwa in Mexiko Tradition sind. Solche und weitere außereuropäische Volkstanztraditionen wurden und werden zeichnerisch, malerisch oder skulptural verewigt. So auch der japanische Kabuki-Tanz, eine bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende hoch stilisierte Tanztradition mit Performenden in prächtigen Gewändern, Masken oder maskenhaftem Make-up. Oder der nach 1945 entstandene Butoh-Tanz – eine skurrile, radikale Variante des Ausdruckstanzes. Auch aus manchen Ländern Afrikas sind seit der Frühgeschichte dieser Kontinente Volks- und Stammestänze bekannt, bei denen Performer*innen mit Masken sowie vielfältig gestalteten Requisiten reichlich ausgestattet waren, von denen so manche Objekte im Kontext zeitgenössischer Kunst wieder zur Anschauung gebracht wurden und werden, so etwa bei der documenta fifteen mit dem Auftritt von Atis Rezistans / Ghetto Biennale aus Haiti in der Kirche St. Kunigundis.

Selbst wenn die internationale Moderne als Wegbereiterin für künstlerische Grenz überschreitungen gilt, hat es früher schon Fusionen von Ballett oder Akrobatik mit bildender Kunst gegeben.

Nun der Blick zurück auf europäische Darstellungen von Tanz in verschiedenen Disziplinen der bildenden Künste: Im Mittelalter hielten Maler, so der Niederländer Pieter Breughel d. Ä., auch als Bauernbreughel bekannt, ausgelassene rurale Tanzrituale bei feierlichen Anlässen auf der Leinwand fest – so im Hochzeitstanz (im Freien) von 1599. In Spanien verewigte Francisco de Goya eher nobel und geziert Tanzende an den Ufern des Manzanares in dem gleichnamigen Ölgemälde von 1777.

Im Impressionismus befassten sich im urbanen Kontext, vor allem in Paris, bildende Künstler intensiver mit malerischen wie skulpturalen Darstellungen von Tanz-Sujets. So fand gleich auf mehreren Ebenen eine deutliche Annäherung zwischen beiden künstlerischen Disziplinen statt, zumal viele der Choreograf*innen zunehmend Staffeleikünstler anstelle der sonst üblichen Bühnenbildner*innen für Maske, Kostüm, Bühnenbild und Requisiten auf ihren Tanzbühnen hinzuzogen.

Edgar Degas verewigte in zwei Genres seines Kunstschaffens Tanz, vielmehr dessen Protagonistinnen – malerisch wie skulptural. Auguste Rodin tat dies mit Bleistift und Aquarell beispielsweise in der Darstellung einer Tänzerin des königlich kambodschanischen Balletts (1906). Henri de Toulouse-Lautrec, der sich gerne im bohemistischen Milieu der Pariser Tanzwelt bewegte, vorzugsweise im Moulin de la Galette, zeichnete und malte gerne Varieté-Tänzerinnen bei ihren öffentlichen, aber auch privaten Begegnungen.

Nachdem das damals „neue“ Medium Film durch den britischen Eadweard Muybridge einen Durchbruch erlebt hatte, fanden Vorführungen früher bewegter Bilder in den derzeit publikumswirksamen Varietés statt. Dabei hatte den Fotografen Muybridge schlicht die Bewegung des zu filmenden Personals interessiert, wofür sich Tänzer*innen naturgemäß eignen. Das trug zu einer Aufwertung des Balletts bei. Neben öffentlichen Auftritten hatten Tänzer*innen viele Aufführungen in Ateliers – und dies nicht nur in Paris. Solche Tanzeinlagen in Studios inspirierten etwa Brancusi, der auch gerne zur Filmkamera griff, seine eigenhändig gefilmten Skulpturen auf einer Drehscheibe förmlich tanzen zu lassen. Der Bildhauer und Maler Georg Kolbe schuf mit Der Tänzer (1913) nach einem Auftritt der Ballets Russes des Sergei Diaghilev das skulpturale Idealbildnis des großen russischen Tänzers Vaslav Nijinsky. Den Farbfilm nutzte die US-Tanzpionierin Loïe Fuller 1895 bis 1908 für ihren, von üppigem Lichtspektakel begleiteten, legendären Schleiertanz, den Serpentine Dance, während dessen wirbelnde und wallende Stoffbahnen abstrakte Linien sowie Formen in den Raum zeichneten, hinter denen Fullers Körper sich schier aufzulösen schien.2

Wichtig ist die zunehmend globale Perspektive der darstellenden Künste in Europa, nicht zuletzt seit der legendären Weltausstellung 1900 in Paris. Die Auftritte der Tänzerinnen „aus aller Welt“ faszinierten die Künstler*innen. Pablo Picasso dokumentierte etwa in der kubistische Zeichnung La Danseuse Sada Yacco seine Begeisterung vom „exotischen“ Tanz – um nur ein Beispiel zu nennen. Im Jugendstil verwandelte der Österreicher Gustav Klimt um 1900 eine reich ornamentierte Tänzerin in seinem gleichnamigen Gemälde schier in eine Göttin. Tanzende Frauen verewigte Ernst Ludwig Kirchner in seiner Kunst mit expressionistischer Verve und malte unter anderem den von Mary Wigman choreografierten Totentanz. Das Gegenstück zu solchen eher heiteren Porträts dürfte die von Otto Dix 1924 geschaffene finstere Radierung Totentanz sein. Vom grenzüberschreitenden Drang der Bauhaus- Zeiten zeugen Wassily Kandinskys Zeichnungen von Tanzformationen und -kurven sowie Fotografien László Moholy-Nagys etwa von der Tänzerin Gret Palucca. Paul Klee und Kandinsky verbanden abstrakte Formen wie Kuben, Kreise oder Dreiecke mit Körperbewegungen. In diesem Zusammenhang kommt da Lux Feiningers Fotografie (1928) von der ersten Produktion Oskar Schlemmers, dem Stäbetanz, in den Sinn. Der Tanz bot Schlemmer die Möglichkeit der grundlegenden Auseinandersetzung mit den Gesetzmäßigkeiten von darstellenden Künsten, mit dem Verhältnis des sich bewegenden Körpers zum Raum. Schlemmers Triadisches Ballett zielte dazu noch auf eine Reform des Theaters, das sich wie der Tanz aus seiner traditionellen Aufgabe zu lösen begann – nämlich jener, ausschließlich als Guckkastenbühne zu fungieren. Parallel zum Bauhaus favorisierten neben Filmschaffenden bald auch etliche Fotograf*innen den Tanz als Sujet: in der Tanzfotografie – um einige Positionen bis heute allein aus dem europäischen Raum zu nennen – unter anderem Albert Renger-Patzsch, Hugo Erfurt, Charlotte Rudolph, Umbo, Willy Fleckhaus, Chargesheimer, Siegfried Engelmann, Walter Boje und auch Thomas Ruff. Neben den figürlichen Darstellungen von Tanz in der Malerei oder der Skulptur sei auch die Bedeutung der Abstraktion hervorgehoben. Der nun freie Tanz wurde abstrakter, fokussierte den Körper in seiner Bewegung im Raum.3 So ließ sich der De Stijl-Künstler Piet Mondrian etwa von den auch in seinem Atelier gelegentlich auftretenden Tänzer*innen zu geometrisch strukturierten Porträts inspirieren. Ein aktuelles Beispiel für eine den Tanz abstrahierende Malerei sind die minimalistischen Schwarz-Weiß-Gemälde von Sungi Mlengeya aus Tansania: Sie reduzieren sich auf schablonenartige Darstellungen von tanzenden Körpern.

In der Postmoderne kam es insbesondere in den USA zu etlichen Kooperationen von bildenden und darstellenden Künstler*innen. Die sogenannte New York School4 stieß auf vielfältige Art das Zusammenspiel der Künste an – von Performance über Happening bis hin zu Riten, wie sie auch Joseph Beuys später aufführte. In Europa mehrten sich seit den 1960er, 1970er Jahren Künstler*innen, die solche Annäherungen multimedial sowie durch Aneignungsstrategien angingen. Ulrike Rosenbach performte in ihrem feministischen Video den Tanz für eine Frau (1974). Rebecca Horn trat in ihren Darbietungen persönlich auf, kreierte in kinetischen Skulpturen geradezu Tanzsequenzen. Asta Gröting ließ 1995 in Ice eine Pirouetten drehende Eiskunstläuferin sowie einen Tanzbär auf Schlittschuhen auftreten. In seinem Film Peter Land 6 February 1994 führt der im Werktitel genannte Künstler Körper in ihrer Vereinzelung vor. Oder der Südafrikaner William Kentridge, bekannt für seine Panorama-Filme, lässt ganze Prozessionen von Menschen, darunter auch Tänzer*innen, als Silhouetten oder Schattenfiguren auftreten, so das 2015 im ZKM in Szene gesetzte More Sweetly Play the Dance.

Die Wiener Choreografin Florentina Holzinger, die im nächsten Jahr Österreich auf der 61. Biennale in Venedig auch mit Interventionen im Stadtraum vertritt, führt die wechselseitige Inspiration der künstlerischen Disziplinen etwas anders vor – so nämlich, wenn sie in ihren Produktionen, zu deren DNA radikale Körperlichkeit gehört, feministisch auf den politisch motivierten Wiener Aktionismus reagiert, der unter anderem von einem kruden Umgang mit dem weiblichen Körper dominiert war, in Happening- und Fluxus-Aktionen gerne provokant wurde. Sasha Waltz, bei deren künstlerischem Kollektiv „Sasha Waltz & Guests“ Interdisziplinarität Programm sein dürfte, sucht bei bildenden Künstler*innen und Architekt*innen Inspirationen – tendenziell für Bühnenbild, Requisiten oder Kostüm. Sie sieht in der US-Choreografi n Trisha Brown ein Vorbild, die in den 1960er Jahren schon mit bildenden Künstler*innen kooperierte.

Die Synergie von bildender und darstellender Kunst in Kooperationen auf Augenhöhe

Frühe Synergien von bildender und darstellender Kunst realisierte das 1909 formierte Ballets Russes, auch Ballets Russes de Diaghilev nach dem legendären russischen Ballettmanager benannt, das 1916 in das New York City Ballet mündete. Es löste sich nicht nur vom russischen Traditionalismus, sondern trug gleichermaßen zur oben erwähnten Befreiung von Regeln des europäischen Balletts bei. In seiner Pariser Zeit koproduzierte Diaghilev mit bildenden Künstler*innen Choreografien, in denen von Léon Bakst, Benois, Natalja Gontscharowa, von vielen Maler*innen der École de Paris geschaff ene Bühnenbilder eine prominente Rolle spielten.5 In diesem Zeitraum fand nicht bloß für die bildenden Künste ein wichtiges Ereignis statt: Außenseiter*innen oder auch Lebensreformer*innen aus der ganzen Welt sowie Vertreter*innen verschiedener künstlerischer Disziplinen hatten sich um 1900 rund um den Tessiner Berg Monte Verità versammelt, um eine Utopie, eine Gegenwelt zum urbanisierten, industrialisierten und technisierten Norden, einen Zufluchtsort für Weltverbesserer aller Art zu schaffen, wobei Feminismus eine wichtige Rolle spielte. Auch manifestierte sich dort eine wahre Begeisterung für die aus westlicher Sicht als ,exotisch‘ wahrgenommenen Tänze mit Gesichts- und Körpermasken. Zu den Protagonist*innen in der spirituellen Aussteigerkolonie Monte Verità, die überdies Zufluchtsort in jenen politischen schwierigen Zeiten war, gehörten neben kommunistischen Politiker*innen etliche Schriftsteller*innen wie Hermann Hesse, Else Lasker-Schüler und bildende Künstler*innen wie El Lissitzky, Marianne von Werefkin oder auch Hugo Ball, Hans Arp und nicht zuletzt Tanzschaffende, Choreograf*innen von Weltrang, so Mary Wigman, Isadora Duncan und schließlich Rudolf von Laban, der Erfinder des Ausdruckstanzes. Dieser befasste sich unter anderem mit sogenannten ikosaedrischen, mit künstlerisch-geometrischen Rahmenkonstruktionen für Auftritte. Der mit der Labanschule initiierte Modern Dance wandte sich von Regeln des klassischen oder akademischen Balletts ab und den sogenannten ,exotischen‘ , antiken und mittelalterlichen Tanzformen zu. Im Wohn- und Repräsentionsbau Casa Anatta von Monte Verità trat Mary Wigman mit ihrem legendären Tanz auf.

Die deutsche Solotänzerin, Choreografin und Ausdruckstänzerin Mary Wigman hatte sich auf Anraten der Frau Emil Noldes Labans „Schule für Kunst“ angeschlossen und realisierte später nach Noldes Gemälde von völlig enthemmt tanzenden Kindern eine Choreografie, an der somit der Maler seinen Anteil hatte. Anteil an diesen interdisziplinären Dialogen nahmen auch Brückekünstler*innen, die sich gerne zu Tanzaufführungen in Dresden trafen, wo Wigman in den 1920er Jahren mit der erwähnten Gret Palucca eine Tanzschule gründete. Isadora Duncan, eine der großen Reformatorinnen des Tanzes, trat in diesen Zeiten barfuß, in einer fast transparenten Tunika und mit einer eigenwilligen Auslegung der Antike auf, die sich am Vorbild griechischer Vasenbilder orientierte. Entr’acte ist ein Beispiel für das Zusammenspiel dreier Künste – des Tanzes, der bildenden Kunst und des Films – im Kontext der dadaistischen Avantgarde. Der Filmregisseur René Claire hatte dank spezieller Kameraeinstellungen und Effekte wie Zeitlupe oder Mehrfachbelichtungen einen surrealen, von dem Dadaisten Francis Picabia beeinflussten Film geschaffen, der 1924 als Zwischenspiel von Picabias Ballettinszenierung Relâche im Pariser Théâtre des Champs-Élysées zur Uraufführung kam.

Wieder in einer Landidylle, diesmal in den USamerikanischen Appalachen, gründete sich zwischen 1933 und 1957 eine zweite utopische Bewegung, die Einfluss nahm auf beide Künste. Widerstand gegen autoritäre Unterrichtsmethoden an dem Rollins College in Florida löste jenes folgenreiche Get Together aus, zu dem alsbald Künstler*innen aus dem durch das NS-Regime bedrohten Europa kamen. Das Black Mountain College entwickelte sich zur führenden Institution interdisziplinärer Ausbildung mit etlichen Verbindungen zum Bauhaus, was allein die Teilnehmer*innen-Liste belegt: Der Komponist John Cage, der Tänzer Merce Cunningham sowie die Maler Willem de Kooning, Franz Kline, Robert Motherwell, Lyonel Feininger, die Bauhäusler*innen Anni Albers, Walter Gropius, auch der Architekt Richard Buckminster Fuller studierten oder lehrten dort gelegentlich.

Die Museen und Ausstellungshäuser einer breiteren, vor allem jüngeren Öffentlichkeit zu öffnen, ist seit den 1970er Jahren ein deutlicher Trend, der zunächst mit der Parole „Schwellenangst abbauen“ einsetzte.

Bevor etliche Mitglieder des Bauhauses aus Nazi-Deutschland fliehen mussten, initiierte Oskar Schlemmer, der im Übrigen später in Deutschland blieb, zuvor bedeutende Kooperationen zwischen bildender Kunst und Tanz auf Augenhöhe. Der Maler des „reinen Konstruktivismus“ und Wegbereiter der Abstraktion war ein Freund des modernen Tanzes, stets umgeben von Tänzer*innen, und kreierte mit ihnen das Triadische Ballett, um eine neue Dreidimensionalität der tanzenden Gestalten zu bewirken. Auf dessen Bühne waren Bodengeometrien aufgezeichnet – für jene durch korsettartige Kostüme aus Glas, Metall und Spiraldraht in ihrer Bewegung arg eingeschränkten Performer*innen. Interessant ist, dass die israelische Choreografin und Tänzerin Noa Eshkol gemeinsam mit dem Architekten Abraham Wachmann fast vier Dekaden später geometrische Movement Notations in Bezug auf den Raum entwickelte. Eshkol stand zudem mit wegweisenden Tänzerinnen ihrer Zeit in Austausch, so auch mit Anna Halprin (1921 – 2021), der Pionierin des expressiven „arts healing movement“, sowie mit der multidisziplinär arbeitenden Tänzerin, Malerin und Schriftstellerin Simone Forti, die 2024 mit Malerei und skulptural gedachten „Dance Constructions“ auf der Kunstbiennale in Venedig vertreten war.

Der Einfluss des asiatischen Tanzes auf die Abstraktion in Malerei und Skulptur war, wie angesprochen, förderlich sowohl in den USA als auch in Europa für die wechselseitige Befruchtung der Künste. Zu den Protagonist*innen der ab den 1940er Jahren bestehenden und wesentlich durch den abstrakten Expressionismus geprägten New York School zählte Jasper Johns, der seine Kollegen Frank Stella, Robert Morris und Andy Warhol einlud, Entwürfe und Ausstattungen wie Kostüm oder auch Bühnenbild für Merce Cunninghams Tanztheater zu produzieren.

Der Maler Robert Rauschenberg trat in Yvonne Rainers Choreografie Parts of Some Sextets (1965) auf. Auch involvierte die Choreografin Robert Morris in den Tanz oder ließ Carl André Requisiten herstellen. Rainer, die mit alltäglichen Gesten arbeitete, war Schülerin von Martha Graham und Merce Cunningham. Weder ließ sie sich von Grahams Ausdruckstanz noch von Cunninghams Improvisationen beeinflussen und fasste stattdessen ihre Choreografien als Minimal Art auf. Ihre Produktionen hatten meist politische Aussagen. Rainer gründete 1962 mit Freunden das Judson Dance Theater. Der stets grenzüberschreitende Komponist und Protagonist der Neuen Musik John Cage hatte sehr viel mit Merce Cunningham zu tun, der wiederum, wie angedeutet, etliche bildende Künstler*innen beeinflusste. In dem von heftigen, tanzähnlichen Bewegungen bestimmten Malakt arbeitete Jackson Pollock mit seinen Action Paintings das Phänomen der Ekstase ab. Sie verdienten daher durchaus die Bezeichnung „Choreographic Paintings“. In diesem Zeitraum befasste sich der US-Westküsten-Künstler Bruce Nauman grundlegend mit Körperausdruck, Bewegungs- wie Tanzformen und trat gar persönlich in Dance or Exercise on the Perimeter of a Square (Square Dance) (1967 / 68) auf. Auch schuf er gemeinsam mit Meredith Monk die schier endlos das an sich alltägliche Hinfallen wiederholende Video-Arbeit Fallen in eine Ecke, das Zurückprallen aus ihr, die 1969 im Whitney Museum als Teil der Ausstellung Anti-Illusion: Procedures / Materials zu sehen war. Ähnlich wie den französischen Choreografen Boris Charmatz und den US-Medienkünstler Dan Graham interessierte ihn nicht das Ideal des demokratischen Tanzes, sondern der Körper in Extremsituationen. Graham griff in den 1980er Jahren mit seinem Body Cartography-Projekt ein ähnliches Sujet mit dem kollektiven Tanzen auf, produzierte den Experimentalfilm Rock my Religion über abgedrehte Punk-, Pop- und Rockszenen und deren bedrohliche Nähe zu kultischen Riten von Religionsgemeinschaften.

Sein queeres Anliegen machte der Kubaner Félix González-Torres mit Untitled (1991) mit den auf einer Plattform lasziv auftretenden Gogo-Tänzern zum Thema, wobei auch das Publikum zum Mittanzen mit Walkman bewegt wurde. Der US-amerikanische Videokünstler Gary Hill arbeite mit der Choreografin und Tänzerin Meg Stuart in dem Multi-Media-Projekt Splayed Mind Out (1997) etwa über gestörte Körperlichkeit in modernen Bildmedien zusammen. Im gleichen Jahr produzierte die Künstlerin Sharon Lockhart mit dem Tänzer Stephen Galloway vom Frankfurter Ballett den Film Goshogoaka, der Schülerinnen eines japanischen Vorortgymnasiums beim rigiden Basketballdrill in der Turnhalle dokumentiert.

Eine sehr eigenwillige Annäherung an Tanz als künstlerischer Partner realisierte schließlich der selbst als Tänzer und Choreograf ausgebildete Tino Sehgal, indem er ikonische Szenen des Bühnentanzes im zwanzigsten Jahrhundert theatralisch darstellte und damit ein virtuelles Tanzmuseum erschuf, dessen Direktor er sozusagen war. [siehe das Interview S. 62]

Tanz ließ sich somit zunehmend von bildender Kunst in einschlägigen Institutionen inspirieren – so auch im nomadischen Musée de la Danse des französischen Choreografen und Tänzers Boris Charmatz. Der ehemalige Leiter des Centre chorégraphique national in Rennes, ab 2022 bis vor kurzem noch Intendant des Tanztheaters in Wuppertal, initiierte damit mehrwöchige temporäre Nutzungen oder auch Besetzungen von Museen als semiöffentlichen Räumen durch den Tanz: 2013 etwa im New Yorker MoMA und 2015 in der Londoner Tate Gallery. Aber auch akademische, mit bildenden Künsten liierte Institutionen – wie das ZKM in Karlsruhe – öffnen sich für groß angelegte Präsentationen, wie 2013 unter der kuratorischen Leitung von Sigrid Gareis und Georg Schöllhammer das Moments, eine achtwöchige Veranstaltung zur Geschichte der Performance im ZKM. Das Boijmans van Beuningen in Rotterdam etablierte schon ab 2018 sein Project Dancing Museum als Forschungsprojekt im Museumskontext. Institutionskritisch ist in diesem Zusammenhang der Ansatz der Österreicherin Isa Rosenberg: Sie reinszenierte in ihrer Multi-Media-Installation Manda 2023 gemeinsam mit der Tänzerin Celia Millau das Ambiente des historischen Bauhauses Dessau, womit sie die Frage nach der Rolle von Museen im Prozess der Geschichtsschreibung aufwarf.

Die Museen und Ausstellungshäuser einer breiteren, vor allem jüngeren Öffentlichkeit zu öffnen, ist seit den 1970er Jahren ein deutlicher Trend, der zunächst mit der Parole „Schwellenangst abbauen“ einsetzte. Inzwischen sind Auftritte mit Tanzkompanien im musealen Kontext international – allerdings in unterschiedlicher Qualität – geradezu alltäglich geworden. Einige Museen und Ausstellungshäuser im deutschsprachigen Raum verankern gar das Zusammenspiel von darstellender und bildender Kunst fest in ihr Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm: allen voran in Paris das Centre Pompidou oder das Georg Kolbe Museum in Berlin, außerdem die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, das Haus der Kunst in München, nicht zuletzt das Museum Folkwang in Essen. Hier hatte im März und April 2025 für die Dauer eines Lunar Cycle, also von Neumond bis Neumond, das gleichnamige Langzeit-Projekt des US-Choreografen Richard Siegal gemeinsam mit dem Kölner Ensemble Musikfabrik eindrückliche Auftritte. Viele junge Kompanien bespielen halböffentliche Räume wie Museen oder andere Ausstellungshäuser für bildende Kunst, aber ebenso gerne den öffentlichen Raum – in Zusammenarbeit mit Künstler*innen und oft mit Laien: So – um ein Beispiel dazu zu nennen – das Kölner Tanzensemble Mouvoir von Stephanie Thiersch 2006 in Kooperation mit der Künstlerin Bettina Buck in dem Projekt City Dance, das seitdem im öffentlichen Raum Kölns und auch inklusiv realisiert wird. Die 2017 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Anne Imhof, bewegte im März 2025 Tänzer*innen des New York City Ballets mit ihrem Doom: House of Hope durch den semi-öffentlichen Raum Museum in der Park Avenue Armory, wo sich das Publikum während der Performance frei bewegen konnte. Oder Trajal Harrell, der mit zwei Tänzern einen abendfüllenden Auftritt zu Modern Dance und Voguing lieferte, mit Auszügen aus seinem Programm kurz vor der nächsten Ausstellungseröffnung im Ludwig Forum zu Aachen.

Unübersehbar bietet die Kunstwelt dem Tanz attraktivere Alternativen zu den Schauspiel- und Opernhäusern, die sich in ihrer inzwischen schon sehr klammen ökonomischen Situation keine eigene Tanzsparte mehr leisten können oder wollen, zumal Tanz schon von so manchen Häusern als „fünftes Rad am Wagen“ toleriert wurde und wird. Vielleicht erleben wir ja die längst anstehende Befreiung des Tanzes aus den Armen der darstellenden Kunst, um neue Räume, ein neues Publikum zu erobern – ganz im Sinne einer Horizonterweiterung durch die Vielfalt der bildenden Künste?

ANMERKUNGEN

1 Weitere Beispiele: Die Kunsthalle Emden / Stiftung Henri und Eske Nannen, danach das Haus der Kunst in München, zeigten 1996 / 97 Tanz in der Moderne. Von Matisse bis Schlemmer. Open the Curtain betitelte sich die Ausstellung in der Kunsthalle Kiel von 2003.
2 1909 – in etwa zeitgleich – war das Futuristische Manifest ein Plädoyer für rauschhafte Technikbegeisterung, mit Interesse an der Bewegung von rasenden Autos, aber auch an Tanz. Gino Severinis Gemälde Meer = Tänzerin von 1913 vereint fragmentierte Flächen und rhythmische Strukturen, die auf das Fließen von Wasser sowie die Anmut der Tänzerin verweisen. Die italienische Tänzerin und Choreografin Giannina Censi performte 1931 den Aereofuturist Dance, während Marinetti Kriegsgedichte rezitierte.
3 Siehe dazu die Ausführungen auch zur Rolle der Zuschauenden, deren Rezeption von freiem Tanz abstrakter wurde. Anja Pawel, Abstraktion und Ausdruck, Bildende Kunst und Tanz im frühen 20. Jahrhundert, Berlin / Boston 2019, hg. v. Horst Bredekamp, David Freedberg, Marino Lausche, Sabine Marienberg, Jürgen Trabant, S. 4ff.
4 Kirkpatricks Grundfragestellungen über ihre Untersuchung der interdisziplinären Zusammenarbeit von modernen und zeitgenössischen Künstler*innen, S. 5. Gail B. Kirkpatrick, Tanztheater und bildende Kunst nach 1945, Würzburg 1996.
5 Dazu gehörten Pablo Picasso, André Derain, Michael Fjodorowitsch Larionow, Juan Gris, Georges Braque, Pere Pruna, Georges Rouault, Max Ernst, Henri Matisse, Giorgio de Chirico – mit experimentellen Skulpturausstattungen von Naum Gabo oder Nicolaus Pevsner.

UTA M. REINDL (*1951) ist Kunstkritikerin, Kuratorin und Übersetzerin. Sie publiziert in internationalen Fachmagazinen, Tageszeitungen, Katalogen. KUNSTFORUM-Gastherausgeberin der Bände 94, 1988 und 280, 2022. Von 1996 bis 2010 organisierte sie die interdisziplinären Ausstellungsprojekte Art Special: Hansa sowie das ebenfalls genreübergreifende Festival BCN-CGN mit junger Kunst aus Barcelona in Köln. In Madrid kuratiert sie seit 1999 Renania Libre. Seit 1996 organisiert sie die regionale Kritikerplattform Kritisches Rheinland. Von 2016 bis 2023 Vizepräsidentin der AICA Deutschland e. V., seit 2024 Mitglied des Committee on Censorship and Freedom of Expression (CCFE) der AICA International.