Atelierbesuch
Tomasz Kręcicki
Die Magie des Alltags
von Noemi Smolik
Es ist Sonntag Mittag Anfang März. Ich bin in Krakau, dieser alten Stadt der polnischen Könige. Das Wetter ist phantastisch. Es ist einer der ersten sonnigen Tage, der den Frühling ankündigt. Der malerische Markplatz mit seinen alten Häusern, den ich auf meinem Weg in das Atelier von Tomasz Kręcicki überquere, ist voll von Menschen. Viele trauen sich schon draußen auf den eiligst aufgestellten Stühlen vor den zahlreichen Cafés und Restaurants zu sitzen. Die Stimmung ist ausgelassen, fröhlich, man genießt die ersten warmen Sonnenstrahlen. Ich schreite an den Cafés vorbei, an der Markhalle, die den Platz in der Mitte einnimmt, und auch am Sonntag von Menschen nur so wimmelt. Hinter der Markhalle stehe ich plötzlich vor kleinen weißen Polizeibussen, vor denen sich Polizisten, einige in richtiger Kampfmontur aufstellen. Unruhe kommt auf. Menschen, vorwiegend junge, laufen hin und her, eine Bühne wird aufgebaut, Plakate werden ausgerollt. Es soll eine Kundgebung gegen die strickten Abtreibungsgesetze geben, die die rechtspopulistische Regierung der PiS-Partei während ihrer achtjährigen Regierungszeit gegen harten Widerstand durchgesetzt hatte. Sie werden im Parlament unter der liberalen Regierung von Donald Tusk wieder neu verhandelt. Die Gegenwart der Polizei und die Bedrohung, die von ihnen ausgeht, auch wenn sie friedlich dastehen, bringt mich an diesem sonnigen, heiteren Tag schlagartig wieder in die harte Realität zurück; Nur etwa dreihundert Kilometer östlich von hier tobt ein grausamer Krieg und hier sitzen fröhliche Menschen trinken Kaffee, essen Eis, lachen, bereiten eine Demonstration vor – was für eine absurde Welt.
In den engen Straßen der Altstadt drängen sich viele Menschen, ich komme kaum durch, dann werden die Straßen breiter und leerer. Ich biege in eine Straße mit gut restaurierten alten mehrstöckigen Häusern und mit Bäumen ein, in der sich das Atelier von Tomasz befinden soll. Ich rufe ihn an und er holt mich ab. Wir gehen durch eine Toreinfahrt, über einen kleinen Hof mit Bäumen und betreten einen Raum, der sich in einem ehemaligen Schuppen befindet. Der Schuppen wurde in ein Grafikstudio umgebaut. Tomasz ist erst vor kurzem in diesen Raum mit einer kleinen Kochecke und einer Reihe großer Fenster Richtung Hof eingezogen. Und tatsächlich alles sieht frisch geordnet aus, der Boden ist frisch gestrichen, es fehlt die Patina. Die in diesem Jahr entstandenen Bilder sind schon auf dem Weg nach Berlin, wo demnächst in der Galerie Esther Schipper Tomasz Einzelausstellung eröffnet wird. Aber es gibt immer noch genügend Bilder, die an der Wand oder den Schränken lehnen.
Mein Blick fällt sofort auf ein Bild mittleren Formats. Es zeigt die linke Hand, eigentlich nur die Finger dieser Hand, die einen Kugelschreiber halten. Seine blaue Farbe setzt sich von der Hautfarbe der Finger und dem gelben Hintergrund deutlich ab. Der Daumen der rechten Hand im oberen Teil des Bildes ist gerade dabei, den Knopf des Kugelschreibers nach unten zu drücken, gleich, gleich, noch nicht, jetzt… das Warten auf das Klicken erzeugt eine Spannung, sie steigt aus dem Bild, breitet sich im Raum aus – endlich klick. Und gleicht tritt Erleichterung ein. Die englische Sprache hat ein wunderbares Wort für diesen Augenblick, in dem sich eine angestaute Spannung plötzlich im Nichts entlädt: pop.
Ich schaue mir das Bild mit dem einfachen Titel Pen von 2024 an und ohne, dass ich etwas sage, beginnt Tomasz zu erzählen. Ja, es ist ihm ganz wichtig, diese Verbindung des Klanges mit dem Bild. Schon ganz früh hat er Bilder wie Das Feuerzeug (2017) gemalt, später dann das Bild Off… on (2024) das einen Lichtschalter mit einem Finger zeigt oder das Bild mit dem Titel Good Morning (2024). Es zeigt eine Schüssel, zwei Finger ein Ei haltend, dessen Schale sie gleich am Rand der Schüssel zerschlagen werden. Man hört schon den Klang der Schale und das Platzen der Eierschale. Es reizt ihn, wie Tomasz sagt, mit einem Bild genau diesen Augenblick des noch nicht, den flüchtigen Augenblick der Spannung, der Erwartung zu erzeugen. Damit, meint er, tritt der Aspekt der Zeit in die Malerei ein. Seine Bilder sollen keine statischen, in sich abgeschlossenen, vollendeten Bilder sein. Genau das strebten die großen abstrakten Maler der 40er und 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts an, doch das hat sich, wie Tomasz meint, als eine Illusion erwiesen.
Was mir bei all diesen Bildern auffällt sind die Finger. Sie sind es, die den Klang durch den Druck auf den Knopf auslösen. Sie sind die Handelnden. Doch sie sind übertrieben groß dargestellt, dadurch kommt ihnen etwas leicht Bedrohliches, oder noch eher etwas Komisches zu. Claes Oldenburg, dieser Künstler der Pop Art mit seinen überdimensionierten Objekten kommt mir in den Sinn. Und „pop“ – ist es nicht das englische Wort für genau jenen Augenblick, in dem die Spannung sich plötzlich durch einen Knall auflöst – pop macht? Von diesem Wort „pop“ kommt auch die Bezeichnung „Pop Art“ für eine Kunstrichtung, die in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, dem Anspruch der abstrakten Maler mit ihren Bildern den Alltag zu überhöhen und ins Heroische – man sprach vom „Sublimen“ zu überführen, mit ihrem Einsatz für das alltäglich Triviale entgegentrat.
Ja, meint Tomasz, die Pop Art sei schon wichtig für ihn, weil sie eben nach der Vorherrschaft der abstrakten Malerei mit ihrem Streben nach dem Erhabenem wieder die Realität des Alltags ins Bild hole. Er selbst will mit seinen Bildern so nah wie möglich an die alltägliche Realität heran. Daher auch die Hände in seinen Bildern, denn es sind die Finger, die den Pinsel halten, mit dem sie sich der Leinwand nähern. Diese Gegenwart der Finger macht es deutlich, dass sie es sind, die sich unmittelbar an dem Prozess der Übertragung der Realität auf die Leinwandfläche beteiligen. Für ihn, in dessen Bildern der Mensch fast nie vorkommt, stehen die Finger für die Gegenwart des Menschen.
„Ich vermeide große Themen und eine hundertprozentige Ernsthaftigkeit, ich finde sie prätentiös“, hat Tomasz in einem Interview einmal gesagt.1 Und auch in unserem Gespräch geht er immer wieder auf diese Vermeidung von gewichtigen mit Ernsthaftigkeit geladenen Themen ein, wobei er aber darauf besteht, die alltägliche Wirklichkeit fassen zu wollen. Das scheint mir ein Widerspruch zu sein. Keine ernsthaften Themen und doch die Realität des Alltags! Zeichnet sich gerade der Alltag nicht durch eine manchmal geradezu bedrückende Ernsthaftigkeit aus? Als Antwort auf meine Frage beginnt Tomasz über Bathos zu sprechen. Ich verstehen zuerst Pathos und wundere mich, denn Pathos ist etwas sehr Ernstes. Nein, er meint Bathos, ein Wort, das im deutschen Sprachgebrauch eher selten vorkommt.
„Bathos“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Tiefe“. Im übertragenen Sinne meint das Wort „Niedrigkeit“, „etwas Niederes“, das den höheren Werten gegenübergestellt wird. Die Bezeichnung kommt aus der Rhetorik, in der das Wort „Bathos“ ursprünglich rhetorische Stillmittel bezeichnete, die sich geschickter Gegenüberstellung vom Hohen und Niederen bedienten, um das Hohe, Erhabene, Ernste ins Lächerliche zu wenden und so eine freiwillige, oft unfreiwillige Komik des Gesagten zu erzeugen. Emmanuel Kant hat dieses Wort noch benutzt, als er den Ausgangspunkt seines Denkens als „das fruchtbare Bathos der Erfahrung“ bezeichnete. Bathos, wenn ich Tomasz richtig verstanden habe, bezeichnet daher in seinen Bildern genau diesen Augenblick, in dem das Erhabene und Ernste plötzlich und unerwartet ins Niedere, ins Lächerliche, wenn die Tragik in Komik umkippt. Diesen Augenblick des Umkippens, der sich jeder Gegenwart verweigert, weil er während er noch nicht eingetreten ist, schon wieder in Begriff ist, zu verschwinden – dieser Klick und das gerade noch Erhabene, Respekt einfordernde, wird zum lächerlichen, jeden Anspruch auf Autorität einbüßenden Popanz – zum lächerlichen Popanz wie die viel zu großen Finger. Lächeln, manchmal sogar ein Lachanfall sind die Folge. Aber Vorsicht. Dieses Umschlagen erzeugt keine Witze, auch wenn es ein Lächeln provoziert. Es ermöglicht, um es mit Kant zu sagen, „eine fruchtbare, bathische Erfahrung“, die eine Distanz zu den eingespielten oft ritualisierten alltäglichen Vorkommnissen herstellen kann, aus der heraus es erst möglich ist, eine kritische Haltung zu diesen Vorkommnissen einzunehmen. Es ist ein parodistisches, vom Lachen begleitetes Verfahren, auf dessen subversive Energie als einer der ersten der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin bereits in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts hinwies, als er dem Ursprung und der Bedeutung des Lachens nachging. Heute geht die US-amerikanische Philosophin Judith Butler dem Prinzip des Parodistischen als Quelle subversiver Energie nach.
Und genau dieses Vorgehen wendet Tomasz an, wenn er sich der Frage nach der Abstraktion in der Kunst zuwendet, wie sie die moderne Malerei nach dem 2. Weltkrieg zu etablieren versuchte. Diese abstrakte Malerei, später dann auch die Minimal Art, versuchte das Alltägliche, nicht zuletzt wegen der subversiven und daher kaum zu kontrollierenden bathischen Erfahrung zu verdrängen. Das Quadrat mit seinem Potential, den Alltag in geordnete Bahnen zu lenken, trat an ihre Stelle. Ein weiteres Bild, das im Atelier an einem Grafikschrank lehnt, zeigt auf weißem monochromem Hintergrund horizontal und vertikal angeordnete, sorgfältig aufgemalte schwarze und braune Linien. Wer will kann es in der Tradition des Malers Piet Mondrian als ein abstraktes Rasterbild betrachten. Man kann aber die Linien mit einem Tisch assoziieren, auf dem rechts und links je ein Stuhl mit der Sitzfläche nach unten gestapelt ist. Dazu verleitet nicht zuletzt auch der Titel Chairs on the table dieses 2016 entstandenen Bildes. Ein Bild mit Tisch und zwei Stühlen oder ein abstraktes Bild? Es ist ein Bild, das an einer Kippe balanciert und das die hohen, sublim angereicherten Erwartungen Clement Greenbergs – eines der theoretischen Apologeten des Erhabenen in der abstrakten Malerei – durch die Gegenwart eines so profanen Alltagsgegenstandes wie des Tisches mit zwei Stühlen ins Lächerliche wendet. Weder ein abstraktes noch ein gegenständliches Bild, eine eindeutige Entscheidung ist nicht zu treffen – es ist ein absurdes Bild im ursprünglichen Sinne des Wortes „absurd“.
Die ganze Absurdität des erhabenen Anspruches auf die Malerei tritt in dem 2019 gemalten Bild mit dem Titel induction „popartig“, da schlagartig ins Bewusstsein. Es zeigt ein schwarzes perfekt monochromes Quadrat. Jeder denkt sofort an das legendäre „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“ von Kasimir Malewitsch, das zum Inbegriff der modernen abstrakten Malerei erklärt wurde. Wären da bloß nicht am unterem Rand die rot aufleuchtenden Zeichen + und –, die unmissverständlich als Zeichen zum Regulieren der Wärmezufuhr erkennbar, auf der schwarzen Fläche eines jeden Induktionsherdes erscheinen. Vom wegen abstrakt, erhaben – es ist ein Bild eines so profanen Gegenstandes wie des Küchenherdes. Tatsächlich gibt eine ganze Reihe von Bildern, die Küchengeräte, kochende Töpfe und Pfannen zum Motiv haben und die an der Kante zu Abstraktion balancieren. Die Vorstellung Barnett Newman, Ad Reinhardt, Donald Judd oder Carl Andre, diese heldenhaften Vertreter des Prinzips abstrakter Erhabenheit hätten sich in ihrer Kunst einem Küchenherd zugewandt, erzeugt eine wahre bathische Erfahrung, der man nicht anders als mit einem Lächeln begegnen kann.
Bilder von Tomasz zeigen alltägliche, oft einzelne Gegenstände in einer Nüchternheit, Materialist und Sachlichkeit, die neben der optischen Nähe zur Pop Art von einer weiteren Nähe zeugt; zu der in Deutschland in den 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts entstandene Malerei der „Neuen Sachlichkeit“. Eine ähnliche Nähe einiger junger Malerinnen und Maler zu dieser historischen Kunstrichtung konnte ich auch bei meinem letzten Besuch in New York beobachtet. Und der überwältigende Erfolg der gerade zu Ende gegangenen Ausstellung Neue Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim bestätigt diesen Trend. Was bedeutet aber diese Nähe? Was bedeutet diese Abkehr von Konzepten und von Träumen von der Überwindung des Alltäglichen, die über Jahrzehnte die europäische und US-amerikanische Kunstentwicklung prägte? Die historische „Neue Sachlichkeit“ entstand in einer Zeit, die unmittelbar dem Ausbruch der 2. Weltkrieges vorausging. Was sagt also diese Nähe über unsere Zeit aus, frage ich Tomasz. „Vielleicht wiederholt sich alle Hundert Jahre die Geschichte“, meint er. Ja, schießt mir durch den Kopf, das würde bedeuten, wenn wir dem berühmten Spruch von Karl Marx, alles geschehe zweimal, das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce, Glauben schenken sollten, unsere Zeit sei eine Farce. Nein, eine Farce ist sie nicht, dafür ist die Zeit zu ernst, zu real, zu bedrohlich. Vielleicht ist es gerade dieses Wissen um die Bedrohung, die unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Dinge des Alltags richtet? Doch was bedeutet es? Wir reden noch länger über die neue Sachlichkeit, ohne zu einem schlüssigen Ergebnis zu kommen, über die Realität, die Abstraktion… Dann verabschiede ich mich.
Draußen scheint immer noch die Sonne und da rät mir Tomasz zu einem Spaziergang entlang des Flusses Weichsel, vorbei an dem Krakauer Schloss bis zu dem Kulturzentrum „Cricoteka“. Ungefähr nach einer halben Stunde erreiche ich das neue, architektonisch ungewöhnlich gestaltete Gebäude der „Cricoteka“, in dem sich neben einem Kino, einem Kaffee mit Blick auf die Stadt, einer Ausstellungshalle auch das Museum des 1990 gestorbenen, nicht nur in Krakau sondern in ganz Polen sehr einflussreichen Künstlers, Lehrers und Theatermachers Tadeusz Kantor befindet. Da genau vor fünfzig Jahren, 1975, Kantors weltbekanntes Theaterstück Die (un)tote Klasse uraufgeführt wurde, gab es in seinem Museum neben der ständigen Präsentation seiner Werke auch eine aktuelle Ausstellung, die die Entstehungsgeschichte, die Aufführungen, die Reaktionen auf die Aufführungen, die Ausstattung und die Kostüme dokumentierte und die Skulptur mit dem selben Titel von 1975 zeigte, die während der documenta 6 im Jahre 1977 auch in Kassel zu sehen war. Das Stück in dem ein Klassenlehrer seine nach und nach während des Krieges ermordeten Schüler durch Puppen ersetzt, um weiter zu unterrichten ist ein erschütterndes, an Absurdität kaum zu übertreffende Dokument. Es ist ein Stück in der Tradition des absurden Theaters, das nicht nur in Krakau, sondern zum Beispiel auch in Prag – denken wir nur an die Theaterstücke von Václav Havel, des Dissidenten und späteren Präsidenten der Tschechoslowakei – nicht zufällig die Brutstätte des Widerstandes und der Opposition war. Als Kantor 1978 von der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Stiftung in Basel für sein Werk ausgezeichnet wurde, las er ein von ihm verfasstes Manifest vor, das auch in der Ausstellung in voller Länge zu lesen ist. Hier betont er, dass es ihm in seinem gesamten Werk immer nur darum ging, die Realität des Alltags ins Bewusstsein zu bringen. Er nennt sie „die Realität des niedersten Ranges“. 2 Als der belgische Maler Luc Tuymans 2010 in Brügge eine Ausstellung nicht nur mit Künstlern und Künstlerinnen aus Zentraleuropa aber auch mit Künstlern wie Sigmar Polke mit zentraleuropäischen Hintergrund kuratierte, gab er der Ausstellung den Titel The Reality of the Lovest Rang (Die Realität des niedrigsten Ranges). Als ich dieses Manifest in Krakau wieder las, da begriff ich auf einmal, wie tief auch Tomasz Verlangen nach der Realität des Alltags, dem Bathos und der Absurdität als einer Opposition zu einigen, die Niederungen des Alltags ignorierenden Höhenflügen der Moderne, zumal der abstrakten Kunst in einer Tradition verwurzelt ist, die auf Kantor und seine erschütternden Kriegserfahrungen zurückgeht.
Ich schlendere anschließend durch die Straßen Krakows, komme wieder zu dem große Marktplatz auf dem die Polizei immer noch in voller Montur aufgestellt ist. Die meisten Teilnehmer der Demonstration scheinen schon gegangen zu sein, nur eine kleine Gruppe von jungen Leuten trommelt, einige tanzen, viele stehen nur so herum. Einige Meter von ihnen entfernt, durch stehende Polizisten voneinander getrennt, spricht ein älterer Herr im Anzug, der wegen des Getrommels jedoch keine Chance hat, gehört zu werden. Hinter ihm sind Plakate mit drastischen Bildern aufgebaut, die sich gegen die Abtreibung wenden. Einige Tage später treffe ich Tomasz in der Galerie Esther Schipper in Berlin wieder. Seine Ausstellung, die am nächsten Tag eröffnet wird, ist aufgebaut. Auf den Seitenwänden und auf den in der Mitte der Galerie aufgebauten Panels hängen Bilder, die wieder Hände, monströs große Hände zeigen. Ihre Finger umfassen verschiedene Möbelstücke, wie Sofas, Schränke, Sessel, die sie hochheben. Man sieht jedesmal ähnlich einem Ausschnitt unter der Lupe nur Finger, die die jeweilige Ecke des Möbelstückes umfassen, mehr nicht. Höchstens im unteren Teil des Bildes angedeutete Treppen. Tomasz hat gerade den Umzug seines Ateliers hinter sich und daher kann man diese Bilder als Zeugen seiner aktuellen Erfahrung betrachten. Doch sie sind mehr, sie lassen wieder die Realität, vertreten durch die menschlichen Finger auf die Welt einer geometrischen Ordnung wie sie in diesen Bildern die scharfen Kanten der jeweiligen Möbelstücke manifestieren, aufeinanderprallen. Abstrakt und doch real, absurd und doch so nah am alltäglichen Leben sind diese Bilder. Wobei die gesamte Installation, dadurch, dass einige Bilder auf Panels in der Mitte des Raumes angebracht sind, den Eindruck einer Bühne erzeugen. Einer Bühne, wofür? Ich erzähle Tomasz von meinem Besuch in Kantors Museums und von dem Manifest dieses Künstlers. Und ich frage ihn, was er von Kantors Prinzip „der Realität des niedersten Ranges“ hält. Er denkt kurz nach und dann sagt er: „‚Realität des niedersten Ranges‘ – das wird der Titel einer der nächsten Ausstellungen sein.“
1 Ksiazka / The Book, Hg; Wojciech Szymanski, Regional Museum in Stalowa Woda, Stalowa Woda 2019, S. 35
2 siehe zu dem Thema der Realität des niedrigsten Ranges und seiner Bedeutung für die Kunst und das Theater in Zentraleuropa: Noemi Smolik, Wer spricht das? …. Künstlerinnen und Künstler in Polen, in: Ausstellungskatalog, Zeitgenössische polnische Kunst, Museum Morsbroich, Leverkusen, 2013, S. 90 – 96
Einzelausstellungen
2025 – Galerie Esther Schipper, Berlin; 2024 – Longlati Foundation, Shanghai; 2020 – Muzeum Regionalne, Stalowa Wola 2019 – Spirit level, Grey House Foundation, Kraków und XXL, BWA, Tarnów
Ausstellungen
mit der Künstlergruppe Potencja 2022 – Potencja – Humoral Theory: Quattro Stagioni, Galeria Bielska BWA, Bielsko-Biała; 2021 – Potencja – Humoral Theory, BWA Zielona Góra
Sammlungen
BY ART MATTERS, Hangzhou; Beiqiu Museum of Contemporary Art, Nanjing; Longlati Foundation, Shanghai; Sammlung Hildebrand, Leipzig; The ING Polish Art Foundation, Warsaw; mBank Art Collection, Warsaw; Krupa Art Foundation Wrocław; National Museum, Gdańsk.