Documenta: Wirbel um Steinmeier-Rede

19. Juni 2022 · Kulturpolitik

„Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangenen Wochen nicht sicher, ob ich heute hier bei Ihnen sein würde“, erklärte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Begrüßungsansprache zur Eröffnung der jetzigen Kasseler Documenta. Ein Novum: noch nie zuvor hatte ein Bundespräsident gezögert, eine Documenta zu besuchen, und noch nie hatte die ARD-Tagesschau einen so langen Bericht über eine Kontroverse um die Documenta gesendet am wie am Abend des 18. Juni 2022, und selten hat es über die Rede eines Bundespräsidenten so viel medialen Wirbel gegeben wie jetzt. Die „Unversöhnlichkeit im Ton“ in der Debatte habe ihn irritiert, nannte Steinmeier als Grund für sein Zögern, nach Kassel zu reisen, und stellte klar: „Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen. Mehr noch: Die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Kunst sind Wesenskern unserer Verfassung. Kritik an israelischer Politik ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infragestellung seiner Existenz, ist die Grenze überschritten… Ein Boykott Israels kommt einer Existenzverweigerung gleich…“ Dass Steinmeier in seiner Rede auch Joseph Beuys erwähnte, schreckte allerdings die „Spiegel“-Redakteurin Ulrike Knöfel auf: „Beuys ist längst kein Synonym mehr für einen besonders freiheitsliebenden, weltoffenen und integren Künstler. Vielmehr steht er für eine rechte Schlagseite der Kunst…“ und dass Steinmeier auch einräumte, man müsse „stärker hinschauen, auch hinhören, bei den Fragen, die im globalen Süden die Menschen bewegen“, bewertet Knöfel als „ungelenke Ja-Aber-Haltung“ und „bloße rhetorische Schleife“. Knöfels Fazit: „Die Vorab-Debatte um die 15. Documenta hat das Image der Kulturnation Deutschland weiter beschädigt. Und Steinmeier rettete es nicht.“ In „Monopol“ befand Elke Buhr: „Diese Rede ist ein Skandal“. Dem Bundespräsidenten sei es „wichtiger“ gewesen, „die Gäste aus Indonesien zurechtzuweisen – ihnen zu sagen, wen genau man in Deutschland, im Land des Holocaust, in eine Ausstellung einzuladen hat und wen nicht.“ Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, erklärte hingegen über „BILD am Sonntag“, er teile „die kritische Einschätzung des Bundespräsidenten“. Der Antisemitismusbeauftragte der Hessischen Landesregierung, Uwe Becker, erzürnte sich über den d 15-Beitrag der palästinensischen Gruppe The Question of Funding „Guernica Gaza“: „Wer Guernica und Gaza in eine Reihe stellt, befördert den israelbezogenen Antisemitismus im Gewande der Kunstfreiheit.“ Nun ist der Kunstvorbehalt juristisch sehr weit gefasst – bevor z.B. die Pornografie weitgehend liberalisiert wurde, beriefen sich oft die Hersteller solcher Filme darauf, sie produzierten Kunst. Nun aber verschaffen sich vermehrt auch Stimmen Gehör, denen politische Korrektheit oftmals wichtiger zu sein scheint als eine grenzenlose Freiheit der Kunst. Insofern hat die d 15 unfreiwillig eine Debatte darüber angestoßen, aber sie ist überfällig. Die ganze Rede des Bundespräsidenten können Sie hier lesen: www.bundespraesident.de: Der Bundespräsident / Reden / Eröffnung der documenta


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