Relektüren
Folge 91
von Rainer METZGER
„Einmal las ich in einem Comic folgende Geschichte: Bécassine, ein unbedarftes Dienstmädchen vom Land, soll Lätzchen besticken, auf eins einen kleinen Vogel, auf die anderen ‚dito‘, also stickte sie ‚dito‘ im Kreuzstich. Ich war mir unsicher, ob ich nicht auch ‚dito‘ gestickt hätte.“ Annie Ernaux hat diese Überlegung 1983 in ihrem vierten Buch La place, auf Deutsch Der Platz, formuliert und ihren Schlüsselbegriff gleich mitgeliefert: „Die Scham, nicht zu wissen, was wir zwangsläufig gewusst hätten, wenn wir nicht das gewesen wären, was wir waren, nämlich unterlegen“ (Annie Ernaux, Der Platz, Berlin: Suhrkamp 2020, S. 50).
Auf zehn Referenzen kommt die Literaturnobelpreisträgerin von 2022 in Didier Eribons Rückkehr nach Reims, und womöglich haben die Bücher des einen den Büchern der anderen zur Nobilitierung jedenfalls mitverholfen. Auch Ebrions Buch handelt von der Scham, und es ist in seinem Fall eine mit Doppel kodierung. Wahlweise als soziale Scham / honte sociale oder als Herkunftsscham / honte du milieu benennt er sie, und beide Varianten scheinen ihm umso drastischer, als er sich von einem Grundübel gesellschaftlicher Diskriminierung erstaunlich wenig tangiert fühlt: „Es war mir leichter gefallen, über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale“ (S. 19). Der Autor, der mit seinem 2009 auf Französisch und erst sieben Jahre später auf Deutsch publizierten Bestseller eine Art Bekenntnis-Epik vorlegt, ist Biograf von Michel Foucault, Paradefigur der Pariser Theorie, ist Schwuler, Kämpfer, Universitätslehrer und verkörpert das ganze Curriculum aus Cultural, Queer, Gender, Subaltern. Seine Sexualität, einwattiert in den Diskurs, bereitet ihm dabei kaum Schwierigkeiten….