Essay
Kunstfreiheit im Visier
Der Toleranzspielraum verengt sich
Eine Betrachtung von Heinz SCHÜTZ
Ausgelöst durch die mediale Berichterstattung und staatliche Eingriffe, durch Proteste und Debatten steht spätestens seit der zum Skandal erklärten documenta 15 die Frage im Raum, ob und wie heute Kontroll- und Ausschlussmechanismen die Kunstfreiheit bedrohen. Welche Tendenzen zeichnen sich ab? Wird Zensur zum common sense? Steht die Kunstfreiheit auf dem Spiel?
Kunstautonomie. Kunstfreiheit. Freiheit.
Kunstfreiheit und Kunstautonomie sind eng miteinander verbunden, aber nicht identisch. „Kunstautonomie“ bedeutet, dass Kunst, Künstler und Künstlerinnen uneingeschränkt ihren eigenen Regeln, Maßstäben und Absichten folgen. Die Kunstfreiheit, wie sie im deutschen Grundgesetz und in anderen demokratischen Verfassungen verankert ist, garantiert diesen Freiraum der Kunst und nimmt den Staat in die Pflicht, ihn als fundamentales demokratisches Recht zu schützen. Bereits zur Zeit der Aufklärung wird eine Verbindung zwischen Kunstfreiheit und menschlicher Freiheit hergestellt. Kunst, die nach Immanuel Kant per se autonom ist und dem „interesselosen Wohlgefallen“ dient, begünstige die Vorstellung von Freiheit und deren Einstudierung. Eine Feststellung, die sich vor der Folie der Aufklärung durchaus politisch verstehen lässt.
Das klassische Kunstverständnis verbindet, gewissermaßen als Teil des Autonomieprogramms, die Kunst mit Schönheit. Angestoßen von den radikalen Avantgardebewegungen entwickelte sich ein Kunstbegriff, der sich um Schönheit wenig schert, der Gattungsgrenzen in alle Richtungen überschreitet und nicht zuletzt Strategien entwickelt, die die Grenze zum politischen zweckorientierten Aktivismus auflösen. Die Kunstautonomie ist mit einer Insel vergleichbar, die von einem Territorium umgeben ist, das von ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen, ökologischen, technologischen, medialen, ideologischen, institutionellen, museologischen Interessen und Kräften bestimmt wird. Sie wirken in die…