Lee Bae
Das Schwarz und die Kultur
Ein Gespräch von Heinz-Norbert JOCKS
Der 1956 im südkoreanischen Cheong-do geborene Künstler Lee Bae, heute in Paris und Seoul lebend, war 34 Jahre alt, als er in einem besetzten Haus in einem zwielichtigen Vorort von Paris arbeitete. Da ihm das Geld für Farbe fehlte, kaufte er an einer Tankstelle einen Sack Holzkohle. In seinem Pariser Atelier erzählt er, dass er „aus einem Ort“ käme, „wo man alles über Schwarz-Weiß weiß“, und dass Koreaner seit etwa 4.000 v. Chr. Tuschestifte aus dem Ruß von Kiefern herstellen. Heute, fern der Heimat, halte er über den Gebrauch der Holzkohle die Verbindung mit seiner Kultur in Korea, wo Holzkohle als reinigend, schützend und als Teil des täglichen Lebens gilt. Jedes Jahr entzündet seine Heimatstadt beim Moon House Burning Festival ein Lagerfeuer aus mit Wunsch zetteln bedeckten Kiefernstämmen. Danach wird die Holzkohle an die Dorfbewohner*innen verteilt. Um Feuchtigkeit und Insekten fernzuhalten, werden traditionelle Häuser auf Holzkohlefundamenten errichtet, und koreanische Familien hängen bei der Geburt eines Kindes Holzkohle über die Tür, um Krankheiten vorzubeugen. In der Kohle fand Lee künstlerische Inspiration, „den Reichtum eines armen Materials“. Hatte er zu Hause hauptsächlich mit Farbe gearbeitet, entdeckte er, dass Kohle eine unendliche Vielfalt an Schwarz tönen enthält und mehr beinhaltet als nur Farbe.
HNJ Warum gingen Sie 1990 nach Paris?
LB Ein Grund war, dass die zeitgenössische Kunstszene in Korea sehr beschränkt war. Es gab kaum Zugang zu Informationen über das, was außerhalb des Landes geschah, aber dennoch eine kleine, sehr aktive, vitale und kreative Community, zudem erste Performances und eine Bewegung parallel zu der Gruppe GUTAI in Japan. Das geschah in den 80er Jahren, zu einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, der den Menschen zwar mehr Komfort brachte. Politisch war es jedoch eine schwierige Zeit unter einer Militärregierung, die jeden Widerstand mit Gewalt unterdrückte und brach. Die einzige Möglichkeit, die man hatte, um sich, sein Denken und Sehen frei und auf Umwegen auszudrücken, war die sich gerade entwickelnde Kunst. Die Szene war noch so klein, dass sich alle Künstler*innen untereinander kannten und miteinander befreundet waren. Zwischen 1970 und 1990 entstanden viele Akademien. Jedes Jahr bewarben sich mindestens 200, wenn nicht sogar 300 Leute, und fast alle wollten Teil der avantgardistischen Bewegung werden, entweder Performances machen oder Installationskünstler*in werden. Ein Problem war, dass es an Materialien und Geschäften mangelte, die Farben verkauften, weshalb wir diese mithilfe von Leinöl und Alkohol selbst fabrizierten. In großen Städten wie Seoul, Busan, Daegu, Gwangju riefen wir Festivals zeitgenössischer Kunst ins Leben. Da wir nicht gegen die Politik agierten, ließ man uns in Ruhe. Bevorzugt wurde die Abstraktion. Als Student gehörte ich keiner Gruppe aktiv an.
Ein weiterer Grund dafür, dass ich Korea verlassen wollte und nach Paris zog, war das Verlangen, meine künstlerische Karriere voranzutreiben, nachdem ich als Lehrer in Seoul tätig war. Nach einer Nacht in New York war ich schockiert über die extreme Ungleichheit in den Stadtvierteln. Durch sehr wohlhabende Viertel wie Manhattan flanierend, landete ich in den von Unsicherheit beherrschten, gefährlichen Straßen von Harlem. In Paris genoss ich es hingegen, auf der Terrasse eines Cafés in Montparnasse im Angesicht einer Balzac-Statue zu sitzen. Mich hier als Dreißigjähriger niederzulassen, war nicht einfach, weil ich darauf nicht vorbereitet war. Alles war so neu, dass die Ankunft hart war, was in mir eine Selbstbefragung bezüglich meiner Herkunft und Wurzeln auslöste. Ich kam Ende der 90er Jahre hierher, zu einer Zeit, als die Berliner Mauer fiel, sich das Tian’anmen-Massaker in Peking und vieles mehr ereignete und viele Künstler*innen aus dem Ausland hierherzogen. Noch kein Französisch sprechend, hatten sie zwar Schwierigkeiten miteinander zu kommunizieren. Trotzdem gelang es ihnen, sich zu verständigen und zu vermischen. Diese spezielle Situation stieß Überlegungen zur Kunst und dazu an, wie ich mich gegenüber Menschen aus anderen Herkunftsländern mit einem anderen kulturellen Hintergrund verständlich machen kann. Nie zuvor damit konfrontiert, war mir diese Vielfalt fremd.
HNJ Wie fanden Sie Ihren Weg zur Kunst?
LB Reiner Zufall brachte mich dorthin. Ursprünglich wollte ich kein Künstler werden. Auf dem Land in einem kleinen, von Bergen umgebenden Dorf geboren, wuchs ich in einer Gegend auf, wo es nichts gab, nicht einmal Strom. Mein Vater war Bauer, der Obstgärten kultivierte und Felder beackerte. Er wünschte sich, dass ich in seine Fußstapfen trete. Als ich acht Jahre alt war, wurde das Dorf endlich mit Strom versorgt, so dass es Radios gab und man nicht nur Nachrichten, sondern auch klassische und Pop-Musik hören konnte und Zugang zur Außenwelt hatte, wodurch meine Neugierde gegenüber allem geweckt wurde, was weit entfernt war.
Die Natur, auch die von mir für meine Arbeit verwendete Kohle, entspringen dem Chaos, das der Mensch weder beherrscht noch zu kontrollieren vermag.
HNJ Die Frage war, wie Sie zur Kunst fanden?
LB Ich besuchte das College, wo mich eines Tages mein Kunstlehrer um ein kleines Aquarell aus meinem Notizbuch bat. Zu meiner größten Überraschung gewann ich den Hauptpreis bei einem nationalen Wettbewerb für junge Talente im Bereich der Zeichnung. Als ich dies meinem Vater erzählte, zeigte er sich darüber verblüfft, dass ich zu malen fähig war. Obwohl ich als Schüler nicht gut genug war, um die Prüfung am Gymnasium zu bestehen, erhielt ich dank des Preises eine Sondergenehmigung und wurde angenommen.
Meine heutigen Bilder sind weder abstrakt noch figurativ. Derartige Festlegungen sind nicht hilfreich.
HNJ Was war das für ein Aquarell?
LB Ein sehr klassisches und figuratives im Stil von Cézanne. Ich mochte es, die Berge mit Blick auf unser Dorf zu besteigen und das Alleinsein. Von dort aus aquarellierte ich das Haus, in dem wir lebten, die Nachbarn und vieles mehr. Das Gymnasium, auf das ich ging, befand sich in der 30 Kilometer von unserem Dorf entfernten Stadt Daegu. Zu der Zeit hatte ich kein großes Selbstvertrauen, aber alle Lehrer waren davon überzeugt, dass ich später, da zeichnerisch begabt, an der Akademie studieren würde.
HNJ Welchen Einfluss auf deine Zeichnungen hatte die Kunst außerhalb Koreas zu dieser Zeit?
LB Ich besaß zwar einen Katalog mit Abbildungen von Cézanne und den Impressionisten, aber ich kann nicht behaupten, sie wären für mich damals wichtig gewesen. Mich begeisterte sein Stil und, weil er wie ich im Freien malte. Später kopierte ich einige seiner Stillleben und Gemälde von der Montagne de Sainte-Victoire und fertigte für die Aufnahmeprüfung an der Akademie in Seoul einige an seine Malerei angelehnte Porträts an.
HNJ Sie benutzen zum Zeichnen Kohlestifte, also Schwarz und Ihre abstrakten Bilder sind in Schwarz. Mir scheint, als gäbe es eine Verbindung zwischen dem Damals und dem Heute trotz des Sprungs von der Figuration zur Abstraktion. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
LB Ja, das stimmt, aber es ist schwierig und die Zeit zu kurz, um alle Schritte zu resümieren. Meine heutigen Bilder sind weder abstrakt noch figurativ. Derartige Festlegungen sind nicht hilfreich. Vielmehr sind meine Bilder das Resultat des zeichnerischen Prozesses und der Reflektion über die Bewegung auf dem Papier.
HNJ Sie kennen die dem Licht huldigenden Bilder des Franzosen Pierre Soulages, der ebenfalls von Schwarz besessen und dessen Denken westlich geprägt war. Ihre Kunst zeugt, obwohl in Paris lebend, vom östlichen Denken.
LB Mein Werk beruht auf Bewegung und einer tiefen, dem Malen vorausgehenden Reflektion und hat seinen Ursprung in der Kalligrafie als eine Form des Denkens über die angehaltene Bewegung. Kalligrafie ist nicht bloß Schrift, sondern sowohl eine das Innere ausdrückende Philosophie als auch eine von Ästhetik und Schönheit zeugende, sich über viele Jahrtausende hinweg weiterentwickelnde, erhabene Kunst, die von allen Gelehrten praktiziert wird. Bereits in ihrer Kindheit werden sie in Kalligraphie ausgebildet. Wenn Sie wissen wollen, wer mich speziell beeinflusst hat, würde ich den unter dem Namen Chusa bekannten Dichter und Kalligraph Kim Jeong-hui (1786–1856) hervorheben, dessen chinesischen Schriftzeichen ich als Nicht-Chinese nicht gut lesen kann, weshalb ich nicht viele seiner Gedichte kenne. Man lernt zwar in Korea die chinesischen Schriftzeichen, aber nicht intensiv genug.
HNJ Was assoziieren Sie mit Bewegung?
LB Die Bewegung in der Kalligrafie ist mehr als nur eine Ansammlung von Schriftzeichen, vielmehr eng mit Schrift verbunden. Jeder, der sich ihrer bedient, drückt mit ihrer Hilfe seine Gefühle, also seine Persönlichkeit, seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse aus. Sie ist von daher ein höchstpersönlicher Ausdruck meines Innenlebens, ein physischer Speicher der Erinnerung und Werkzeug zur Versinnlichung meines Inneren. Das geschieht nicht spontan. Es wird vom Denken bestimmt. Übrigens traue ich meinem Bewusstsein nicht sehr, da dieses Informationen speichert, die man schnell wieder vergisst. Durch das Arbeiten hole ich die Erinnerung aus meinem Körper, der meine Persönlichkeit bewahrt.
HNJ Was markiert den Unterschied zwischen dem Werk von Pierre Soulages und Ihrem?
LB Ich hatte eine Doppelausstellung zum Thema „Schwarz“ mit Pierre Soulages in Hongkong, dessen Werke im Grunde lichtreflektierende Reliefs und Reflektionen zum Licht sind. Meine Werke absorbieren Licht durch die Dunkelheit der Kohle. Der Unterschied zwischen seiner und meiner Kunst besteht darin, dass sich das Licht bei Soulages vor den Werken und bei mir in deren Inneren befindet. Er macht das künstliche oder natürliche Licht sichtbar, während ich das innere Licht nach außen kehre. Eine von mir in seinen frühen Werken entdeckte Gemeinsamkeit ist ihr Bezug zur asiatischen Kalligrafie.
HNJ Sie sprachen von dem Inneren, das Sie nach außen tragen. Darf ich fragen, was dieses Innere beinhaltet?
LB Ich habe eine Angewohnheit: Frühmorgens, wenn ich mit der Arbeit beginne, zeichne ich mit Kohle drauflos, um alle Erinnerungen und Gedanken, die mir in dem Augenblick in den Sinn kommen, zu Papier zu bringen, um mich zu entleeren. Das können Dinge aus der Kindheit oder gestern Erlebtes sein. Das ist mein tägliches Ritual.
[Die Kalligrafie] ist […] ein höchstpersönlicher Ausdruck meines Innenlebens, ein physischer Speicher der Erinnerung und Werkzeug zur Ver sinnlichung meines Inneren.
HNJ Sagt Ihnen der Begriff „Rites de passages“ (Übergangsriten) etwas?
LB Ja, sie sind mir wichtig. Es gibt ein bekanntes Gedicht aus China, das von jemandem handelt, der sich am frühen Morgen mit einem Boot auf dem Weg zu einem Freund macht, den er seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, der, als er angekommen ist, nicht an die Tür klopft und, ohne seinen Freund gesehen zu haben, wieder heimfährt. Die darin enthaltene Botschaft finde ich inspirierend, weil sie von der Wichtigkeit der Kommunikation zwischen der Außen- und Innenwelt handelt und weil ich die Brücke zwischen beiden schlagen möchte. Sie drücken meine innere Energie aus.
HNJ Sie benutzen für Ihre Arbeit die Kohle verschiedenster Bäume, was heißt, dass ihre Werke auch Ausdruck der Natur sind. Als Sohn eines Bauern waren Sie in ihrer Kindheit sehr naturverbunden. Eine Frage, die ich mir immer stelle, lautet: Was lässt einen Menschen Künstler*in werden? Mir scheint, als würden oft Lücken oder Löcher in der Erinnerung, ob bewusst oder unbewusst, jemanden dazu treiben, diese mittels Imagination zu stopfen.
LB Dadurch, dass es in dem Dorf, wo ich aufwuchs, nicht viel gab, war ich neugierig auf mein Inneres. Das Äußere war für mich damals vor allem die Natur. Insbesondere die mich umgebenden Bäume, die für mich die lebensnotwendige Luft zum Atmen repräsentieren. In dem Dorf waren sie die Grundlage für alles, zum Feuermachen ebenso für die Nahrung. Ich lebte mit ihnen und beschnitt die Apfelbäume. Dank meines Vaters verfüge ich über ein großes Wissen, das die Bäume und deren Kultur betrifft. Vor allem ist mir in Erinnerung geblieben, dass ein guter Bauer jemand ist, der in der Lage ist, zuzuhören, was die Erde sagt und braucht. Die Natur, auch die von mir für meine Arbeit verwendete Kohle, entspringen dem Chaos, das der Mensch weder beherrscht noch zu kontrollieren vermag. Insofern ich mit Kohle arbeite, repräsentiere ich mit meinen Werken ein Stück weit auch die Natur.
HNJ Gibt es außer Kalligrafie noch andere Einflüsse?
LB Viele. Als erstes denke ich an den Philosophen Jacques Derrida, für den Kunst das Knüpfen von Beziehungen, ein Beziehungsgeflecht von Innen und Außen ist. Auch mir geht es um das Finden dieser Beziehungen sowie darum, mich hinter dem Unbekannten, mit dem sich Kunst auseinandersetzt, zu finden. Letztendlich hege ich mit meiner Suche nach dem Unbekannten weder die Absicht, dieses zu offenbaren, noch die Erwartung, es ans Licht zu holen.
1956 in Cheong-do, Korea, geboren, erhielt 1981 und 1986 seinen Bachelor of Fine Arts und Master of Fine Arts an der Hongik University. Der Künstler lebt und arbeitet zwischen Paris und Seoul.
EINZELAUSSTELLUNGEN (Auswahl)
2025 Esther Schipper Galerie, Berlin, 2024 Wilmotte Foundation, Venedig, 2021 Indang Museum of Daegu; Union, Phi Foundation, Montreal, 2019 Wilmotte Foundation, Venedig; 2018 Fondation Maeght, Saint-Paul-de-Vence; Paradise Art Space, Incheon; 2016 Musée des Beaux-Arts, Vannes; Domaine de Chaumont-sur-Loire; Suspens, Domaine de Kerguéhennec, Bignan; 2015 Musée national des arts asiatiques – Guimet, Paris.
GRUPPENAUSSTELLUNGEN (Auswahl)
2023 DUI-JIPKI, Esther Schipper, Berlin, Rockefeller Center, New York; Kunsthalle Mannheim, Mannheim; Jordan Schnitzer Museum of Art, Oregon, 2021 Horim Museum, Seoul, 2021 National Museum of Modern and Contemporary Art, Seoul, 2019 Wilmotte Foundation, Venedig, 2016 Gwangju Biennale, Gwangju, Südkorea