Günter Liehr/Jan Thorn-Prikker
Container: Ex Interieur
Bilder vom Wohnen in Amerika
Zu den Bildern von Chauncey Hare
“Man kann keine Ketten zerbrechen, wenn es keine sichtbaren Ketten gibt. Die Haft ist daher als ein ganz gewöhnliches, nicht übertrieben komfortables Alltagsdasein organisiert.”
Franz Kafka1
I. Normalität als Schrecken
Die Bilder des Fotobandes “Interior America” von Chauncey Hare, von denen dieser Aufsatz handelt, sind unscheinbar. Ihnen fehlt in jeder Hinsicht das Auffallende. Man kennt sie aus den alltäglichen Erfahrungen des eigenen Lebens zur Genüge und neigt deshalb dazu, sie zu übersehen. Alles bekannt. Sie sind weder technisch brillant, noch bieten sie augenfällige inhaltliche Anreize. Sie sind nicht einmal bunt.
Genau ihr Mangel aber, ihre Unscheinbarkeit läßt sie wichtig werden. “Interior America”, das sind Innenaufnahmen von Räumen und Menschen zugleich. Anders als die Fotografien, die sich ihrem Gegenstand Amerika vom Extrem her nähern – an die Bilder Weegees oder Jacob Holds sei erinnert – versucht Chauncey Hare die Analyse vom Zentrum der Normalität aus. Statt Kritik am Extrem zu exerzieren, der man sich allemal entziehen kann, setzen seine Bilder an der glatten Oberfläche an, um darin nach Rissen zu suchen.
Schon Siegfried Kracauer hatte gegen eine Methode der Kritik, die versucht der Realität an ihren “extremen Fällen” beizukommen, eingewandt, sie mache es sich mit ihrem Protest zu leicht, kritisiere Auswüchse: “ohne das normale Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit zu ermessen.”2 Und er fährt fort: “Nicht die Konstruktion dieses Daseins selber, sondern einzig und allein einige seiner weithin sichtbaren Ausstrahlungen treiben sie zur Gebärde der Rebellion. Sie greift also nicht eigentlich…