EveryBODY
Körperkunst und Kunstkörper
von Ann-Katrin Günzel
„Der Körper ist der Nullpunkt der Welt, der Ort, an dem Wege und Räume sich kreuzen.“
Unser Körper, dieser Ort, von dem aus wir die Welt wahrnehmen, begleitet uns ein Leben lang – sowohl mit all den Veränderungen, die im Laufe der Zeit durch Alterungsprozesse oder Krankheiten stattfinden, als auch mit all jenen Manipulationen, Konstruktionen und Möglichkeiten der Inszenierung, die wir durch technologische, medizinische und naturwissenschaftliche Entwicklungen haben. Und so ist die Transformation seiner Materialität ein lebenslanger und generationenübergreifender Prozess. Abgesehen davon, dass der Körper bis zur Pubertät durch Zellvermehrung und Hormone wächst, länger, breiter, stärker wird, Geschlechtsorgane, Brüste, Haare wachsen und Muskeln sich durch Bewegung herausbilden – während all das im Alter zum Teil wieder entgegengesetzt verläuft – gestalten, modifizieren und optimieren wir ihn seit Jahrhunderten auch unabhängig von diesen natürlichen Abläufen: wir färben, tätowieren, lackieren, rasieren, frisieren und trainieren, piercen, vermessen, verschönern und inszenieren ihn. Mit zunehmenden Möglichkeiten nehmen wir auch immer mehr existenziellere Eingriffe und Veränderungen vor, wir verkleinern oder vergrößern Körperteile operativ, addieren und amputieren, setzen Implantate und Prothesen ein. Wir gestalten unser eigenes Körperbild und unsere biologische Identität und haben damit (scheinbar) eine grenzenlose Freiheit erlangt.[03+04]
Es gibt wohl kaum etwas, das derzeit so im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht, wie das Bild von unserem Körper. Und das obwohl – oder gerade weil – wir ihn mit zunehmender Digitalisierung auch immer mehr zum Verschwinden bringen, und durch unterschiedliche Prothesen und Hilfsmittel ersetzen. Benutzte man früher einfache Hilfsinstrumente zur Optimierung sensorischer Fähigkeiten (wie z. B. Brillen, die bereits seit dem 15.Jhd. zum Einsatz kommen), so geht es heute um die Perfektionierung des Körpers. Gleichzeitig brauchen wir ihn aber immer weniger, da originär physische Fähigkeiten wie Bewegung, Denken und Orientierung nicht selten entweder von Maschinen übernommen werden oder auf kalkulierte Nutzung in ökonomisierten Bereichen begrenzt sind, was überdeutlich wird, wenn wir z. B. den Weg ins Fitnessstudio motorisiert zurücklegen. Wir setzen unsere Füße auch nicht mehr häufig zur Erkundung der Welt ein, was wiederum daran liegen mag, dass das dazu notwendige Navigationssystem als Kognitionsleistung in unserem Gehirn immer mehr verkümmert, seit Social-Media und Google Maps uns die Richtung und den Weg vorgeben und unsere Augen folglich am Smartphone kleben, statt den Blick schweifen zu lassen. Ein reziprokes Wirken von Handlungen hat eingesetzt, der elektronische Ersatz wird zunehmend zur Notwendigkeit und die körperliche Aktivität immer mehr zum Selbstzweck. Auf diese Weise ist der Körper ein Ausdrucksmittel für Disziplin und Leistung geworden und lässt sich im digitalen Bild zwar (zurechtretuschiert) zum Zeugnis unseres kostbarsten Besitzes hochladen, damit ist die vermeintliche Freiheit aber auch direkt wieder eingeschränkt, denn er wird zum bedrückenden Synonym von Erfolg und Kompetenz, wenn nicht gar zu unserem Kapital – ohne, dass hier viel mit der Körperrealität übereinstimmen muss.
Der Körper wird zum bedrückenden Synonym von Erfolg und Kompetenz, wenn nicht gar zu unserem Kapital – ohne, dass hier viel mit der Körperrealität übereinstimmen muss.
Die Frage, wo an den Schnittstellen von Auflösung und Neuerschaffung, von Grenzen und Möglichkeiten, zwischen Körperkunst und Kunstkörper Positionen in der Gegenwartskunst auftreten, die diesen Zustand reflektieren, ist gerade in einer Zeit, in der uns Bilder voller inszenierter Ideale, Idole und Influencer*innen im Alltag vollkommen beliebig und kritiklos überfluten, von zunehmender Bedeutung.
30 Jahre nach den beiden Ausgaben von KUNSTFORUM International zum Körperdiskurs und zur Zukunft der Körper,1 in denen das Aufkommen damals noch ganz neuer Technologien bedeutend war, weil sie das Verständnis vom Körper veränderten und so der Fokus auf Mensch-Maschinen-Körpern lag, haben sich post-humane und digitale Körpervorstellungen ebenso weiterentwickelt und in ihrer Bedeutung verschoben, wie die Vorstellungen vom idealen Körper. Vor allem hat ein intensiver, sich damals erst abzeichnender Körperkult von unseren biologischen Leibern Besitz ergriffen, welcher der Auflösung ins Digitale entgegentritt. Die Frage nach der Zukunft der Körper soll daher hier, im Zuge einer Neubewertung, in die nach dem aktuellen Zustand unserer Körper umformuliert und jene, ob der Leib nicht ein nostal gisches Objekt und der biologische Körper somit obsolet sei, dabei entschieden verneint werden. Unter Einbeziehung aktueller gesellschaftlicher Debatten und künstlerischer Auseinandersetzungen mit Körpern in der Gegenwartskunst entpuppt sich das, was Foucault 1966 in dem eingangs zitierten Radiovortrag Der utopische Körper als den Nullpunkt bezeichnet hat, von großer Aktualität: der Körper „ist der kleine utopische Kern im Mittelpunkt der Welt, von dem ich ausgehe, von dem ich träume, spreche, fantasiere.“2
Der Körper in der Kunst / Geschichte
Die Faszination für den Körper besteht schon seit Jahrtausenden. Bereits prä-historische Körperdarstellungen aus dem Jungpaläolithikum, die uns heute noch beeindrucken, wie die Venus von Willendorf (Wien) oder die Venus von Laussel,³[05+06] zeigen nackte Frauenkörper mit breiten Hüften und großen Brüsten. Die Gesichter sind nicht (mehr) erkennbar, es ist aber davon auszugehen, dass sie keine Portraits, sondern Sinnbilder für Fülle und Fruchtbarkeit waren. Zahlreiche solcher Körperdarstellungen, die schon in vorantiker Zeit als Grabbeigaben, Gefäße oder angebetete Gottheiten entstanden, waren Verkörperungen von Stand, Stärke, Fruchtbarkeit oder Kräften, die der Bannung des Bösen dienten. In diesem Sinne waren es Gebrauchs- keine Kunstwerke und sie versinnbildlichen weniger ideale als vielmehr funktionelle Körperformen, die symbolisch für kulturelle oder rituelle Handlungen benutzt wurden. Gerade dadurch demonstrieren sie, welche Kraft von einer Körperdarstellung ausgehen kann. Auch in der Antike mit dem Entstehen der Heroen galt: je schöner sie waren, umso mächtiger. So zumindest suggeriert es der moderne Blick auf die Antike, der das Bild eines idealen Körpers hier verortet, welcher heute noch Vor-Bild für perfekte Proportionen ist [02+03], wobei er sich auf ein archaisches und klassisches „Griechenland [bezieht], als jene Zeit, in der in Philosophie, Medizin und Kunst Körperkonzepte entwickelt wurden, auf die spätere Epochen immer wieder zurückgreifen.“4 Für diese in der modernen Sicht entstandene Idealgestalt eignet sich die Betonung des nackten Körpers besonders gut, um daran gängige Schönheitskonzepte zu demonstrieren.
Während wir die Gestalt des Körpers inzwischen in hohem Maße verändern und nach unserem jeweiligen Sinn optimieren können, bleiben seine biologische Materialität und Schwerkraft allerdings grundsätzlich noch immer bestehen.
Auch wenn dieser Blick heute wieder aktuell ist, er veränderte sich im Mittelalter erst einmal radikal zugunsten eines damals ganz dem Göttlichen unterworfenen Menschenbildes. Der Körper war nun Ausdruck irdischer Schwere, voll des Leides und der Plagen, die es zu überwinden galt. Während Gott selbst jeder bildlichen Wiedergabe entzogen wurde und auch nach wie vor als körperlos gilt, ist sein Sohn als irdischer Vertreter Motiv unzähliger Darstellungen. Vor allem das Bild seines gekreuzigten Leibes wurde zum Symbol des körperlichen Leidens, zugleich allerdings auch der Hingabe. Nach seinem Tod stieg dieser Leib in den Himmel auf, negierte damit jede irdische Körperhaftigkeit und erreichte das ewige Ziel der Menschheit: die Überwindung von Schwäche und Schmerz, Alter und Vergänglichkeit.5
Während der Himmel am Tag der Erlösung auch den Leibern der Gläubigen offenzustehen verspricht, müssen die Menschen zu Lebzeiten seit dem Sündenfall Krankheiten und Gebrechen aushalten. Die Heiligen versprechen bei körperlichen Beschwerden aber unter Umständen Hilfe. Sie stehen stellvertretend mit ihren malträtierten Körpern für einen unerschütterlichen Glauben, der allzu Irdisches ablehnt, um Erlösung zu finden – weswegen von ihnen heilsame Kräfte ausgehen. [07] Durch die Qualen, die sie durchmachten, wurden sie zu einem wichtigen bildhaften Anschauungsmaterial für die Gläubigen, denen ihr Martyrium als Vorbild diente und für die ihre körperlichen Einzelteile als Reliquien sichtbar und zum Teil sogar weiterhin berührbar bleiben. Der ganze Körper aber auch Fragmente der geschundenen Heiligenkörper, einzelne Knochen sowie Haare, Blutstropfen oder sogar das Herz,6 konnten Grundsteine zu Kirchengründungen oder Teile von Reliquiensammlungen, Wirtschaftsgüter und Pilgerziele werden. [08] Heute finden sie sich noch immer in zahlreichen Kirchen(schätzen), doch auch in die Museen haben einzelne Körperteile mit religiösen Bezügen Einzug gehalten. So werden z. B. im Werk des amerikanischen Künstlers Robert Gober (*1954) die Vorstellungwelt und Bilder des Katholizismus reflektiert, indem er realistische, aus Wachs geformte Körperfragmente im Raum verteilt – mal schaut ein Bein aus einer Wand [09] mal liegt ein Brustkorb in einem Plastikbehälter – der Ursprung seiner Referenzen auf die fragmentierten Körper der Heiligen liegt in der strengkatholischen Erziehung Gobers, der in der Auseinandersetzung mit dem Körper selbst auf dessen Inszenierung und auf die theatralische Präsentation der Geheimnisse des Lebens in der katholischen Kirche verweist.7
Bis zum heutigen Tag sind „heilige“ Körperteile Ziele von Wallfahrten und Kirchenfesten und der im Himmel aufgestiegene Leib Christi wird sogar regelmäßig in der Hostie des Abendmahls durch die Transsubstantiation zurückverwandelt und von den Leibern der katholischen Gläubigen aufgenommen.8 Die Erweiterung und Fortführung einer derartigen Faszination für solch wundersame und transzendente Bezüge zum Leib existiert heute in der Verherrlichung der Körper von Film- oder Popstars weiter, die für ihre Anhänger*innen ebenfalls große Wirkkräfte entfalten können. So erfährt der kanadische Sänger Justin Bieber z. B. eine geradezu kultische Verehrung. Bieber (*1994), der als Popstar auch seinen starken christlichen Glauben an seine Gemeinde (derzeit 295 Millionen „Beliebers“ auf Instagram) weitergibt, inszeniert sich dabei selbst im permanenten Optimierungszustand gekonnt als eine Art Messias, der, wenn man seinen Jünger*innen Glauben schenkt, ebenfalls heilsbringend sein kann. Auf diese Weise ist er ein wahrhaft gewinnbringendes Markenprodukt des globalen Kapitalismus geworden. Seine eigene angeblich dokumentarische Serienproduktion (Seasons), die seine Glorie und den Weg dorthin verbreitet, erscheint wie ein persönlicher Freskenzyklus: er ist eine Ikone. Der amerikanische Künstler Paul Pfeiffer (*1966) hat diese Ikonenhaftigkeit Biebers aufgegriffen und in seinem Werk Incarnator (2021) umgesetzt, Skulpturen, die den Körper des Sängers naturgetreu wiedergeben. Er hat das Image Biebers gemeinsam mit einem Andachtsbildner als einen verehrten Körper inkarniert [11], d. h. sie haben ihn lebensecht nachgebildet – mit all den Tattoos, die Bieber auf der Haut trägt und die zum nicht geringen Teil aus religiöser Symbolik bestehen, inkl. des großflächigen Schriftzuges „Son of God“ auf dem Bauch.9 Wenn Pfeiffer diesen Leib Biebers im Anschluss in seinen Einzelteilen (als Auferstehenden) präsentiert, dann zeigt er damit eine wahre Inkarnation des Pop-Star-Images und führt vor, wie absurd und gleichzeitig uralt ein solcher Körpermythos sein kann.
Diese Fokussierung auf den Menschen als Mittelpunkt und selbstbewusste*n Gestalter*in des eigenen Leibes erfolgte allerdings erst nach dem Mittelalter mit dem Humanismus – bis dahin galt grundsätzlich die nicht-Darstellbarkeit Gottes und eine der Größe des Kosmos unterstellte Unkörperlichkeit aller himmlischen Protagonisten sowie das symbolische Bild des irdischen Körpers als Träger von Todsünden. Erst mit der Renaissance und der Überwindung der rein kosmologischen Weltordnung wurde es wichtiger, welches „Bild“ der / die einzelne von sich abgab, woraufhin sich ein inneres Selbstbild und ein äußeres Fremd-Bild stabilisierten.10 Mit den nun erfolgenden Rück-Bezügen auf die Antike und der „Erfindung“ der Zentralperspektive lösten sich die Körper vom Hintergrund, konnten sich frei und ungebunden im Raum bewegen, wurden individuell und realistisch dargestellt und bekamen selbst „Gewicht“. Ein regelrechter Körperkult, der Proportionen, Idealvorstellungen und Maße setzte ein, den Leonardo da Vinci zur Perfektion geführt hat und der in den muskulösen Körperwerken von Michelangelo einen Höhepunkt fand. Diese außerordentlich Präsenz von Leiblichkeit setzte sich im Barock fort. Maler wie Peter Paul Rubens oder Jakob Jordaens bannten mächtige, überdimensionale Körper auf die Leinwand. Das gesteigerte Interesse am Körper zeigte sich aber noch in einer anderen Hinsicht, da er jetzt zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wurde – Rembrandts Die Anatomielektion von Professor Tulp (1632) veranschaulicht das beispielhaft1 [10] Man sieht eine Laborsituation, das Interesse von Wissenschaftlern / Medizinern am menschlichen Körper – Gottes Schöpfung wird sprichwörtlich auseinandergenommen. Der Wille nach Erkenntnis, der kulturgeschichtlich zu Beginn der biblischen Schöpfung die Körper von Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben und ihnen das physische Empfinden von Schmerz und Scham auferlegt hatte, manifestiert sich nun endgültig in der Aneignung der Herrschaft über den Körper. Hier beginnen in der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft Experimente, Untersuchungen und Erkenntnisse den Körper zu examinieren und zu sezieren. Dieser akademische Forscher-Blick auf den Körper steht in den Diensten des menschlichen Fortschritts und bedeutete zugleich den Anfang von Kontrolle, Macht und Herrschaft.
Der Körper in Moderne und Gegenwartskunst
Mit dem Aufkommen neuer wissenschaftlicher Ergebnisse in Psychologie, Medizin, Natur- und Neurowissenschaften, veränderten sich die Perspektiven auf den menschlichen Körper am Anfang des 20. Jahrhunderts nochmal. Mit Sigmund Freuds Forschung entstand in den 1920er Jahren ein Konzept vom Körper, das ihn als den Ort sieht, von dem innere und äußere Wahrnehmung ausgehen und das ihn als „Ich“-konstituierend herausstellte. Seine Untersuchungen zum Unbewussten und zur Wahrnehmung machten das Körperbewusstsein und die körperliche Verletzlichkeit sowie den Schmerz zu Themen auch in der Kunst. Tod, Gewalt(erfahrungen) und Sexualität traten als direkte Ausdrucksformen auf und es entwickelte sich im Surrealismus eine künstlerische Bildsprache, die direkte Bezüge auf Freuds Erkenntnisse des Unterbewussten und der Träume sichtbar machte. Einflüsse anderer Kulturen, die vor allem durch anthropologische Forschungsergebnisse Eingang in die Kunst fanden, wurden ebenso wichtig für Künstler*innen, wie das Konzept des französischen Philosophen Henri Bergson hinsichtlich einer neuen Zeiterfahrung, die den Moment in verschiedene gleichzeitig stattfindende Geschehnisse zerlegte, welche Diskontinuität und Brüche bedeutete. Avantgarde-Strömungen wie Futurismus und Kubismus thematisierten das in der Fragmentierung des menschlichen Körpers: Zerbrochene, zersplitterte Körperteile schoben sich in Skulptur, Malerei und Collage, um sich überlagernde Eindrücke und Gefühle, die auf den Körper eindringen, zu verdeutlichen. Die Entwicklung neuer Transportmittel, wie Autos, Flugzeuge und Eisenbahnen ermöglichten dem Körper zudem erstmals die Teilnahme an Geschehnissen in weit entlegenen Ländern und an bisher unerreichbaren Orten. Modernste Kommunikationsmittel wie Telefon und überregionale Tageszeitungen teilten Ereignisse mit, die man vielleicht nie zu Gesicht bekommen würde, so dass der Körper, der mit seiner Präsenz bis dato immer Garant für das Stattfinden der Begebenheiten und damit auch das Zentrum der eigenen, körperlichen Orientierung im Weltgeschehen war, erstmals nebensächlich wurde. In dieser Zeit trafen die Begeisterung für die Industrialisierung und die zunehmende Geschwindigkeit des Alltags, die sich in der Kunst experimentell spiegelte, auf die traumatischen Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges, mit der die schnell vergängliche Existenz des Körpers und seine Verwundbarkeit zum Thema wurden. Diese Ambivalenz drückt sich aus, indem der technisierte Maschinen-Körper in avantgardistischen Bewegungen wie dem Futurismus oder in Filmen wie Metropolis (1927) von Fritz Lang zwar als gut funktionierender, betörender Maschinenmensch besungen wurde, dennoch stellte die Technik auch hier als Antithese erweiternd das Andere oder das Inhumane dar und, wie Rosi Braidotti treffend formuliert: „Sie [die Technik] machte auch die Grausamkeit zum hervorstechenden Element des Narrativs von Wachstum und Fortschritt, bereits in dem Bewusstsein, dass diese neuen Technologien den menschlichen Körper durch neue Formen gewollter oder ungewollter Nähe verändern müssen.“12
Die Errungenschaften der Moderne hatten sich mit den beiden großen Weltkriegen plötzlich janusköpfig gezeigt, indem sie dem Menschen nicht mehr nur halfen, sondern ihn auch zerstörten. Die von Gasmasken bedeckten Gesichter in Otto Dix’ Mappenwerk Der Krieg schildern das Dilemma deutlich: Das Überleben des Körpers ist an diese Hilfsmittel gekoppelt und erschafft Menschen, die nicht mehr als solche zu erkennen sind, sondern bereits Zwitterwesen zwischen Mensch und Maschine darstellen. Der Körper verschwindet dahinter.
Die Grenzen des Körpers
Gleichzeitig war das aber der Beginn von deutlichen Körper-Modifikationen und dem Erschließen neuer Möglichkeiten, denn die Kriege waren auch Katalysatoren für medizinische Innovationen. Das Ersetzen von Gliedmaßen, Nasen oder ganzen Gesichtspartien, die im Krieg zerstört und verlorengegangen waren, erforderte eine solche Entwicklung, die seitdem stetig fortgesetzt und in die Schönheitschirurgie weitergehend überführt wurde. Während wir die Gestalt des Körpers mit ihrer Hilfe inzwischen in hohem Maße verändern und nach unserem jeweiligen Sinn optimieren können, bleiben seine biologische Materialität und Schwerkraft allerdings grundsätzlich noch immer bestehen. Und so scheitern wir trotz zahlreicher Versuche auch heute noch wie einst Ikarus am Flugversuch. Weder das Universalgenie Leonardo da Vinci vermochte Anfang des 16. Jahrhunderts eine wirklich brauchbare Flügelkonstruktion für den menschlichen Körper zu entwerfen noch gelang es den Futuristen 500 Jahre später, allen manifestierten Behauptungen zum Trotz, die Flügel des Maschinenmenschen erfolgreich zum Einsatz zu bringen.13
In den 1960er und 70er Jahren hat die Performance- und Objektkünstlerin Rebecca Horn (1944 – 2024) als Körpererweiterung und Infragestellen biologisch gesetzter Grenzen riesige weiße Fächer als Flügel an ihren Körper gesetzt, die mit Körperenergie in Bewegung gebracht wurden. Sie demonstrierte damit die uralte und ungebrochene Faszination des Menschen für die Möglichkeiten fliegender Wesen [12]. Auch in einer Vielzahl anderer Arbeiten hat sie ihre Faszination für Körpermaschinen umgesetzt, vor allem in ihrem frühen Werk und durch den performativen Einsatz des eigenen Körpers. Später haben mechanische Akteure ihre Maschinen in Gang gesetzt, Ballettschuhe zum Tanzen, Hände zum Malen sowie Handschuhfinger zum Ertasten gebracht. Welche Bedeutung maschinelle Körperfunktionsweiterungen für das Überleben haben können, hat uns erst kürzlich die Corona-Pandemie vor Augen geführt, in der bei vielen Menschen das Atmen als eine ganz elementare, lebenserhaltende Körperfunktion unterstützt werden musste.
Normiert definierte Schönheit kann zu Zwang, Notwendigkeit oder gar zur Überlebensstrategie werden, weswegen das Erscheinungs bild des Körpers weit davon entfernt ist, beiläufig zu sein.
Lynn Hershman Leeson (*1941), die sich intensiv mit den Auswirkungen der Technologie auf den menschlichen Körper beschäftigt, hat bereits in ihren frühen Sound-Skulpturen, den Breathing Machines, [13] ihr Interesse an Technologie und Wissenschaft, das ihr im Zusammenhang mit dem Körper als Möglichkeit des Zusammenfügens neuer hybrider Wesen erschien, mit der Erfahrung medizinischer Eingriffe am eigenen Körper kombiniert. Mitte der 1960er Jahre hatte sie, nachdem eine ihrer Herzklappen kollabierte einige Wochen in einem Sauerstoffzelt verbracht. Danach achtete sie aufmerksam auf das Geräusch ihrer eigenen Atmung und fertigte Selbstportraits aus Wachsabgüssen an, stattete sie mit Haaren aus und fügte Tonbänder mit ihren Atemgeräuschen hinzu. Diese damals (zu) revolutionären Skulpturen¹4 sind noch immer von großer Aktualität, nicht nur, weil die maschinelle Unterstützung des Körpers durch Corona eine neue Aufmerksamkeit erfahren hat, Hershman Leeson hat auch sehr früh bereits unsere Körper als Zusammenspiel von Informationen reflektiert und erkannt, dass wir nicht nur die Technologie produzieren, sondern diese auch uns.
Die Transformationsprozesse zwischen erweiterten Körpern und animierten Maschinen, weisen auf unser generelles Bestreben hin, eigene Un-Fähigkeiten zu optimieren, künstlich zu ergänzen oder gar zu ersetzen. Wünsche und Hoffnungen, den Körper zu überwinden oder zumindest partiell zu überlisten fließen in die künstlerischen Vorstellungen von Maschinenmenschen, Robotern oder Hybriden ebenso ein, wie Befürchtungen und Ängste, dass er nutzlos und ersetzt werden könnte, indem die Technologie (zu) eigenständig wird. Das trifft beispielsweise auf Tony Ourslers unheimliche, psychotische Technikwesen der 1990er Jahre zu, den Dummies, die keinen Bezug mehr zu sich selbst haben und ihre Körper auf dem Weg in die Technisierung tatsächlich verloren haben [14]. Auch Jordan Wolfsons Roboterfrau Female Figure (2014), mit einem Negligé und kniehohen Stiefeln bekleidet, weiß nicht so genau wo sie hingehört. Sie spricht als hypersexualisierte Frau, erwidert unseren Blick und wirkt, obwohl ihr Bewegungsradius durch eine Befestigung am Spiegel, vor dem sie steht, komplett eingeschränkt ist, bedrohlich und verstörend. Jos de Gruyter & Harald Thys’ mechanisch betriebene Ganzkörperpuppen hingegen spiegeln die monotone Gleichförmigkeit maschinell angetriebener Handlungen und zeigen damit, wie stumpf das Zusammenspiel von Mensch und Maschine sein kann.
Die Transformationsprozesse zwischen erweiterten Körpern und animierten Maschinen, weisen auf unser generelles Bestreben hin, eigene Un-Fähigkeiten zu optimieren, künstlich zu ergänzen oder gar zu ersetzen.
All diese Maschinenkörper sind Prothesenwesen. Sie weisen Störungen auf, die sie selber nicht beheben können und ergänzen oder ersetzen die physischen Leerstellen und Mängel, für die sie gemacht sind, nur notdürftig. Sie optimieren den Körper daher auch nur eingeschränkt und machen uns keinesfalls zu perfekten Geschöpfen. Einige körperliche Fähigkeiten, die Tiere besitzen, wie Fliegen oder Winterschlaf, bleiben uns Menschen weiterhin verwehrt. Wir werden mit unseren menschlichen Körpern nie ohne maschinelle Hilfe die Geschwindigkeit eines Falken in der Luft oder Geparden an Land erreichen und wir sind auch (noch) nicht unsterblich – obwohl wir fast alles andere scheinbar schon sehr gut im Griff haben. Wir können dem Tauben zum Hören und der Blinden zum Sehen verhelfen, wie es früher nur in der Bibel möglich war, wir können ein biologisch vorgegebenes Geschlecht austauschen, Gliedmaßen und Organe ersetzen oder einfach nur Falten weg und Lippen hinzuspritzen. Der Schönheitsindustrie geht es dementsprechend gut. Dank einer weltweiten Schwemme selbsternannter Influencer*innen vermarkten sich Beauty-Produkte jährlich in mehrfacher Milliardenhöhe.15 Mehr als 33 Mio. Schönheits-OPs wurden 2022 weltweit durchgeführt. Während 57,5 % der Operierten damit einen „Makel“ reduzieren wollen, sind es 37,9 %, die ihren Selbstwert aufpolieren und 21,7 % wollen ihrem eignen Schönheitsideal entsprechen. Nur 12 % lassen tatsächlich aus gesundheitlichen Gründen ihren Körper operieren.16 Welches Schönheitsideal dabei verfolgt wird, ändert sich jeweils mit dem Erfolg, den Produkten und Bildern von gerade geltenden Standard-Beautys. Der Körper wird durch sie zur Projektionsfläche unserer Wünsche und Ziele, zur fixierten Idee, einem Bild, das mit Hilfe von Anti-Aging-Produkten und Botox ewig jugendlich gehalten werden soll – ein Horror, der in dem Film The Substance (2024) in seiner ganzen Brutalität auf den Punkt gebracht wird. Insbesondere auf verschiedenen Social-Media-Kanälen, auf denen sich vor allem die jungen Nutzer*innen im Durchschnitt ca. 5.000 Bilder pro Woche ansehen, werden unablässig Körper präsentiert, kommentiert, bewundert und beleidigt.17 Das Ziel ist hier immer dasselbe: der perfekte Body. Die psychischen Folgen entstehen durch den Druck, der über die medialen Bilder erzeugt wird: er bringt zunehmend Ängste, Unzufriedenheit oder gar Selbsthass, Minderwertigkeitskomplexe, Essstörungen und eine Vielzahl anderer ungesunder und gefährlicher Extreme bezüglich Ernährung, Fitness sowie den daraus hervorgehenden (gefilterten) Schönheitsidealen und der dazugehörigen Maßnahmen hervor – auch wenn vordergründig das Gegenteil vorgespiegelt wird und Hashtags mit #bodypositivity dazugehören.
Dass der Anteil an Frauen bei Schönheitsoperationen bei knapp 85 % liegt, dürfte daran liegen, dass das Schönheitsideal des weiblichen Körpers bereits seit Jahrhunderten in einem patriarchalen gesellschaftlichen System durch die Dominanz des männlichen Blicks geformt wird. Dabei ist ein heteronormatives, weißes Ideal herausgekommen, das weder behindert noch krank sein darf, nicht dick oder alt, sondern jung, fit und makellos sein muss. Dieses Idealbildes bedienen sich im globalen Kapitalismus die Konzerne, indem sie „mit immer neu entdeckten ‚Makeln‘ immer größere Profite machen und besonders Frauen mit Schönheitsdruck unter Kontrolle gehalten werden […].“18 Denn das Äußere von Frauen wird auch aktuell in Zeiten sog. „popfeministischer Body-Positivity“19 immer und überall thematisiert. Normiert definierte Schönheit kann dadurch zu Zwang, Notwendigkeit oder gar zur Überlebensstrategie werden, weswegen das Erscheinungsbild des Körpers weit davon entfernt ist, beiläufig zu sein. Es wird sogar sehr existentiell, wenn Attraktivität an Gewicht, Proportionen, Hautfarbe, Körperbehaarung oder Fitness gemessen und die richtige Kombination davon Voraussetzung für einen Arbeitsplatz und soziale Anerkennung wird. Mit welcher Macht gesellschaftspolitische Kräfte auf den weiblichen Körper einwirken, ihn einschnüren und kontrollieren können, wird z. B. in den Bodies von der französisch-ägyptischen Künstlerin Hoda Tawakol (*1968) [17] deutlich, die gleichzeitig auch eine starke, widerständige Präsenz der Ermächtigung aufweisen.
Auch die spanische Künstlerin Belén Sánchez (*1972) erzählt mit ihrem eigenen Körper seit langer Zeit schon Geschichten von Aggression und Heilung und fertigt dazu u. a. große, raue Figuren an, deren Oberflächen Nähte, Schnitte und physische Verletzungen demonstrieren. [15] Die Tatsache, dass Frauen in der Kunst durch den male gaze zum überwiegenden Teil auf ihre Körper reduziert wurden und werden und ihnen als „Objekte der Begierde“ ihr Platz in der Kunst / Geschichte zugewiesen wird, ist lange bekannt.
VALIE EXPORT hat bereits 1968 mit dem Tapp- und Tastkino, dem „ersten direkten Frauenfilm“ darauf hingewiesen, dass die Kunst von Männerphantasien dominiert wird, die den Frauenkörper für verfügbar halten [16], die Guerilla Girls bringen diese diskriminierende Geschlechter-Ungleichheit seit Mitte der 1980er Jahre treffend auf den Punkt, indem sie die Frauenbilder im Kunstbetrieb ironisch als Geschichte von Nacktmodellen bloßstellen und die französische Performancekünstlerin ORLAN (*1947) hat Ende der 1980er Jahre unter der Bezeichnung „carnal art“ begonnen, ihren eigenen Körper mit Hilfe ästhetischer Chirurgie verändern zu lassen. Im Laufe der Jahre hat sie sich mehreren Operationen unterzogen, um gesellschaftliche Normen und Schönheitsideale zu hinterfragen bzw. kritisch darauf hinzuweisen, dass mit den zunehmenden technologischen Möglichkeiten der vorgegebene Standard eines „schön“ genannten weiblichen Körpers durchaus verändert werden kann und jede Frau ein Recht auf die freie Gestaltung des eigenen Körpers und damit auf ein eigenes Selbstportrait habe. In der Réincarnation de Sainte-ORLAN, der 7. Operations-Performance, die am 21. November 1993 in New York stattfand, [18] hat die Künstlerin sich als Kritik an der Macht der Schönheitsindustrie Silikonimplantate in die Stirn einpflanzen lassen – sie wollte damit nicht schöner, sondern monströser werden, um sichtbar zu machen, dass Schönheit ein Diktat der herrschenden Ideologie eines geografischen und historischen Momentes ist. In der Kreation immer neuer Körperbilder erschafft die Künstlerin bis heute zahlreiche Facetten ihrer eigenen Identität und nimmt dabei in Selbsthybridisierungen gesellschafts-politische Themen auf, wobei die Demontage standardisierter Ideale weiblicher Körper im Fokus steht.
Auch die Performance Künstlerin Sophia Süßmilch (*1983) setzt ihren eigenen Körper widerständig ein, um stereotype Bilder von Weiblichkeit zu dekonstruieren und zeigt, wie unrealistisch neoliberale Körperideale sind und in welcher Weise sie diskriminierende Blicke auf den weiblichen Körper richten, dabei mit Ekel und Scham operierend, sobald der nicht-normschöne Körper auftritt. [21] (siehe dazu auch das Interview in diesem Band S. 94)
Wie skulpturale Makellosigkeit weiblicher Körper international auf den Laufstegen der Haute Couture auf die Spitze getrieben wird, spiegelt die italienische Performancekünstlerin Vanessa Beecroft (*1969) in ihrem Werk. Die eiserne Disziplin der Models und die reglose Strenge, die in der unwirklichen Perfektion ihrer Körper liegt, sind Teil eines uniformen, geradezu unmenschlichen Schönheitssystems, das gleichzeitig die Angst und die zunehmende Unsicherheit in ihren Blicken verantwortet, welche überdeutlich zeigen, dass dieser Zustand kaum erträglich ist und unter welcher Anstrengung ein solches Ideal aufrechterhalten wird. Die Gruppenbilder, die Beecroft erschafft, [23] stellen den schönen, vollkommenen Schein einer vordergründig glamourösen Welt an den Anfang der Choreografie, der jedoch langsam, aber sicher in sich zusammensackt. Schminke verläuft und Füße werden in den hohen Schuhen vom langen Stehen müde, so dass die Schutzlosigkeit der nackten Körper schließlich zur Entblößung führt [22], Eleganz und Anmut mit dem Voranschreiten der Zeit zerfallen. Mit der langsamen Auflösung des perfekten Bildes erhalten die Frauen aber auch ihre Schönheit als Individuen zurück, welche nicht mehr dem makellosen Anblick, sondern einer persönlichen Präsenz entspricht.
Diese Gegenwärtigkeit des ungeschönten Körpers ist auch Thema der neusten Werkserie Candid (2024) der Künstlerin Louisa Clement (*1987). Sie beschäftigt sich darin mit dem eigenen Körper so wie er ist und normalerweise nicht öffentlich präsentiert wird: offen, authentisch, mit ganz normalen Unebenheiten, Faltungen und Flecken, ungeschminkt und schonungslos. [1, 20] Ein Körper, wie er uns täglich im Spiegel begegnet, bevor wir uns daran machen, ihn zu verschönern. Dem voraus ging die Beschäftigung der Künstlerin mit dem Körper in unserer digitalen (Bild-)Welt, mit Verwandlungen, Vervielfältigungen und Neuschöpfungen, die aus der Auseinandersetzung mit technologischen Entwicklungen als transformierte neue Körper entstehen. So hat sie in ihrer Werkserie Representatives (2021 / 22) menschliche Puppen geschaffen, die sie mit ihrem Aussehen und einer aus ihren biografischen Daten bestehenden KI ausgestattet hat [19]. Auf diese Weise entwickelten sich aus der Frage nach der Bedeutung und Konstitution von Identität die Repräsentantinnen ihrer Selbst, mit denen die Besucher*innen sich unterhalten können, die aber einen Mangel an menschlichen Stärken aufweisen: an Empathie, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit.
Wenn der natürliche Körper aber keine Akzeptanz mehr erfährt, dann muss man sich unweigerlich fragen, wie krank das System ist, das solche Sichtweisen her vorgebracht hat.
Ebenso wie Beecrofts Protagonistinnen langsam ihre Wirklichkeit hinter der Fassade freilegen, zeigt Clement als Gegenpart zu den Representatives in den Candid-Ansichten ihren eigenen Körper in seinem ungefilterten, lebendigen, menschlichen Dasein. Diese Körper entsprechen dann nicht mehr dem gesellschaftlichen Bild und werden daher nicht mehr als „schön“ bezeichnet. Wenn der natürliche Körper aber keine Akzeptanz mehr erfährt, dann muss man sich unweigerlich fragen, wie krank das System ist, das solche Sichtweisen hervorgebracht hat. Und wie man ihm begegnen kann.
Auf groteskkomische Weise setzt Leila Hekmat (*1981) sich mit den starren konventionellen Erwartungen an Frauen in unserer Gesellschaft auseinander, indem sie Zuschreibungen von Gender und Sexualität in schrillen und trotzdem sehr berührenden Bildern unterwandert. Ihre Performance Symptom Recital: Music for Wild Angels, als Krankenhausszenerie in Berlin im Haus am Waldsee inszeniert, um Krankheit als fortwährenden Zustand des Körpers hervorzuheben, stellt gleichzeitig tiefergehende Fragen nach der feministischen Selbstfindung. [26] Denn das Hospital ist für eine Krankheit bestimmt, die keine Behandlung nötig hat, es ist für die „uncurable experience of being female“ ins Leben gerufen worden: hier wird lediglich gestärkt und es ist klar, dass hier auch die Hysterie-Zuweisung von revolutionären, ungewöhnlichen oder schrägen Gedanken als patriarchale Dominanz entlarvt wird.
Der Körper als offenes Projekt
Hekmats Film ist die Suche nach einem neuen, zuvor unterdrückten Selbstbild und karikiert diese surreal und auch melancholisch als verzweifelten Versuch, innerhalb der entfesselten Selbstoptimierungsindustrie Überlebensstrategien zu finden.
Die Tatsache, dass der Körper modifizierbar geworden und längst kein rein biologischer Organismus mehr ist, den wir bei der Geburt mitgegeben bekommen und der uns vorschreibt, wie wir auszusehen haben, erlaubt es, dass die Vielfalt der Lebensrealität queerer Menschen neu gestaltet werden und trans* Menschen eine neue Identität annehmen können. Während die Geschlechtsumwandlung der dänischen Malerin und Transgenderpionierin Lili Elbe, geboren als Einar Wegener (1882 – 1931), im Jahr 1930 noch von schockierten Reaktionen und einem großen medialen Interesse begleitet wurde, da die heteronormative Ordnung als Vorstellung des einzig Richtigen gesellschaftlich grundlegend verankert war, werden geschlechtsangleichende Operationen von non-binären und trans*-Personen inzwischen regelmäßig vorgenommen – auch wenn eine allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz hier nach wie vor im Bereich des Wünschenswerten liegt.
Über KI, Robotik oder Gentechnologie sind Forschung und Wissensbestände dahingehend angestiegen, dass sie uns Möglichkeiten einräumen, nicht nur als die wahren Schöpfer unseres physischen Selbst zu gelten, sondern darüber hinaus auch Klone und Cyborgs zu erschaffen. Biotechnologische Reproduktionsszenarien erlauben es uns zudem, ganz neue Arten zu kreieren, die Grenzen des Humanen zugunsten post-humaner Lebewesen zu sprengen und neue Verwandtschaftsverhältnisse anzustreben, wie es das Werk einer Künstlerin wie Juliana Huxtable (*1987) zeigt, die als multidimensionale Interspezies Persona mit fluiden Gendergrenzen aber auch mit artenübergreifenden Identitäten spielt. [27] (Vgl. hierzu auch den Beitrag zu den Transformationen des Humanen von Julia Thiemann in diesem Band, S. 140).
Körperidentität:
Jahrhundertelang waren es maskuline Normen politischer Souveränität, an denen der Körper und damit einhergehend auch der Erfolg einer Person gemessen wurde, wobei das weiße, heteronormative Ideal des männlich gelesenen Körpers nach wie vor eindeutig privilegiert ist und als das Maß für das Recht auf soziale und politische Teilhabe gilt. Besitz sowie die Höhe des Einkommens sind ebenfalls Kriterien, die sich wechselseitig beeinflussen, um zu weiteren gesellschafts-politischen Partizipationsmöglichkeiten zu führen. Unsere Körper werden bewertet, begutachtet und im Kapitalismus als Arbeitskräfte eingesetzt. Wir pflegen aber auch selbst einen einsatzbereiten Körper, der sich für neoliberale Ausbeutungsstrategien fit hält – und auch die Unternehmen investieren in Sportclubs und Erholungsmaßnahmen, um die Leistung eines arbeitsfähigen Körpers zu fördern. Da liegt es nahe, dass sich Widerstand körperlich äußert und auch in der Kunst, die im Bildhaften gesteigertes Gestaltungspotential im Bereich des Utopischen bereitstellt, vor allem über den Körper ausgedrückt wird. Mit neuen Möglichkeiten der Gestaltung eröffnen sich neue Spielräume für die Körperidentität. Die italienische Performance- und Installationskünstlerin Agnes Questionmark (*1995), die ausführlich in einem Interview in diesem Band zu Wort kommt [S. 148] präsentiert in genetischen Experimenten und chirurgischen Eingriffen die Grenzen des Selbst, sie beschäftigt sich mit neuen fließenden Möglichkeiten des Seins und hat sich eine eigene fiktive persona geschaffen, als deren Repräsentantin sie ihren Körper versteht.
Puppies Puppies (Jade Guanaro Kuriki-Olivo, *1989) thematisiert ihre Identität als transgender-Frau ebenfalls öffentlich, um damit normative Konzeptionen von Geschlecht aufzubrechen und Sichtbarkeit für gesellschaftliche Verfolgung bis hin zur brutalen Ermordung von trans*Personen, zu schaffen. Erst 2018 hatte sie ihren Namen zusätzlich zu ihrem Pseudonym veröffentlicht. Auf der diesjährigen Biennale in Venedig hat sie per 3D-Scan eine Skulptur für Transfrauen gezeigt, mit dem Wort WO-MAN versehen weist sie damit gleichzeitig auf die männliche Dominanz bei Denkmälern hin. [25] Statt monumentaler Opulenz traditioneller Herrschaftsbilder, die auf einem weit erhöhten Sockel auf den Rest der Welt hinunterblicken, ausgestattet mit den typischen Insignien für Stärke, Macht und Überlegenheit, stellt Puppies Puppies die WOMAN auf ein einfaches Fundament, das Augenhöhe und in der Ablehnung von Heldentum auch Identifikation und damit Verstehen ermöglicht. Durch ihre schutzlose Nacktheit inmitten der Biennalebesucher*innen schafft sie einen Moment der Intimität und Nähe und konfrontiert die Betrachter*innen ganz direkt damit. Dieselbe Sichtbarkeit versucht die nicht-binäre Foto- und Videokünstler*in Zanele Muholi (* 1972) herzustellen. Sie gehört als „visuelle Aktivist*in“ der LSBTQIA+ Bewegung an und bemüht sich darum schwarzen, lesbischen, schwulen, bisexuellen, queeren, trans* und inter* Menschen Raum in der Gesellschaft zu verschaffen. Auch in Muholis Werk treten Körper in Erscheinung, deren Identität krisenbesetzt oder uneindeutig ist, Körper, die sich verändern, die verletzbar sind und diskriminiert werden. Es sind Körper von Schwarzen, von queeren oder trans Menschen, die bedroht und verfolgt werden. [24]
Unsere Körper werden bewertet, begutachtet und im Kapitalismus als Arbeitskräfte eingesetzt.
Auch alte, dicke, kranke und Körper mit Einschränkungen, die „behindert“ genannt werden, sind nach wie vor in unserer Gesellschaft Körper außerhalb der Norm und werden diskriminiert und ausgegrenzt. Die künstlerische Existenz von Panthea Abareshi (*1999) z. B. basiert auf ihrem Leben mit einem chronisch kranken Körper, der durch eine genetische Blutkrankheit mit großen Schmerzen an den Rollstuhl gefesselt ist. Ihre Krankheit wird mit dem Alter fortschreiten und ihr Körper muss daher ständig kontrolliert und überwacht werden. Durch ihre Performances geht sie an die Grenzen ihrer körperlichen Fähigkeiten und erobert sich ein Stück Selbstbestimmung zurück. Sie setzt sich mit dem Verfall, mit universeller Zerbrechlichkeit, Angst, Schmerz und Sterblichkeit auseinander und fordert durch ihr Werk ebenfalls Sichtbarkeit für verschiedene Formen des Körpers ein. Die chronisch kranke Künstlerin Julischka Stengele (*1982) fordert ebenfalls mehr Inklusion und ein Überdenken geltender Schönheitsnormen und gesellschaftlicher Erwartungen an Körper, indem sie ihren Körper z. B. in der fortlaufenden Fotoserie Here to Stay in Zusammenhänge bringt, die neue Zugehörigkeiten herstellen. Sie manifestiert damit ihr Recht auf Existenz als einen Akt des Widerstandes gegen die Unsichtbarkeit von der Norm abweichender Körper und erschafft Bilder voll überraschender Analogien. [29+30]
Die Vielfalt künstlerischer Darstellungen von Körpern ist entsprechend der Bandbreite gesellschaftlicher Körperdiskurse und der unterschiedlichen Perspektiven auf den Körper enorm groß, so dass sie immer nur exemplarisch behandelt werden kann. Dementsprechend wurden auch hier nur einige wichtige aktuelle Aspekte und künstlerische Positionen angesprochen und gezeigt. Dabei ist sichtbar geworden, dass die aktuelle gesellschaftspolitische Fokussierung auf den Körper, auf seine utopischen und realen Entwicklungspotentiale, die durch digitale Entwicklungen immer weiter ersetzt zu werden drohen, indem alltägliche Handlungen zunehmend von technologischen Substituten übernommen werden, in der Kunst derzeit eine maßgebliche Rolle spielen – wobei sie sowohl kritisch als auch affirmativ behandelt werden. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Identität und Selbstbestimmung ist dabei ebenso wichtig wie Fragen nach der Bedeutung des Körpers für gesellschaftliche Teilhabe und / oder Ausgrenzung und nach Zusammenhängen von Macht, Emotionen, Stärke und Verletzbarkeit, Gestaltung und Präsentation.
1 Die Zukunft des Körpers I+II (Bd. 132 / 133) November 1995–Januar 1996, herausgegeben von Florian Rötzer.
2 Michel Foucault: Der utopische Körper, France Culture, Radiobeitrag 21.12.1966, publiziert bei Suhrkamp 2019, 4. Aufl., S. 34.
3 Die ca. 42 cm große in Kalkstein gemeißelte Relieffigur einer nackten Frau mit Horn, wurde in der Dordogne im Südwesten Frankreichs gefunden und gehörte vermutlich einem Heiligtum an (heute im Musée d’Aquitaine in Bordeaux, ca. 25.000 Jahre alt). Sie wird auch als schwangere Frau bezeichnet
4 Jan Meister, Jonas Borsch: Idealisiert, sexualisiert, materialisiert, politisiert: Antike Körper und ihre Geschichte(n), in: H-Soz-Kult vom 08.02.2022, http://hsozkult.geschichte. huberlin.de / forum / 2022 – 02-001, S. 2
5 Dafür muss der Leib unversehrt sein, weswegen eine Feuerbestattung für orthodoxe Christen ebenso verboten ist wie im Judentum und im Islam.
6 In der Kirche St. Hildegard in Eibingen werden neben dem Haupt auch das Herz und die Zunge der Hildegard von Bingen aufbewahrt und gelten als unverwesbar. 1737 wurde bei der feierlichen Grundsteinlegung für den Ausbau des Klosters ein Finger der Heiligen in einem Bleikästchen eingemauert.
7 Vgl. hierzu Rene Amman: Keine Reaktion auf die Ausstellung von Robert Gober im Kunstmuseum Basel, 3.2.2023 „Keine Reaktion“ auf die Ausstellung von Robert Gober im Kunstmuseum Basel. Vom Todeskampf der Kunstkritik. (linkedin.com)
8 Ebenso wie das Berühren der heiligen Gebeine kann die Hostie den Körper der Gläubigen damit heilig und heil machen. Der Corpus Christi und seine wirkliche leibliche Gegenwart wird an Fronleichnam nach wie vor in katholischen Gegenden als Feiertag mit einer großen Prozession begangen.
9 Vgl. hierzu auch den Pressetext der Galerie carlier / gebauer zur Ausstellung Paul Pfeiffer, Incarnator, Berlin 2019.
10 Vgl. hierzu Ada Borkenhagen: Gemachte Körper. Die Inszenierung des modernen Selbst mit dem Skalpell, in: Psychologie und Gesellschaft 2001, 25, S. 55 – 67.
11 Von der Amsterdamer Chirurgengilde in Auftrag gegeben zeigt das Bild wie Nicolaes Tulp den Anwesenden die Muskulatur des aufgeschnittenen Armes erklärt. Im 17. Jhd. verbreiteten sich anatomische Theater für solche Vorführungen.
12 Rosi Braidotti, Posthumanismus, Frankfurt 2014, S. 110
13 Dädalus, der große Baumeister der Antike und Ikarus, sein Sohn, der mit seinen Flügeln der Sonne zu nahekam, so dass das Wachs, mit dem er sie an seinen Körper geklebt hatte, schmolz und er abstürzte, waren allerdings Sinnbilder für den menschlichen Geist, der sich in die Höge schwingen konnte, um Großes zu vollbringen, während Leonardo da Vinci 1505 tatsächlich Flügel konstruierte und die Futuristen 1915 den uomo molteplicato „mit auswechselbaren Ersatzteilen“ feierten, einen „mechanischen, nicht-menschlichen Typ, der für eine allgegenwärtige Geschwindigkeit konstruiert ist“ (Manifest des uomo molteplicato, 1915)
14 Diese allerersten Klangskulpturen waren in den 1960er Jahren so neuartig und ungewöhnlich, dass sie mit dem Argument, dass Klang nicht in ein Kunstmuseum gehöre, aus Ausstellungen genommen wurden. Vgl. auch www.zkm.de / de / breathing-machines-19661967
15 Das Marktvolumen von Kosmetik- und Körperpflegeprodukten in Deutschland beläuft sich auf rund 15,9 Milliarden Euro pro Jahr, wobei die meisten Umsätze mit Mitteln für die Haare sowie die Haut generiert werden. Für dekorative Kosmetik gaben die Deutschen im letzten Jahr mehr als zwei Milliarden Euro aus. https://de.statista. com / themen / 25 / kosmetik/#topicOverview
16 Ergebnis zu einer Umfrage zu den Gründen für eine Schönheitsoperation in Deutschland 2021 auf www.statista.de von Julius Neumann, veröffentlicht am 2.1.2024.
17 www.deutschlandfunkkultur.de / soziale-medien-koerper-wahrnehmung-junge-menschen-100.html 29.09.2024
18 Vgl. Elisabeth Lechner, Riot don’t Diet! Aufstand der widerspenstigen Körper, 3. Aufl. Wien 2023, S. 10
19 Ebda. S. 27 ff. Das, was hier exemplarisch am Körper von Frauen gezeigt wird, betrifft natürlich auch viele andere nicht der Norm entsprechende, marginalisierte Gruppierungen, besonders auch kranke, behinderte, queere Menschen oder People of Color.