Eberhard Roters
Eine neue Kategorie von Kunst
Jetzt in einer Sonderausgabe: Wolfgang Max Faust: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder Vom Anfang der Kunst im Ende der Künste. Carl Hanser Verlag, München. 269 Seiten mit Abbildungen. 16,80 DM.
Im Jahre 1914 schuf der italienische Futurist Carlo Carrà eine Collage mit dem Titel “Manifestation Interventista”. In der futuristischen Ideologie verbanden sich Anarchismus und Rebellentum mit Nationalismus und Militarismus, Haß auf die kulturellen Traditionen mit Begeisterung für die Motorik der Industrie-Zivilisation zu einem durchaus widersprüchlichen Gemisch von gefährlicher geistiger Explosivität.
Carràs Collage, eine Arbeit eher bescheidenen äußeren Umfanges, ist ein Schlüsselbild in der Kunst unseres Jahrhunderts. Die Komposition gleicht einem Strudel aus Kreissegmenten, Prismen und Strahlen, die von einem trichterförmigen Zentrum aus rasch rotierend in den Raum hinausgespieen werden. Die bildhaft gemachte Zentrifugalbewegung ist aus Fetzen von Zeitungsparolen, Plakatausschnitten und futuristischen Manifesten, aus Sentenzen, Satzfragmenten, Worten, Buchstaben und Ausrufungen zusammengesetzt, die gemeinsam den suggestiven Eindruck einer aus dem Lautsprecher weit über das Marsfeld hallenden Proklamation in all ihrer marktschreierischen Geballtheit hervorrufen. Diese Collage ist eines der ersten Kunstwerke überhaupt, in denen literarische und bildkünstlerische Elemente nicht nur miteinander kombiniert sind, sondern derart nahtlos ineinander übergehen, daß textgewordenes Bild und bildgewordener Text über die Grenzen der klassischen Disziplinen Literatur und bildende Kunst hinaus zur Einheit einer ganz neuen Kategorie von Kunst verschmelzen.
Die Analyse von Carràs “Manifestatione Interventista” ist eines der zentralen Kapitel in Wolfgang Max Fausts Buch “Bilder werden Worte”. Faust, Schüler von Walter Höllerer und Norbert Miller,…