Die Frage nach Venedig, Kassel und anderswo: Osteuropa – was ist damit?
von Thomas Strauss
Es ist schon so: Die nach 1969 eingeschlagenen neuen Wege der europäischen Politik, der bis jetzt mehr durch Wunschträume als durch Realitäten getragene Versuch der Versöhnung mit der “Bedrohung vom Osten” fordert seine Opfer. Wenn schon die (massenhaften) politischen Unmutsäußerungen, wie die der Gewerkschaften in Polen um und nach 1980, nicht zu verschweigen sind, geht es mit der Kultur ohne größere Probleme. Die Kunstentwicklung in Osteuropa läuft schon vom Anfang des 20. Jahrhunderts teilweise auf anderen Wegen. Und wie weit eine gemeinsame Brücke der Begegnung und Komparation von verschiedenen Traditionen, so wie es z.B. noch das Berlin der 20er Jahre darstellte, heute fehlt, nimmt der nicht stattfindende kulturelle Vergleich die Form der einseitigen Eingliederung aller aus Osteuropa kommenden Impulse in die “westliche”, und hier insbesondere in die französische Kunst an. Brancusi, aber auch Tzara und Janco aus Rumänien, Kandinsky, Larionow und Gontscharowowa, aber auch Chagall, Soutin, Puni, Naum und Gabo aus Rußland; Kupka, aber auch Mucha oder Kubin aus Böhmen; die unendliche Reihe der ungarischen Konstruktivisten von Moholy-Nagy und Breuer bis Vasarely, Kepes und Schöffer, sowie hunderte anderer Osteuropäer, werden mit Recht als Bestandteil des gesamt-europäischen Erbes betrachtet. Ob aber diese “gesamteuropäische” Tradition mit Berufung auf das aus der Zeit des kalten Krieges stammende Vokabular als “Westkunst” (Köln, 20. Mai bis 16. August 1981) zu bezeichnen ist, scheint mehr als zweifelhaft”(1). Durch diese falsche, weil ahistorische, Benennung sind die entscheidenden Impulse bei der Geburt der Avantgarde, so…