Georg Jappe
Rundgang vom 1. Juni 1977
Beschreibung der erwartbaren Ereignisse, der unerwarteten…
Wie war noch mal die Kasseler Atmosphäre? Ich bin stundenlang gefahren, es ist schwül. Eh ich losziehe, ein bißchen von Kassel aufnehmen, sich der Situation erinnern. Andere bekommen das Bier, ich leide Tantalusqualen, muß viermal reklamieren. Wie der Junge endlich kommt mit übervollem Tablett und als erstes mein Glas absetzen will, kippt er es um, das Bier – ergießt sich voll über den Tisch. Da ist sie ja, die Kassler Atmo!
Den Friedrichsplatz überquerend, werde ich von einem Mädchen… mit unwahrscheinlich schönen Augen… angesprochen. ‚Glauben Sie an Gott?‘ Auf die Frage war ich nun wirklich nicht gefaßt. ‚Warum nicht?‘, sagt sie ganz enttäuscht. ‚Nun, ich glaube aber an Leute, die an etwas glauben.‘ ‚Wenn Sie unsere Zeitschrift lesen, werden Sie an Gott glauben… wir haben natürlich auch Unkosten damit… werden Sie sie auch wirklich lesen, versprochen?‘
Das Bohrgerüst fasziniert nicht nur mich, darum scharen sich die Leute. Was mich fasziniert: das hört man fast nicht! Da muß man zwischen den Autos schon sehr genau hinhorchen. Groß prangt ein Firmenname für Lärmschutz am grünen Verschlag. Wir brauchen also die U-Bahn-Rammen nicht zu ertragen, wir können den ganzen Baulärm, der unsere Städte so unerlebbar macht, als Zumutung zurückweisen – wenn die Gerichte nicht nur der Kunst, sondern auch der Bürokratie und Industrie Auflagen für Lärmschutz machten! Diese Erkenntnis allein – wenn sie in eine allgemeine Forderung mündete – wäre eine documenta wert. Stattdessen kocht die Volksseele in Leserbriefen ihre Kunstauffassung aus, und hat Kunst als eine neue, immaterielle Lebensqualität direkt vor Äug und Ohr… zwei Reporter von Bild fragen nach de Maria, wollen ihn interviewen.
Im ältesten, im sumerischen Mythos von der Sintflut ertränkten die Götter das Menschengeschlecht, weil sie seinen Krach einfach nicht mehr ertragen konnten.
Bei der Eröffnung wird der Prozess nicht mehr präsent sein; insofern wäre eine 100-Tage-Boh-rung (also die Dauer und das Wie) eine weitreichendere Konzeption gewesen als ein fertiger km (das Was) – womit wir schon mitten in der Mediendiskussion sind, in der Fragestellung von Thema und Instrument.
Noch, gegen den Bohrturm, wirkt Serras Hünenmal aus schiefen Eisenplanken klein, aber wenn man drauf zugeht, kann einem schwindlig werden vor dem halluzinatorischen Schwanken dieser titanischen Massen, die sich innen zusammenschließen zu einem rechtwinkligen, archaischen Schacht, dieser quadratische Ausblick nach oben ist der einzige Halt. Ein Monument, dessen tonnenschwere Materie sofort und katastrophenartig auseinanderfiele, wäre in ihr nicht die Fähigkeit des Geistes zu freier Setzung, nämlich eine Konzeption, enthalten. Serra, solang er dieses Thema nun schon anfaßt, so majestätisch: das ist’s! glückte es ihm noch nie zuvor. Doof, Scheiße, haben, im Dutzend billiger, vor allem Kinder draufgeschrieben, man tritt auf Flaschenscherben, es stinkt nach dem teuersten Pennerklo der Welt.
O Schutzpatron der Vermittlung – wer ist das eigentlich. Vielleicht der predigte den Vögeln, den Fischen und dem Vieh… jedenfalls ist die Umwelt seiner Klause, Eremo delle Carcere, noch heute geheiligt unberührt.
Irrtümliche Verabredung in der Neuen Galerie. Dort werden die Bücher, die das Buch reflektieren – die Bücher über das Buch – zu sehen sein, schon sehr spannend im Zeitalter der Rotation mit ‚Schutzumschlag‘. Steige von dort in den Auepark, das ist falsch. Die Barockachse, die riesigen Außenplastiken – es wird zum Ostereiersuchen in diesem überwältigenden Park, und ich muß mir eingestehen, daß ich hier nie war trotz aller documenten. Baugruben, die hinter Buchengrün Großplastiken zu sein verheißen, führen mich noch mehr in die Irre/Weite/Ferne. Passionierter Feldornithologe, interessiert mich mehr und mehr, wie die scheue Wachholderdrossel, eigentlich in Ost- und Nordeuropa brütend, in Scharen hier verstädtert, wieder eine erfreuliche Erkenntnis, ist doch der Krammetsvogel in seinen Winterquartieren Belgien, Frankreich, Italien sehr begehrt. Sogar Nachtigallen gibt’s in Kassel – so habe ich den ganzen See umrundet und unter jede Trauerweide geguckt, aber kein Floß von Singer gefunden. Die Gartenarbeiter wissen auch nicht.
Plötzlich stehe ich auf einer weiten Lichtung, wo die Drachenzähne von Stonehenge, der mykenische Einstieg in die Erdtiefe, von Lawinen abgetragene Almhütten und der dunkle Basalttuff der düster-grotesken Kaskaden von Wilhelmshöhe zusammentreten in einer Atmosphäre großer, ehrfurchtgebietender Stätte. Das setzt schon einiges an land-art von Heizer bis Long außer Kraft und kann nur Bob Morris sein. Der zwar auf jeden fahrenden Zug springt, aber wenn Eklektizismus heute als Pluralität der Stile akzeptiert wird, dann ist er eine führende Figur dieser Haltung des Aneignens.
Selten so gelatscht für Kunst. (In Messehallen vielleicht doch). In den Giardini kann man sich zwischendurch erfrischen. Fahrräder sirren vorbei; ein Fahrradverleih könnte auf dieser documenta vielleicht das Geschäft seines Lebens machen. Da kommt der lange Laufsteg von Trakas, optisch eine eher magere Schneise und Urwaldbrücke, aber wie ich zwischen den schweren Bäumen drauf trete, beginnt der Stahl zu tönen und zu federn, plötzlich bin ich ganz leicht und begreife, was ein ‚bewußtes Gehgefühl‘ sein kann, das ist eine sehr dichte Erfahrung: beschwingt zu werden. ‚Verrückte dürfen sich in Kassel austoben‘, steht die Latte lang geschrieben, zwei Mal. Szeemann hatte Recht: wir brauchen mehr Spinner. (Schafft viele Kassels…)
Auf der Anwiese noch Baufeld und Zimmermannsgerüste, ein Künstler betrachtet zufrieden, wie der Rasensprenger seine ganz planen Grasplatten frisch hält hinter aufgeworfenem Sommerdeich. Ist es das, oder wird’s noch was? Zwei Künstler streiten sich, in welchem Winkel ihre Werke zueinander liegen können. Andere gehen herum und schnuppern, in diesen Aufbautagen fallen wichtige Vorentscheidungen: die Künstlerurteile übereinander. Die landläufige Meinung, kein Künstler würde einen anderen gelten lassen, ist falsch. Ihr Urteil ist die kritischste Feuerprobe, das schon, aber ein Künstler, der von seinen Kollegen anerkannt wird – dagegen sind ein lobender Aufsatz oder Galerieverträge kleine Fische.
Wie klein wirkt heute gegen diese Raumgreifung durch den Park die Wurst von Christo auf der Wiese, und war 68 die äußerst vorstellbare Expansion. Die Kunst fand doch noch immer eine neue Vorstellung plus ultra, darüber hinaus. ‚Ach, immer was Neues‘, sagt in dem Moment neben mir ein Ehepaar frustriert, ‚da kommt Wasser rein, sonst nichts‘. ‚Sonst wirklich nix? ‚ ‚Nee, werklich net‘, und der Projektionskraft des Zuschauers entblößt, bleiben Isenraths lange Becken blinkend liegen.
Ein Blick in die Orangerie – ist das ein gewaltiges, schickes Museum geworden! Es wird gehämmert und gesägt, aber die Räume zeigen eindeutig, daß die Handzeichnung die größte geschlossene Abteilung sein wird. Und da die Tradition Besitzenden – also die Kritiker, Sammler, Händler und Museumsdirektoren und die letzten Allgemeingebildeten – ohnehin in der Substanz dieser 15jährigen Bilanz den Schwerpunkt sehen, ist das Echo quasi vorprogrammiert.
Mich interessiert an dem, was gewesen, vor allem, was wird. Insofern ist die Kunstkritik seit Baudelaire wenig vorangekommen: im Zweifelsfalle votieren die einen nach Werkerscheinung, die ändern nach Imaginationserscheinung. An der Treppe sind erst Bodenflächen ausgehoben, die Passage ist noch magermilchbleich von Neon, hier soll Flavin strahlen, daneben der prächtige Anatol die Herzen gewinnen, weil er wie kein zweiter Künstler dem Volk aufs Maul schauen kann. Der Zusammenhalt des plastischen Itinerars ist noch nicht sichtbar, Schneckenburger weiß ihn anschaulich zu schildern – ob die Abfolge nicht zu dünn, zu einlinear wird, daran wird die Gesamtwirkung dieses Stationenweges sich entscheiden. Ich bewundere, mit welcher Gelassenheit der Mann Streit schlichtet, Künstlerwünsche sofort anhört oder einen festen Termin vereinbart, die Sprengung der Trakas-Kreuzung (Eisen längs, Holz quer, die Übergangsstelle wird auseinandergerissen) für 4 h früh ansetzt, damit es nicht wieder Gedöns gibt, zwischendurch mir die Konzeption erklärt, Telephonate aus New York annimmt, Mitarbeiter ermuntert und strahlend schwört, alles würde fertig. Höchstens, daß einige Fotos nicht hängen, die Kasseler Handwerker sind mit dem Einzug der Holzetage im Verzug. Überhaupt keine Hektik zu spüren; jeder Tag durchgeplant, Sonderwünsche von jedermann inclusive, der Mann verbreitet um sich den Eindruck der Fähigkeit, gordische Knoten erst gar nicht entstehen zu lassen. Eine gewisse Rücksichtslosigkeit, wie sie ihm z.B. aus Kreisen der Kassler Akademie angekreidet wird, und auch aus dem documenta-Team, ist dabei nicht auszuschließen, ja vielleicht vonnöten. In einem früheren Stadium haben bei der Raumdisposition Pannen der Doppelbelegung freilich zu Verärgerung, gar zum Rückzug einiger Künstler geführt. Oder, an eine andere Adresse gerichtet: ‚Da überlegen die jahrelang ein Medienkonzept, ohne zu registrieren, daß man selbst auch seit Jahren darüber nachdenkt und vielleicht Vorschläge dazu hätte. Aber nein, rein zufällig, in einem späten Stadium, wo schon alles feststeht, treff ich den Honnef und der sagt: ja, was machen wir denn mit dir?‘ (Polke)
Die Malerei/Fotografie im Fridericianum hat jetzt schon Laokoon-Kämpfe aufzunehmen. Es gibt mehr Bild- als Wandmeter, und Walther will für seine Bodenplastiken keine Stellwand im Raum, begreiflich ebenso. Das Holzgerüst für die Fotografie hat die großen Säle versaut. Die Raumeinheit wird, zumindest, problematisch. Gonschior hebt, Tupfen für Tupfen, Woche für Woche, die Identität von Farbe und Raum auf, die Augen finden keinen Halt in diesem perfid sanften Großpointillismus, und natürlich ist Gonschior bestürzt, daß in seinem Raum, weil er von sechs Flächen (Decke und Boden eingerechnet) absichtlich nur drei verwandte, auf die anderen, gelblich-rosa widerscheinenden Mauern Bilder von Graeser kommen sollen.
Aber Gerangel gehört zum Handwerk. Auch hätte Gonschior schon zu den Irritationsräumen der d 4 gepaßt. Die Nachholung der Außermodischen ist nicht der geringste Aspekt der d 6. Den Effekt des trompe l’oeil-Raumes gemalter Badekacheln kann ich durchs Schlüsselloch kaum begutachten und daher nicht ermessen, ob hier nicht einem alten Kunstgriff viel Platz eingeräumt wurde. Niemand behelligt mich, aber alles, was fertig ist oder stehlbar, ist sorgfältig abgeschlossen. Zum ersten Mal gibt es im Fridericianum einen festen Rundgang im Einbahnsystem, das kann zu Stauungen führen, aber auch zu Übersichtlichkeit, bei der letzten documenta wußte man ja noch nach Tagen nicht, ob man auf 100 Scheidewegen auch alles gesehen hatte.
Rundgang: Vom Eingang links Besucherschule und Performances, rechts nach Information und Buchstand eine Zusammenfassung der Medien, davon halbfertig der prachtdüstere, tropische Wintergarten von Paik, die Monitore noch in Kartons; werden die Pflanzen die Dunkelheit dulden, wird nicht dieses paradis artificiel im Bildschirmlicht welken? Das ganze Treppenhaus aufragend bis unters Dach die Honigpumpe von Beuys, das Fundament wird gerade ausgeschachtet, dahinter sein Seminarraum. Kommt man die Treppe hoch, werden einen Rinkes 100 Lote im zentralen Raum empfangen, rechts von Analytischer Malerei eingefaßt, links von realistischer und altvorderer mit dichtgespickten Friesen Fotografie. Von dort im nächsten Treppenrundgang Künstlerfotografen (was da Hetum Grubers Aluplatten in der Ecke sollen)? , daran schlösse sich organisch das Obergeschoß Video, wo ein beweglicher Ablauf von Raumkonstellationen schon erkennbar ist. Von da weiter geht es nun den linken Flügel hinunter zu den Spurensicherern und anderen Medienverweigerern (also auf dem entgegengesetzten Flügel von Paik, Dekkers, Böhmler etc.). Die Poiriers sind gerade dabei, mit teuflisch schwarzer und teuflisch stinkender Farbe den Boden für ihre Ruinenstadt unter Wasser auszulegen. Simonds Urland-schaft wirkt hier, aus schimmelndem Kellergemäuer ins Museum verpflanzt, fast niedlich, ein Wärter wird die Souvenirjäger all dieser Sächelchen wie Insekten zu verscheuchen haben. Freyer, das bleibt doch Bühnenbild. Sehr eindrucksvoll der karge Raum von Gerz, der Gegensatz zwischen den blutbraunroten rohen Thronen auf der Bretterbühne gleicher Tunke zum Text ganz in Konjunktiv an der Wand, unter kellerhafter Beleuchtung, da steigt eine archetypische Inquisitionsszene auf, Inquisitionskeller des eigenen Bewußtseins, dem alle Bilder entzogen wurden.
Gerade da so viele Räume noch leer sind, wird klar: allein durch die Räume wird die documenta eo ipso eine Antwort auf die letzte. Was von den Veranstaltern ja auch behauptet wird, nicht nur auf dem praktischen Feld, von Brock und Szeemann hingegen verneint. Eine sehr kahle, in den Zähnen ziehende, weiße Erinnerung: nach einer List gegenüber den Cerberusfunktionären in der Nacht vor der Pressebesichtigung der d 5 allein das Fridericianum durchwandernd; unvergeßlicher, dröhnend stiller Eindruck. Gestört nur von einem, der mich verfolgte, schließlich stellten wir einander mit einer jeweils erfundenen Legitimation. Es war Günter Saree, der mir ausgiebig sein Todesprojekt auf dem ganzen Rundgang nahebrachte, mir war’s etwas lästig, wollte ich doch das Ganze in mich aufgenommen haben, ehe ich entdeckt und hinausgeworfen sein würde, denn die Schritte hallten sehr. Aus dem Vorschlag ans Publikum, an jeden einzelnen, sich einschläfern zu lassen mit dem Risiko, nicht wieder zu erwachen, habe ich nicht aufmerksam genug die Vorahnung herausgehört. Sagte später, zum Abschied: ‚Mein Tod ist mein Kunstwerk‘.
Was blieb von den documenten am stärksten haften? Raumerlebnisse vor allem, sei es Nay, Fontana, Flavin, Le Va, Thek, Serra, Oldenburg. Und Plastik außer Haus, wie Moore oder Christo. Noch keine documenta hat so auf Außenplastik, ja Landschaftsplastik gesetzt wie diese. Der künstlerisch prospektierende Charakter dieser documenta wird wesentlich vom Echo auf die Außenplastik bestimmt werden. Womit sie sich auch wie keine documenta zuvor wetterabhängig gemacht hat, gibt es einen nassen Sommer…
… gibt es hingegen einen heißen, werden die wenigsten es unter dem Dach des Fridericianums bei den Videos aushallen, wiewohl der Zündstoff für ein gesellschaftskritisches Echo vor allem hier angelagert ist. Und in der Fotografie. Die Viertelmillion Besucher wird sich nur dann als realistisch erweisen, wenn es tatsächlich gelingt, das photokina-Publikum anzuziehen; das ‚fotomagazin‘ hat seine Leser bereits eingehend darauf aufmerksam gemacht. Wieweit die Zusammenrückung von Fotografie und Malerei zur gegenseitigen Erhellung führt – wie es die Veranstalter sich gedacht haben – oder zur gegenseitigen Verärgerung der jeweiligen Sparten-Fans – wie einige herausposaunen – auf jeden Fall wird dies ein Turbulenzzentrum sein, weil Foto aktuell ist und Malerei das traditionelle Herzstück von Ausstellungen, im Augenblick aber nicht im Mittelpunkt der Kunstperspektiven liegt. Beim Anblick der Installationsgerüste fragt sich allerdings, ob die Fotografie nicht überhaupt als isolierte, langgestreckte Notlösungs-Loggia rezipiert wird. Die Raumerlebnisse dagegen, von Paik und Campus abgesehen, versprechen eher intim zu werden diesmal, Reservate von Resistenz.
Höchst unerfreulich manche Künstlerzerfleischung, alle (cum grano salis) beanspruchen den Raum, wo das letzte Mal Panamarenkos Flugapparat war, allein für sich. Es gibt leider immer mehr Star-Künstler, die den hemmungslosen Konkurrenzkampf der Unternehmer verschärft, konkret greifbar wiederspiegeln und die ganze Gilde in Verruf bringen. Vostell droht gar, sich in die documenta einzuklagen!
Rundgang nach sechs Stunden abgeschlossen – zwei Drittel sind ja noch nicht zu sehen -Fragezeichen, aber keinen Zweifel an Dingen, deren Beweiskraft erst im Augenschein liegt. Eine Prophezeiung läßt sich getrost machen: die documenta 6 wird nicht so langweilig und nicht so ausgewogen wir ihr Plakat. Und eines möchte man ihr wünschen: daß sie zunächst aus sich selbst beschaut und beurteilt wird und nicht von vornherein aus dem Vergleich zur d 5. – Es haben gar (zu) viele eingesehen, daß sie der d 5 Unrecht taten, und könnten dies (durch neues Unrecht) wieder ausbügeln, der Erinnerung Fähigkeit zur Verklärung kommt hinzu. Romain betont den Anschluß an die d 5, Schneckenburger die Abhebung, Szeemann und Brock das Ausbleiben einer Antwort: alle haben ihr Teil Recht. Die Zeit der Ausschließlichkeiten ist vorbei. Übergänge sind vorhanden, zum Beispiel die Film-Performances ‚außer Betrieb‘ handelnd wie (einst) die individuellen Mythologen und wie Szeemann heute selbst, oder die proteushafte Kontinuität von Beuys; Kontraste, die sich ausschließen, sind vorhanden, allein schon in der Versammlung des theoretischen Bestecks: bei Brock ein Kochbuch, bei Romain ein Menü. Gemeinsam ist last not least, daß offensichtlich nur sehr breite, philosophisch wehtuend unscharfe Begriffe tragfähig sind, damals ‚thematisch‘ (als hätten Ammann, Brock, Szeemann – oder Leering oder Ruhrberg oder Schmied – jemals dasselbe darunter verstanden), heute ‚Medien‘, in den Interviews findet sich nicht zwei Mal dieselbe Handhabung des Begriffs. Individuen scheinen nicht durch Übereinstimmung, sondern nur durch Vergleichbarkeiten unter einen – weiten – Hut zu bringen zu sein. Der Hut von Beuys hält die Leute ab vom Nachdenken darüber, was er sagt, und läßt sie aufs Gesicht starren, flachste einer der documenta-Macher. Und der Hut der Neuen Medien?
Ohnedies ist klar, daß die d 5 aus einem überschäumenden Kunsttopf, die d 6 aus einem eher angebrannten schöpfen konnte. Mir persönlich sind Spoerris Definition vom Künstler als dem Universaldilletanten, Warhols laxe Qualitätsverneinung, Beuys Kunsterweiterung aufs ganze Leben, Walthers Handlungsutopie oder Szeemanns ‚Besitz durch freie Aktionen ersetzen‘ sehr viel näher als nun die Gegenpendelung zur Präzision, zur speziellen Kennerschaft und Probe aufs kleine, exakte Exempel gegen die grenzenlose Verwischung (und oft Ausflucht) der Grenzüberschreitung von allem und jedem. Aber es muß uns auch bewußt sein, daß wir nicht mehr wie nach der d 4 mit dem naiven Faustrecht, jetzt kommt die junge Generation, jetzt sind wir dran, auf den Tisch hauen können, wir sind – durchaus nolens – in die mittlere Generation auf- bzw. abgerückt (wie übrigens die allermeisten Macher der d 6) und müssen ersteinmal unsere Geste des Ausholens und Wegfegens überdenken gegenüber denen, die nun vorsichtig hereinholen. Unsere Generation gleicht einem animierten Haufen, darin jeder dauernd was kickt und ins Rollen bringt, aber ein Ballspielsystem mit Mannschaft und festen Regeln ist nicht drin.
Ich fahre noch zu Harry Kramer, den ich eines Abends, total unbekannt und ohne jede Ansprache, aufstöberte in einem Pariser Atelier, das durchtickt war von zweihundert Flohmarkt-Uhren. Jetzt fechten in seinem Atelier die Jungen und Mädchen, unter Anleitung eines französischen Fechtmeisters. Und jonglieren. Und werden Feuer spucken lernen. Und sind happy. Das einzige Atelier Deutschlands, wo tatsächlich gefochten und jongliert wird. Harry erzählt von den Problemen, die Pflastermaler aller Länder in einem Zelt unterzubringen, sie zu bewegen, auch ja abwaschbare Farbe zu benutzen, wie schön wäre es gewesen, sie hätten vom Platz bis in den Keller des Fridericianums dringen dürfen, geworden wäre dann das ‚Medium Straßenpflaster‘ am Gewölbe plötzlich ‚Kunst(? )‘.
Mein Dank all denen, die in diesen Hundstagen der Kunst die Zeit nicht fanden, sich aber genommen haben, für ein intensives Gespräch. Nachher ist diese Möglichkeit verflogen, in Ruhe und in nuce Bilanz zu ziehen der eigenen Intentionen. Darüber hinaus kam Manfred Schneckenburger der Redaktion besonders entgegen durch die Überlassung von Bildmaterial, aus dem hervorgehen kann – in Signalkästen abgesetzt – was in Europa weitgehend unbekannte Künstler, besonders Plastiker, an anderen Arbeiten vorgelegt haben. Das Kunstforum ist eine Zeitschrift, kein Buch. Die Fotografie, deren Fülle den Rahmen gesprengt hätte, soll komplett im Folgeband belegt werden. Von den Malern und Video-Künstlern wurden die meisten in den letzten Jahrgängen monographisch schon vorgestellt. Die weiteren Überlegungen für Bild und Ton und Schrift – hoffen Redaktion und Autor – erklären sich aus sich selbst.