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Titel: Problem Realismus · S. 68 - 91
Titel: Problem Realismus , 1973

KLAUS HONNEF
PROBLEM REALISMUS

Die Medien des Gerhard Richter

I.

Folgt man dem allgemeinen Sprachgebrauch, dann ist ein Realist ein Mensch, der die Dinge nimmt wie sie sind und von dieser Warte aus die praktischen Probleme des Lebens nüchtern zu bewältigen vermag. Sein Verhältnis zur Wirklichkeit ist scheinbar spontan, weniger von irgendwelchen ideologischen Vorstellungen geregelt als vielmehr von dem Bestreben, eine Sache sachgerecht auszuführen. Er schafft Realitäten, indem er Realität verwirklicht.

Im Lichte der philosophischen Diskussion ist das tätige Moment ausgespart. Hier wird ein Realist in scharfem Unterschied zum Idealisten gesehen. Im Gegensatz zu diesem betrachtet er die Wirklichkeit als eine unabhängig von ihm als erkennendem Subjekt existierende Dingwelt, die, in der naiven Form des Realismus, so, wie sie wahrgenommen wird, auch wirklich sei. Ist der Blick des Idealisten auf die Wirklichkeit von den Wünschen, Hoffnungen und Idealen geprägt, die er auf sie projiziert, realisiert der ‘philosophische’ Realist die Wirklichkeit, indem er sie sich bewußt macht.

Alle Künstler sind Realisten im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs, solange sie Dinge realisieren. Aber nicht alle Künstler sind Realisten im Sinne der philosophischen Diskussion. Danach sind nur solche Realisten, die sich darauf beschränken, die Dinge in der Weise, wie sie ihnen entgegenstehen, zu vergegenwärtigen.

Auf den ersten Blick hin scheint die schlichte Definition einleuchtend. Doch kehrt man sie um, fragt, wie denn die Dinge in Wirklichkeit sind, ergibt sich prompt eine Problemstellung, welche die auf Erkenntnis der Realitäts-Zusammenhänge angelegte philosophische Diskussion seit jeher beherrscht. Daß sie zugleich auch die Kunst berührt, zumal eine Kunst, die sich darum bemüht, Realität zu veranschaulichen, bedarf keines besonderen Hinweises. Dennoch betrifft die Problemstellung die Kunst mit vollem Gewicht erst in jüngster Zeit.

Die Künstler sind stets naiver vorgegangen, sie haben Realität, sofern es ihnen – wie in manchen Perioden der Antike – um eine direkte Wiedergabe zu tun war, abgebildet gemäß ihres Augenscheins. Ihr Ziel war – im Extremfall – eine malerische ‘Reproduktion’ der Wirklichkeit, die als eine ausserhalb des eigenen Bewußtseins liegende Existenzeinheit begriffen wurde. Parrhasios hat Zeuxis in der Beherrschung der künstlerischen Mittel übertroffen, als Zeuxis von einem seiner Bilder einen Vorhang wegziehen wollte, der ihm den Blick darauf verwehrte, und überrascht feststellen mußte, daß dieser Vorhand malerischer Bestandteil des Bildes war.

Eine naturgetreue Nachahmung der Wirklichkeit, eine Wirklichkeits-Illusion mithin, die Dinge vertäuschte, welche dort, wo sie vorgetäuscht wurden, garnicht vorhanden waren, zwang einen idealistischen Philosophen wie Plato folgerichtig dazu, die Kunst als unwahrhaftig aus seinem Ideal-Staat zu verbannen. Sein Argument ist in späteren Auseinandersetzungen noch häufiger gegen eine realitäts-orientierte Kunst ausgespielt worden: Diese artikuliere nicht das wahre Sein der Dinge, sondern imitiere lediglich deren äusseren Schein.

Gemessen am Anspruch eines Philosophen wie Plato könnten sämtliche wirklichkeitskonform arbeitende Künstler als die eigentlichen realistischen gelten. Auch wenn sie nur den Schein der Dinge vorgeben, verfahren sie realistisch, da sich ihr Interesse gewissermassen auf eine malerische ‘Rekonstruktion’ der äusseren Wirklichkeit richtet.

Beleuchtet man ihr Verfahren jedoch aus heutiger Sicht, dann mutet es um nichts realistischer an als Platos philosophische Methode. Denn gerade durch die Tatsache, daß sie Realität abbilden, die Dinge, die sie sehen, malerisch darstellen, die realen Gegenstände in eine andere, in eine malerische Realität übersetzen, also zwangsläufig verändern und nicht wirklichkeitsgetreu reproduzieren, schleicht sich ein wesentlich interpretatives, und damit spekulatives, unrealistisches Moment ein.

Interpretiert ein idealistischer Philosoph die Realität unter dem Aspekt seiner idealen Konstruktion von der Wirklichkeit, so visualisiert ein Maler sie nach Maßgabe seiner kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Vor-Urteile. Das ist unausweichlich, wenngleich es häufig unbewußt geschieht. Ein Maler kann sich nicht aus den gesellschaftlichen Bedingungen lösen, denen er als ein gesellschaftliches Wesen unterworfen ist. Daß sein kulturelles Vor-Wissen, sein kulturelles Erbe sogar seine künstlerische Technik ganz entscheidend prägt, hat E.H. Gombrich in seiner umfangreichen Analyse ‘Kunst und Illusion’ aufgezeigt:

‘Der Künstler, der einen wirklichen oder imaginären Gegenstand darstellen will, fängt nicht damit an, daß er die Augen aufmacht, sondern damit, daß er Farben und Formen sucht, aus denen sich ein Gegenstand aufbauen läßt. Der einzige Grund, warum wir das so leicht vergessen, liegt darin, daß in den meisten Bildern jede Form oder Farbe jeweils nur ein wirkliches Ding bedeuten – die braunen Striche bedeuten Baumstämme , die grünen Kleckse Blätter’.1)

Gesellschaftlich vermittelt sind nicht die elementaren Bestandteile der Malerei, die ‘braunen Striche’ und ‘grünen Kleckse’, zumindest solange nicht, wie sie nichts Spezielles bedeuten – vermittelt sind die jeweiligen Konfigurationen, die sich aus ihnen entwickeln. Es ist die Art und Weise der malerischen Organisation dessen, was wiedergegeben werden soll. Die pausbäckigen Kinder auf Rubens’ Bildern legen nicht Zeugnis ab von einer zur Lebenszeit des Künstlers herrschenden Krankheit, der Mumps, sondern signalisieren lediglich, daß sich selbst ein Peter Paul Rubens auf überkommene malerische Schemata stützte, wenn er ans Arbeiten ging. Die pausbäckigen Kinder stammen nämlich aus einem damals populären Handbuch des malerischen Handwerks, das sich bei der Darstellung von menschlichen Gesichtern auf geometrische Muster berief. 2)

Insofern muß jedem Versuch, die Dinge der Wirklichkeit malerisch darzustellen, die Begriffsbezeichnung ‘Realismus’, wonach die Dinge genommen werden wie sie sind, ungeachtet aller kunsthistorischen Tradition verwehrt werden. Eine Darstellung der Realität, wie exakt sie auch veranschlagt und durchgeführt wird, ist immer eine an der Realität veranstaltete Veränderung. In der Darstellung tritt die Realität dem Betrachter nicht mehr in unmittelbarer Gestalt gegenüber, sondern sie scheint in vermittelter Form auf. Zwischen Realität und Betrachter schiebt sich ein Medium, das dazu benutzt wird, die Sehweise auf die Wirklichkeit – ob bewußt oder unbewußt, das ist in diesem Fall gleichgültig – in eine bestimmte Richtung zu lenken und durch eine bestimmte Perspektive zu regieren. Paradox dabei ist, daß sich der Blick des Betrachters desto eher in eine bestimmte Richtung lenken läßt, je authentischer das Medium die Realität spiegelt.

II.

Das Bild stammt aus dem Jahre 1964. Es zeigt Kopf und Rumpf einer Kuh in Seitenansicht. Als Vorlage für das 130 cm mal 150 cm grosse Bild diente die Fotografie einer Kuh. Möglicherweise war es auch nur die Reproduktion eines fotografischen Abbildes in einer Illustrierten. Die Konturen des Bildgegenstandes sind leicht verwischt, so daß sich eine gewisse Verklammerung zwischen Bildfigur und Bildfond ergibt. Die Verwischung mindert die Plastizität des bildnerischen Vorwurfs. Ansonsten ist die Kuh mit der gleichen fotogetreuen Genauigkeit wiedergegeben, mit der sie das Objektiv der Kamera für die fotografische Vorlage festgehalten hat. Das Bild besitzt die schlichte schwarz-weiß-grau Tönung der (fälschlich derart benannt) Schwarz-Weiß-Fotografie. Im linken unteren Eck des Bildes steht in stattlichen Lettern das Wort ‘Kuh’. Als bildnerischer Gegenstand sind diese Buchstaben der figürlichen Darstellung gleichgeordnet, ein hierarchischer Konflikt findet nicht statt. Dimension und Plazierung der Buchstaben lassen jedenfalls keinen anderen Schluß zu. Titel des Bildes: ‘Kuh’, sein Urheber der in Düsseldorf lebende Maler Gerhard Richter.

Im malerischen Werk Richters nimmt das Bild ‘Kuh’, ebenso wie das Bild ‘Trockner’, das zwei Jahre früher angefertigt wurde und nach demselben Prinzip funktioniert, eine Schlüsselstellung ein. Es macht deutlich, daß Gerhard Richter, zu Beginn der sechziger Jahre voreilig als einer der europäischen Pop-Artisten bezeichnet 3) und zu ihrem Ende hin sozusagen als Vorläufer der Neuen oder Hyper-Realisten abgestempelt, weder der einen noch der anderen Richtung zugerechnet werden kann, daß sich sein Interesse weder auf die künstlerische Auseinandersetzung mit den bildnerischen Insignien der modernen Massenzivilisation noch auf die einseitige, plane Beschäftigung mit dem Medium Fotografie richtet. Richters Interesse kreiste und kreist vielmehr nahezu ausschließlich um das Thema Malerei.

In einem Vergleich wird sinnfällig, was Richters Malerei von der amerikanischen Pop Art unterscheidet.

Im gleichen Jahr wie Richter sein Bild ‘Trockner’, 1962, stellte Andy Warhol sein Bild ‘129 Die’ her. Das Bild hängt heute in der Sammlung Ludwig des Kölner Wallraf – Richartz -Museum. Auf dem Bild ist – in beträchtlicher Vergrösserung – ein Zeitungsfoto aus dem ‘New York Mirror’ vom 2. Juni 1962 zu sehen. Auf dem Foto, die ganze Szenerie beherrschend, der hoch aufgerichtete Flügel eines abgestürzten Verkehrsflugzeugs. Ferner führt das Bild eine Schlagzeile in Großbuchstaben vor, die über dem Foto beginnt mit den Worten ‘129 DIE’ und darunter fortgesetzt wird mit den Worten ‘IN JET’. Am Kopf des Bildes verläuft der Zeitungstitel samt Hinweisen auf Erscheinungsdatum und Nummer der Zeitung. Foto, Zeitungstitel und die Buchstaben sind gemalt, Acryl auf Leinwand. Also nicht, wie in den späteren Bildern Warhols, mithilfe der Siebdrucktechnik fotomechanisch auf den Bildgrund übertragen.

Die beiden Bilder, ‘Kuh’ von Gerhard Richter und ‘129 Die’ von Andy Warhol, besitzen in formaler Hinsicht identische Vorlagen: Fotos und Buchstaben. Durch die Verwendung von Fotos, von technischen Bildreproduktionen der Wirklichkeit, zeugen beide von einer scheinbar ähnlichen Haltung ihrer Autoren sowohl angesichts der Wirklichkeit wie angesichts der Malerei.

In ihren Arbeiten bilden Richter und Warhol die Realität nicht direkt, nicht spontan ab. Was sie abbilden, dies allerdings in unterschiedlich getreuer Manier, ist ein vermittelndes Vehikel zwischen Realität und Betrachter: Richter benutzt die Fotografie eines realen Widerparts, Warhol einen Zeitungsausschnitt, der die Fotografie einer realen Situation enthält. Die Realität, die sie darstellen, ist nicht die eigentliche Realität, die Realität, die sie darstellen, ist die Realität eines Abbildungsmittel, das seinerseits die Realität darstellt. Dieses Abbildungsmittel hat sich durch seine massenhafte Verbreitung längst vor die eigentliche Realität geschoben und verstellt, ja verbarrikadiert aufgrund seiner vermeintlichen Authentizität den Blick auf die Wirklichkeit. Es ist eine Realität aus zweiter Hand entstanden, die Realität der Massenkommunikations-Medien, Illustrierte und Werbung, Film und Fernsehen, die inzwischen alle wesentlichen Informationen über die eigentliche Wirklichkeit transportiert und das allgemeine Bewußtsein von ihr beeinflußt. Infolgedessen wird Wirklichkeit gemeinhin durch die Vermittlung der Realität aus zweiter Hand erfahren – eine unvermittelte, eine unmittelbare Realitätserfahrung kommt kaum je noch zustande.

Diese Vermitteltheit der Realitätserfahrung demonstriert Andy Warhols Bild ‘129 Die’: Die Tatsache eines Flugzeugabsturzes mit dem gewaltsamen Tod von 129 Menschen gerinnt hier zu einem ästhetischen Arrangement aus Foto und effektvoll drapierten Großbuchstaben. Freilich – das ästhetische Arrangement ist nicht – oder nur sehr bedingt – das Resultat eines künstlerischen Eingriffes. Denn ästhetisiert wird der Tod der 129 Menschen bereits durch das Zeitungsfoto, das besonders spektakulär zurechtgeschnitten wurde, und die eindrucksvolle Anordnung der Schlagzeile im ‘New York Mirror’.

Die Wirklichkeit, die Warhol ins Bild hievt, ist zunächst einmal die Realität des Massenmediums Illustrierte Zeitung, die er in Befolgung seines Realitätsverständnisses als eigenständige Realität handhabt, und dann erst, vermittelt durch die Zeitung und mithin entsprechend gefiltert, die Wirklichkeit des Absturzes mit seinen beklagenswerten Ergebnissen.

Durch Isolierung und Vergrösserung symptomatischer Elemente der Massenmedien schärft Warhol das Bewußtsein des Betrachters vom vermittelten Charakter jedweder Wirklichkeits-Erfahrung; die massenhaft reproduzierte Realität, griffig zurechtgemacht und mit kosmetischem Appeal versehen, verliert ihre Schrecken und vermag massenhaft und folgenlos konsumiert zu werden.

Auch Gerhard Richter hat eine Fotografie zum Bildsujet erhoben. Sein Bild weicht jedoch in bezeichnender Weise von dem Warhols ab. Der ausschlaggebende Unterschied besteht darin, daß die Arbeit des amerikanischen Künstlers, wenngleich durch Foto und dessen malerischer Übertragung zweifach vermittelt, der ausserbildnerischen Wirklichkeit gegenüber durchlässig ist. Ein triftiges Indiz liefert die inhaltliche Funktion der Schlagzeile in ‘129 Die’. Die Schlagzeile erweitert den Informationsgehalt des Bildes erheblich, ja genaugenommen erteilt erst die Schlagzeile, wie in der Zeitung ebenfalls, umfassende Auskunft über das Ausmaß der Katastrophe. Das Foto berichtet lediglich von herumliegenden Flugzeugtrümmern. Anders aber als in der Zeitung wird der Schlagzeile in Warhols Bild alleinige Informations-Präzision zugebilligt, kein erläuternder Artikel, als dessen Überschrift sie ursprünglich fungierte, begleitet sie mehr.

Dagegen erfüllt das Wort ‘Kuh’, das Richter im gleichnamigen Bild der bildnerischen Darstellung einer Kuh hinzufügt, eine völlig differente Zweckbestimmung. Es erweitert den bildnerisch fixierten Informationsgehalt nicht, es verweist auf keinen Zusammenhang ausserhalb der bildnerischen Darstellung und dem, was durch die bildnerische Darstellung präsentiert wird. Das Wort ‘Kuh’ verdoppelt bloß den Informationsgehalt der bildnerischen Figur auf einer anderen sprachlichen Ebene.

Richter verfährt bewußt tautologisch. Wortzeichen und Bildzeichen bedeuten dasselbe.

Während sich in Warhols ‘129 Die’ die Autonomie der Realität aus zweiter Hand manifestiert, bricht sich in Richters ‘Kuh’ die Autonomie der Wirklichkeit der Malerei Bahn. Auf eine ungewöhnliche Art indessen. Ungewöhnlich deshalb, weil Richter durch eine realitäts-orientierte Darstellung den Anschein erweckt, als gehe es ihm um die malerische Reflektion der äusseren Wirklichkeit, und sei es um die Reflektion der durch ein Foto vermittelten Wirklichkeit. In Wahrheit aber schlägt sich in der tautologischen Bildstruktur sein primäres Interesse an der Wirklichkeit des Bildes nieder oder an der Möglichkeit, Wirklichkeit im Bild zu fassen, ohne das Bild kraft einer – wie auch immer gearteten – Interpretation der ausserbildnerischen Wirklichkeit in die Rolle ihres illustrativen Begleiters zu zwingen. Das ist der Grund, warum Richter für seine Foto-Bilder möglichst triviale, nichtssagende Motive auswählt. Seine Bilder spielen, von wenigen Ausnahmen abgesehen wie die Porträts der ‘Acht Lernschwestern'(1966), die in den Vereinigten Staaten einem grauenhaften Mordanschlag zum Opfer gefallen waren, auch nicht auf bestimmte Figuren und Situation der Zeitgeschichte an. 1962/63, als er mit der Foto-Malerei anfing, suchte er sich vorwiegend sentimentale, emotionsgeladene Motive aus, Schlösser und Hirsche, 1963/64 malte er Flugzeuge und Autos, Konterfei irgendwelcher Menschen sowie Familienfotos, die von Amateuren aufgenommen waren. 1965 beginnt er, mit seinem Darstellungsverfahren Bilder zu konstruieren, Vorhänge, Papiere und Säulen werden realisiert; Motive, die er 1967 um Türen ausdehnt. Zwischendurch malte er ausserdem wieder Tiere ab, Löwen, und porträtierte Liebespaare. Künstlich arrangierte Akte, derweil schon nach eignen fotografischen Vorlagen, und nicht nach fremden Fotos oder Reiseprospekten, sind neben den Türen die dominierenden Bild-Anlässe des Jahres 1967, das mit den ‘Streifenbildern’ erstmals auch abstrakte Entwurfs-Muster Richters brachte. 1968 wurden Landschaften produziert, Städte- und Gebirgslandschaften aus der Vogelperspektive, danach Landschaften aus Korsika, der Eifel und der Düsseldorfer Gegend bei Hubbelrath, schliesslich Wolken- und Seestücke, und endlich, für die Biennale in Venedig 1972, stattete er den scheußlich prätentiösen deutschen Pavillon, den die Nazis sich einfallen Hessen, mit den Porträts berühmter Leute aus, die er nach persönlichem Gusto aus dem Lexikon sonderte.

III.

Während sich Andy Warhols Bild ‘129 Die’ auf ein tatsächlich passiertes Unglück bezieht, steht die Kuh in Richters Bild nicht für eine bestimmte Kuh; allenfalls, wenn überhaupt, steht sie für die ganze Tiergattung. Sie ist eine bildnerische Chiffre und in der Unbestimmtheit ihrer Aussage der beigestellten Buchstaben-Chiffre vergleichbar.

Der Unbestimmtheit in der Motivwahl entspricht die Unbestimmtheit in der Behandlung der ausersehenen Motive. Richter vermeidet die ausgeklügelte, formale Organisation seiner Bilder. Komposition, sagte er einmal in einem Gespräch, ist, wenn die Figur in der Mitte steht.4) Nicht minder anspruchslos wie die formale Organisation ist die malerische Ausgestaltung. Die vorgetragenen Bildmotive werden niemals nach Maßgabe plastischer Schärfe und Prägnanz ausgearbeitet, so daß sie stets unscharf wirken. Richter verzichtet auf zeichnerische Akkuratesse im Sinne einer penibel korrekten Wiedergabe des fotografischen Vorbildes.

Daß Richter seine Foto-Bilder in einer gewissen Unscharfe verhält, die eine präzise Identifizierung der bildnerischen Details nicht gestattet, hat ihre Ursache vor allen Dingen in der nachdrücklichen Betonung der Bild-Autonomie.

Das Bild wird als eine eigenständige Wirklichkeit, als Ding gewissermassen, begriffen. Dies ist daran zu erkennen, daß Richters Bilder unscharf nur dann sind, wenn man sie, nach der Vorstellung fotografischer Präzision, auf ihre Detailgenauigkeit hin untersucht. Andernfalls ist die Frage nach ihrer Unscharfe gegenstandslos. Hin Bild, das als autonome Wirklichkeit aufgefasst wird und nicht als malerische Anschauung der äusseren Wirklichkeit, zielt nicht auf die sorgfältige Vergegenwärtigung der äusseren Wirklichkeit, sondern auf die Vergegenwärtigung seiner künstlerischen Mittel. In diesem Zusammenhang findet Richters Bemerkung über die vorgebliche Unscharfe in seinen Bildern ihren richtigen Stellenwert: ‘Das, was wir hier als Unscharfe ansehen, ist Ungenauigkeit, und das heisst Anderssein im Vergleich zum dargestellten Gegenstand. Aber da die Bilder nicht gemacht wurden, um sie mit der Realität zu vergleichen, können sie nicht unscharf sein oder genau oder anders (anders als was? ). Wie sollte zum Beispiel Farbe auf Leinwand unscharf sein?’ 5)

In seinen Bildern schafft Gerhard Richter ein aussergewöhnlich labiles Gleichgewicht zwischen der Aussage der dargestellten Bildgegenstände auf der einen Seite und den Mitteln, die die Gegenstände veranschaulichen und ihnen in der malerischen Form das spezifische Aussehen verleihen, auf der anderen. Da der Betrachter schwerlich in der Lage ist, die Besonderheiten der dargestellten Motive zu erkennen, weil sie verschwommen aufgemalt sind, und je näher er an das jeweilige Bild herantritt, desto schwieriger ist es, wird seine Aufmerksamkeit auf die malerische Behandlung der Motive gezogen. Die Wirklichkeit der malerischen Mittel, etwa die Farbe und der Farbauftrag, überlagert die Realität des Bildgegenstandes, dessen Wirklichkeitswert ohnehin schon durch seine offenkundige Belanglosigkeit und den Umstand reduziert ist, daß es sich um einen fotografisch reproduzierten Realitätsfaktor handelt.

Wie in Warhols ‘129 Die’ ist der Bildnerische Gegenstand in Richters Arbeiten zweifach vermittelt. Aber im Gegensatz dazu begnügt sich Richter nicht mit dem puren Aufblasen der fotografisch vermittelten Realität. Das ist im Endeffekt auch eine manipulative Interpretation der Wirklichkeit. Richter hinterfragt vielmehr die Eindeutigkeit dieser Realitätserfahrung abermals und zweifelt, indem er die fotografisch reproduzierte Realität gegen die Wirklichkeit des Bildes und seiner Mittel ausspielt, an, daß sie unmittelbaren Charakter habe.

Ist Warhols Verhältnis zur Wirklichkeit von der Vorstellung beherrscht, daß Wirklichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation allein über die Vermittlung der Massenmedien erfahren werden kann, äussert sich in Richters Bildern, eher skeptisch europäisch, der prinzipielle Zweifel an jeglicher definitiven Wirklichkeits-Erfahrung. Was Richter um jeden Preis verhindern will, ist, seinen eigenen Worten zufolge, daß einer vor seinen Bildern sagt, ‘Aha, so sieht der die Welt, das ist seine Interpretation’. 6)

Seine Einstellung verschärfte er noch in einem privaten Brief an Jean-Christophe Ammann: ‘Schon jetzt ist die Frage nach dem Sinn des Lebens lächerlich, und Sinngebung unmenschlich’. Richter formuliert klar seine Absage an solche Positionen gegenüber der Wirklichkeit, die einen Absolutheitsanspruch postulieren und aus diesem Absolutheitsanspruch die Folgerung ableiten, der Wirklichkeit einen definitiven Sinn verleihen zu müssen.

Das heisst aber nicht, dass sich Richter einer Stellungnahme zur Wirklichkeit geschickt entwindet. Nur fällt seine Stellungnahme differenzierter, pragmatischer aus. Sie entbehrt des kategorischen Imperativs des ‘so-ist-es-und-nicht-anders’. Doch ebensowenig ist seine Haltung ohne Perspektive. Gleichwohl steht Richters Perspektive nicht zur Debatte, um sie dem Betrachter nicht als die eigene aufzudrängen. Richter betont stattdessen die Vermitteltheit der von ihm dargestellten Realität, indem er die dialektische Beziehung zwischen Dargestelltem und Mittel der Darstellung offenlegt. So wird die Vermitteltheit der Darstellung für den Betrachter einsichtig. Richter bietet gleichsam ein Gerüst an, das der jeweils individuellen Perspektive des Betrachters einen Bezugsrahmen stellt.

Eine Rechtfertigung erfährt Richters Haltung durch das Denken der modernen Philosophie. In seiner ‘Phenomenologie de la perception’ fragt sich Maurice Merleau-Ponty: ‘… Wie kann ich die Welt als ein tatsächlich existierendes Individuum erfahren, wenn keine der Perspektiven, unter denen ich sie betrachte, sie zu erschöpfen vermag und die Horizonte immer offen sind? ‘, und stellt anschliessend fest, ‘… Der Widerspruch, den wir zwischen der Realität der Welt und ihrer Unabgeschlossenheit finden, ist derselbe wie der zwischen der Allgegenwärtigkeit des Bewußtseins und seinem sich Engagieren in einem Gegenwartsfeld… Diese Ambiguität ist nicht die Unvollkommenheit des Bewußtseins oder der Existenz, sondern die Definition davon… Das Bewußtsein, das als Ort der Klarheit gilt, ist vielmehr der eigentliche Ort der Äquivokation’.

In seinen Bildern schreitet Gerhard Richter – um mit Merleau-Ponty zu reden – die ‘offenen Horizonte’ der Wirklichkeitserfahrung ab und überprüft beständig seine Position. Die unaufhörliche Überprüfung verwirklicht sich dadurch, daß Richter allmählich das Gewicht von der Erscheinung seiner Bilder, dem Resultat, auf den Prozeß der Herstellung, das Machen, verlagert. Das Machen, verstanden als eine unentwegt versuchte Annäherung an die Wirklichkeit in dem Bewußtsein, allenfalls Analogien, strukturelle Entsprechungen zur Wirklichkeit hervorbringen zu können, die ihren Realitätswert zunächst in sich selber tragen. Im Machen vergewissert sich Richter der Wirklichkeit. Das erklärt auch das seit 1968 immer stärker werdende Bestreben, Bilder herzustellen, die nichts weiter als den Prozeß des Machens spiegeln.

Richters Werk ist gekennzeichnet durch das schroffe Nebeneinander von Bildern, die auf Fotovorlagen beruhen, und Bildern, in denen sich ausschliesslich Spuren der malenden Hand artikulieren, von Bildern, die einem abstrakten Expressionismus huldigen und Bildern, die in einem gegenständlichen Expressionismus gehalten sind. Richter verweigert sich konsequent einem bestimmten künstlerischen Stil, weil ein Entscheid für einen bestimmten künstlerischen Stil auch stets eine Fixierung auf eine eng umrissene Wirklichkeitssicht bedeutet. Da ihm dies zuwiderläuft, ist der permanente Stilbruch zu seinem Stilprinzip geworden. Ob Richter ein Foto malerisch übersetzt und dabei den Eigenwert der künstlerischen Mittel, den Realitätswert des Bildes unterstreicht, ob er einen grauen Farbbrei oder einen aus den Farben Blau, Rot, Gelb und Weiß bestehenden über die Leinwand verteilt und die Bahnen des Pinsels zu einem undurchdringbaren Gewirr von Farbbahnen verschlingt, ob er eine Anzahl von rechteckigen Farbfeldern nach einem genau kalkulierten System miteinander mischt, um aus den daraus gewonnenen Farben neue Farbfelder einzurichten, oder ob er einen winzigen Ausschnitt eines von ihm gemalten Bildes mithilfe der Fotografie herauslöst und danach zu einem riesigen Tableau vergrössert – durchgängig bleibt ein generelles Mißtrauen spürbar, sich eindeutig festzulegen.

Eindeutig ist nur die Wirklichkeit des Bildes. Diese wird mit jedem neuen Bild jedes Mal aufs neue erobert. Einem steten Wechsel unterworfen, und damit mehrdeutig, ist hingegen der Bezug der Bilder zur ausserbildnerischen Wirklichkeit. Auch wo die Bilder – namentlich in den auf fotografischer Basis beruhenden Arbeiten – eine vage Transparenz im Verhältnis zur äusseren Wirklichkeit aufscheinen lassen, gerieren sie sich nicht als Interpretationen der Wirklichkeit, sondern können allenfalls als erkenntnistheoretische Analogien gewertet werden. Ihr Realismus ist in ihrer Wirklichkeit fundiert; und in der künstlerischen Haltung, die darin eingeflossen ist.

Ein Vergleich eines der letzten Bilder Gerhard Richters, die malerische Projektion eines kleinen Ausschnitts bemalter Leinwand auf ein weit grösseres Format, mit einem Bild des amerikanischen Foto-Realismus’, mit Ralph Goings blendendem Bild ‘Airstream’ (1970), ebenfalls in der Ludwig-Sammlung beheimatet, belegt, was gemeint ist. Goings setzt seine beträchtlichen malerischen Fähigkeiten ein, um ein Farbdia so mustergültig wie möglich auf die Leinwand zu übertragen. Die an sich schäbige Realität eines metallen schimmernden Wohnwagens inmitten einer ausgedorrten, sonnendurchfluteten Landschaft erhält durch die Farbqualität des Dias, die Goings unglaublich perfekt nachzuahmen versteht, einen ‘aufgeschönten’ Anstrich. Das genau eingefangene Licht überglänzt das gesamte Bild und taucht es in eine gelackte Atmosphäre.

Exemplifizierte Andy Warhols ‘129 Die’ noch, daß die Massenmedien vermittels ihrer medialen Struktur die schroffen Kanten der Wirklichkeit abschleifen und die Wirklichkeit unangemessen ästhetisieren, öffnete er die Augen für eine falsche und verlogene Sicht der Wirklichkeit, verschleiert Goings den Blick wiederum, indem er die malerischen Mittel in den Dienst einer einseitigen, und schon dadurch verlogenen Realitätssicht stellt, ohne deren ostentative Einseitigkeit zu akzentuieren. Demgegenüber beruft sich Richter in seinem Bild allein auf die Wirklichkeit der malerischen Mittel. Die malerischen Mittel werden durch die Prozeduren des Abfotografierens und des darauf folgenden Abmalens in einer, für die Malerei bis dahin unbekannten Mehrdeutigkeit erfahrbar: als selbständige Realitäten und zugleich als vermittelnde Zeichen, die aber nichts anderes als sich selbst vermitteln.

Das tautologische Prinzip, das in Richters Bild ‘Kuh’ inhaltlich ablief, um die inhaltliche Dimension des Bildes zu durchkreuzen, feiert in Richters jüngsten Bildern unter neuen Vorzeichen eine Wiedergeburt. Verdoppelt wird nicht mehr ein, wenngleich banales, inhaltliches Element, verdoppelt wird das autonom gewordene Darstellungsmittel, das seinen darstellenden Charakter verloren hat. Richter treibt seinen Realismus der Tatsachenfeststellung bis zur – fast absurden – Konsequenz, indem er ihn beständig relativiert. Mit dem Ergebnis: das tautologische Prinzip bewirkt keine Verstärkung, im Gegenteil, es bewirkt eine Abschwächung der festgestellten Tatsachen. Was ist wirklich in Richters Bildern? Die Schwierigkeit, mit der Malerei die Wirklichkeit adäquat zu beschreiben, zu spiegeln, zu reflektieren, zu durchdringen – und wie die vielen schönen Worte heissen mögen -, wird in Richters jüngsten Bildern physisch, sinnlich evident. Daß Gerhard Richter das sinnliche Moment in seinen Bildern niemals vernachlässigt hat, ungeachtet ihrer teilweise ausserordentlich komplizierten Dialektik, daß diese komplizierte Dialektik sogar beim Betrachter physisch spürbar wird, hat Lawrence Alloway wohl Vorjahren dazu geführt, Gerhard Richter als ‘heute Europas grössten Maler’ 8) zu bezeichnen.

IV.

Von Courbet hat Walter Benjamin behauptet, das Besondere seiner Stellung habe darin bestanden, daß er der letzte Maler gewesen sei, der versuchen konnte, die Fotografie zu überholen. 9)Benjamin hatte zuvörderst das Technische im Auge, wenn er Courbets Bild ‘Die Woge’ als Beispiel für seine These nahm. Vor Erfindung der Detailaufnahmen in den Fotografie habe das Bild einen echten Detail-Ausschnitt der Wirklichkeit aufgeboten. Courbets ‘Malerei zeigt ihr (der Fotografie – Verf.) den Weg. Sie rüstet eine Entdeckungsfahrt in eine Formen- und Strukturwelt aus, die man erst mehrere Lustren soäter auf die Platte zu bringen vermochte’. 10)

Sieht man die Verbindung zwischen Malerei und Fotografie ähnlich eng wie Walter Benjamin, kann man nicht umhin, ihm zuzustimmen. Denn seither hat sich das Verhältnis umgekehrt. War bis dahin die Fotografie durch die Malerei befruchtet worden, nicht ohne, daß es ihr zum Schaden gereichte, hat seither die Fotografie einen beispielhaften Siegeszug angetreten und liefert jetzt der Malerei – wie im Hyperrealismus am unweigerlichsten – die maßgeblichen Anregungen. Derzeit wäre die Malerei, und nicht nur die im Hyperrealismus geförderte, ohne die Hilfestellung der Fotografie nicht denkbar. Zumindest nicht eine Malerei, die in irgendeiner Form auf die Wirklichkeit abhebt.

Auch Gerhard Richters Bezug zur Fotografie ist unbestritten. Aber seine Beziehungen zur Fotografie sind weder von dem Bestreben getragen, der Fotografie durch malerische Methoden den Weg zu weisen, noch die Malerei quasi zum Festtagsgewand der Fotografie hochzustapeln durch die malerische Behandlung der fotografischen Konterfeis. Richters Foto-Bilder nobilitieren die Fotografien, die jeweils den Vorwurf lieferten, nicht. 11) Das grundsätzliche Neue in der Position von Gerhard Richter liegt darin, daß er die Fotografie mit den Mitteln der Malerei forciert. In einem Interview erklärte er: ‘Es geht mir ja nicht darum, ein Foto zu imitieren, ich will ein Foto machen. Und wenn ich mich darüber hinwegsetze, daß man unter Fotografie ein Stück belichtetes Papier versteht, dann mache ich Fotos mit anderen Mitteln, nicht Bilder, die was von einem Foto haben. Und so gesehen sind auch die Bilder, die ohne Fotovorlage entstanden (abstrakte usw.), auch Fotos’. 12) Mit Mitteln der Malerei, denen er durch die fortwährende Betonung ihrer Eigenwirklichkeit die Funktion, Wirklichkeit darzustellen, abgetrieben hat, konterkariert Richter die Fähigkeit der Fotografie, Realität zu suggerieren. Dabei ist deren Kraft so überwältigend, daß sich gemeinhin die Vorstellung durchgesetzt hat, Fotos könnten nicht lügen.

Richter ist Realist eher im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs als in philosophischer Hinsicht. ‘Ich glaube, jeder fängt so an, sieht irgendwann Kunstwerke und möchte ähnliches machen. Man möchte das, was man sieht, was überhaupt da ist, begreifen 13) und versucht es abzubilden. Später merkt man dann, daß man die Wirklichkeit gar nicht darstellen kann, daß alles, was man macht, immer nur sich selbst darstellt, also selbst Wirklichkeit ist.’ 14) Wirklichkeit wird erst wirklich durch ihre Verwirklichung.

Legitimiert wird Richters Standort durch die Entwicklung der Kunst seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts. Mit Edouard Manets Proklamation: ‘Ich male, was ich sehe’ erfolgte in der Malerei eine tiefgreifende Wandlung. Im Impressionismus, der Manets Forderung noch einleuchtender illustriert als seine Malerei, wurde die Tendenz angebahnt, die Mittel der malerischen Darstellung von dem Auftrag zu befreien, etwas ausserhalb ihrer Befindliches zu beschreiben. Mit der impressionistischen Malerei beginnt die Emanzipation der darstellenden Mittel. Die Repräsentation von Realität im Rahmen einer malerischen Darstellung wurde ersetzt durch die Präsentation der Wirklichkeit des malerischen Mittels. Im Falle der impressionistischen Kunst, die Präsentation des malerischen Mittels Farbe, deren eigene Wirklichkeit als materielle Qualität in der Zersplitterung der geschlossenen malerischen Flächen sowohl der vorhergegangenen naturalistischen als auch der akademischen Malerei zugunsten einer losen Verflechtung einzelner monochromer Farbflecken herausgestellt wurde. Indem der einzelne Farbfleck-, unbeschadet der Tatsache, daß die Summe der verschiedenen Farbflecken ein relativ gleichmässiges Erscheinungsbild abgeben sollte, durch die impressionistische Maltechnik exponiert wurde, wechselte der Blickwinkel der Kunst von der Interpretation der Wirklichkeit zur Versicherung ihrer materiellen Bedingungen und Gegebenheiten. Aus negativer Sicht, die ihn als einen idealistischen Kritiker (besser: von einer bestimmten Wirklichkeits-Sicht argumentierenden) erkennen lässt, bestätigt Benjamin diese Entwicklung, wenn er davon spricht, daß im Impressionismus der ‘Argot der Ateliers’ die ‘echte Theorie’ zurückgedrängt habe.

Das Hinnehmen der Wirklichkeit, das Innewerden, das Sich-Vergewissern der Dingwelt, der ‘äusseren Realität’, wie es Siegfried Kracauer genannt hat16), geschieht zunächst in der impressionistischen und nach-impressionistischen Kunst über das Innewerden und Sich-Vergewissern des künstlerischen Materials. Später im Material-Realismus, im Ding-Realismus eines Marcel Ducbamp, über das Hinnehmen des Ding-Arsenals der Gegenstandswelt. Duchamps Entschluß, einen Flaschentrockner, ein vorgefertigtes Industrie-Produkt, aufs Podest zu stellen und zum Kunstwerk zu deklarieren, ist der gleichen Wirklichkeits-Haltung verpflichtet, die sich in Manets Satz ausspricht. Wirklichkeit wird realisiert, ohne daß ihr Erscheinungsbild von einer vorgewußten Perspektive reguliert wird; sie wird realisiert in der Bedeutung des Wortes ‘realisieren’, die darunter versteht, ‘sich der Realität eines Tatbestandes bewußt zu werden’. 17)

‘Diese konsequent fortschreitende… Entwicklung lässt nur ein einziges Ziel des neueren Realismus erkennen: die Überwindung des alten philosophisch lizensierten Kunstbegriffs, d.h. das Eliminieren einer absolut höheren Realität zugunsten der vorgefundenen. Allein dieses Kriterium erscheint für die Bestimmung dessen, was ‘Realismus heute’ ist oder sein kann, von Belang, woraus beiläufig erhellt, daß Realismus kein (hervorgehoben vom Verf.) Synonym für ‘Abbildung von Realität’ ist: die Erfahrung nämlich, daß selbst Fotos lügen können, hat jeglicher ‘Darstellung’ der Realität durch Malerei, jeder gegenstandsbezogenen, interpretierenden Wiederspiegelung der Wirklichkeit die intendierte Überzeugungskraft genommen…. Der neue Realismus – wie er im Material-Realismus am reinsten zum Ausdruck kommt – ist nicht mehr die Kunst der Philosophen und Priester; er kennt keine ‘gemeine Realität’, die sich ins Besondere hineinstilisieren lässt, sondern verweist ‘nur’ auf die Realität, die sich wahrnehmen lässt’. 18)

Eine frühere Aussage von Gerhard Richter bekräftigt Johann Heinrich Müllers Schlußfolgerung. ‘Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Leute auf der Welt’. 19) Nicht kühne Überschätzung der eigenen Möglichkeiten drückt sich in Richters euphorischem Satz aus, sondern die Bescheidenheit eines Künstlers, der sich buchstäblich durch Handwerk, durch das Malen von Bildern – ‘Ich male unwahrscheinlich gern’ 20) – die Wirklichkeit aneignet und Wirklichkeit, die man wahrnehmen kann, realisiert. Und zugleich damit vermittelt er das Gefühl für die Brüchigkeit einer jeden Wirklichkeits-Sicht, weil er, mißtrauisch gegenüber apodiktischen Festlegungen, die Grenzen von Malerei und Fotografie im Hinblick auf eine Darstellung der Wirklichkeit aufzeigt. Mit den Mitteln der Malerei. Ein intellektuelles Problem wird umgesetzt in sinnliche Erfahrbarkeit.

ANMERKUNGEN UND HINWEISE:
1) E.H. Gombrich: ‘Kunst und Illusion’, Köln 1967, p. 433
2) ebenda p. 193 ff Gombrich spielt hier auf die im 17. und 18. Jahrhundert besonders verbreiteten Musterbücher an, die gewissermassen die Schemata zur Figurenzeichnung vorschrieben. Er führt die Mumps-Gesichtigkeit der Kindergesichter bei Rubens auf ein Musterbuch von Sebald Beham zurück, der sich seinerseits auf Dürer stützte.
3) in einem Gespräch mit dem Verfasser, ausserdem siehe Gespräch mit Wolf Schön, Katalog ‘Gerhard Richter’, Essen, Biennale, 1972, p.23 ff
4) op. cit. p. 20
5) ebenda
6) Zitiert nach Umberto Ecco ‘Das offene Kunstwerk’, Frankfurt, 1973, p. 51. Überhaupt liefern einige Aufsätze Eccos hervorragendes Material für eine Interpretation des Werkes von G.R.
8) Gewährsmann hierfür ist Heinz Ohff in ‘Pop und die Folgen’, Düsseldorf, 1968 Walter Benjamin: ‘Gesammelte Schriften’, Bd. Ill, Frankfurt, 1972, p. 503 – Paris-Brief II, Untertitel: ‘Photographie und Malerei’,
9) ebenda
10) Benjamin zitiert Gisele Freund, die nachgewiesen hat, daß die Diskussion, ob Fotografie eine Kunst sei oder nicht, erst von denen angefacht worden sei, die aus der Fotografie ein Geschäft machen wollten. Benjamin schlußfolgert (op.cit. p. 501): ‘Mit anderen Worten: Der Anspruch der Photografie, eine Kunst zu sein, ist gleichzeitig mit ihrem Auftreten als Ware’. Auch Richters Bilder sind Waren im Kunstbetrieb, aber ihr Warencharakter wird von Richter unterminiert durch eine besonders schäbige oder penetrant schöne Malweise, die seine Bilder auf die Dauer unerträglich zu machen scheinen, und das Bestehen des Malers auf einen niedrigen Kurswert. Siehe auch Klaus Honnef in Katalog Biennale, p. 13 ff.
11) Katalog Biennale, ‘Gerhard Richter’, Essen, 1972, p.23
12) Man spürt förmlich die Doppeldeutigkeit des Begriffs ‘begreifen’ heraus. Das intellektuelle Erfassen seines Dinges geht einer mit dem haptischen Sich-Vergewisserns.
13) Katalog Biennale, a.a.O.
14) Zitiert nach Johann Heinrich Müller, ‘Kunst gegen die Philosophen’, Katalog Realismus-Realität-Realismus, 1972, p. 24
15) Siegfried Kracauer, ‘Theorie des Films’, Frankfurt, 1964
16) Philosophisches Wörterbuch, 18. Auflage, Stuttgart, 1964, Stichwort ‘Realist’.
17) Johann Heinrich Müller a.a.O.
18) Zitiert nach Rolf Gunter Dienst in Katalog Biennale, a.a.O. p. 20
19) In einem Gespräch mit dem Verfasser