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Titel: Das Gartenarchiv · von Paolo Bianchi · S. 55 - 113
Titel: Das Gartenarchiv , 1999

PAOLO BIANCHI
Das Archiv als Weltgarten

GARTEN – GÄRTNER – GEDÄCHTNIS

Bibliotheken und Archive in den gleichen Topf zu werfen, das hieße, Buchstabensuppe und rohes Gemüse in einem zu verschlingen. Kinder würden rebellieren. Zwischen Bücherwänden bewegt sich der Bibliothekar als Baumeister einer Fiktion. Den Nacken über ein Buch gebeugt, sitzt er über einer Bleiwüste, einem Meer von Möglichkeiten. “Jeder Text ist ein Fächer, den der Leser aufschlägt”, sinniert Hans Magnus Enzensberger. Das lesende Auge erfährt Dinge gleichzeitig, Zeitebenen durchdringen sich, Geschichten riechen nach Fisch oder bleiben abstrakter als das Anlegen eines Schiffes am Kai.

Der Archivar bietet zu all dem einen Gegenentwurf. Nach allen Reisen und Recherchen kehrt er, wie Kinder aus den Ferien, mit kleinen Dingen in der Mappe zurück: von Pisa mit einem schiefen Miniaturturm, vom KGB einen Stempel, aus Australien mit einer Baumrindenzeichnung der Aborigines, vom Verstorbenen mit einem Beileidsbrief. Die Rituale des Archivars tragen alles in die Zeit zurück. Jede noch so verwirrte Sammlung bestätigt das Dasein ihres Sammlers. Aus dem Nichts schöpft der Archivar seine Geschichte und versichert sich seiner Identität.

Der Bibliothekar gleicht dem Förster, der Archivar dem Gärtner

Bibliotheken erinnern an Wälder. Nicht nur, weil Bücher, salopp gesprochen, aus Bäumen gemacht sind, und so gesehen der Mensch seine Bildung vom Baum bezieht. Auch darum, weil die “Klassiker”, die “Leuchttürme”, die “Wegweiser” europäischer Intellektualität sich in den Regalen wie ein Heer präsentieren. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und Zahl müßten das Herz eines jeden Büchernarren erfüllen. Den Nazis wurde die Gewalt des Waldes zu ungeheuerlich,…


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