Der Kunst-Spin
Autor*innenmodelle und Identitätskonstruktionen
von Heinz Schütz
Kunst ist ein Produkt, das von einem einzelnen Künstler oder einer Künstlerin hergestellt wird. Diese als konstitutiv erachtete, Künstlerinnen lange Zeit weitestgehend ausschließende Beziehung, wurde im westlichen Kontext über Jahrhunderte einstudiert. Sie prägt bis heute das Kunstverständnis, auch wenn inzwischen das Kunstkollektive zunehmend in den Fokus rückt und im digitalen Raum Algorithmen die personale Autor*innenschaft abzulösen beginnen. Bis heute weist das traditionelle Produkt Kunst in einer spinartigen Bewegung nicht nur auf sich und über sich hinaus auf die Welt, sondern insbesondere auch auf die Künstler*innen. Der auktoriale Rekurs bedingt, dass sich Produkt und Produzent*in ineinander spiegeln und dabei Bedeutungen generieren. Der / die Produzent*in als quasi individualisierte „Marke“ labelt das Produkt, während das Produkt das Wissen um deren „Produktpalette“ bestätigt, respektive erweitert.
Der spezifische Produkt-Produzent*innen-Spin unterscheidet Kunst von anderen Produkten. Im Gegensatz dazu, spielt im Umgang mit technischen Geräten das Wissen um die Erfinder*innen keine Rolle. Im Handwerk verschwinden die Hersteller*innen hinter dem Produzierten. Die industrielle Produktion erfolgt kollektiv als „Arbeitsteilung“ zwischen Menschen und Menschen und Maschinen, wobei die auf Gewinnmaximierung programmierten Maschinen den Rhythmus vorgeben. Überschrieben werden die einzelnen und kollektiven Arbeits-Leistungen mit dem Namen der als Produzent auftretenden Firma und mit Markenzeichen. Der überlieferte Kunstbegriff hingegen lenkt die Aufmerksamkeit auf die einzelnen und idealiter als singulär erachteten Produzent*innen. Dabei spielt die Signatur eine nicht zu unterschätzende Rolle. Was bei Industrieprodukten Markennamen und Logos sind, ist in der Kunst der Name der Künstler*in und die Signatur.
Die Signatur
Frühe Vorläufer von Signaturen finden sich bereits in mittelalterlichen Inschriften auf Gebrauchsgegenständen und Architekturteilen, ebenso wie bei gemalten Bildern und Bildhauereien. Der Name des Produzenten wird dabei mit der Standardformel „hunc fecit“ (hat dies gemacht) kombiniert, aber auch mit der Formulierung „me fecit“ (hat mich gemacht), eine Formel, die das Produkt zum sprechenden Subjekt erklärt, das auf seinen „Erzeuger“ verweist. Neben den, aber auch anstelle der Produzenten nennen die Inschriften immer wieder Auftraggeber und Stifter, deren Macht sich nicht zuletzt in der Formel „fieri ussit“ (hat mich zu machen befohlen) zeigt und der die „handwerkenden“ Produzenten ausgeliefert sind. – Eine andere Art von „Signatur“ zeigt sich übrigens in den Selbstporträts, die Künstler*innen in ihre Bildszenarien hineinmalen oder in den Selbstdarstellungen von Bild hauer*innen als Teil der figurativen Architekturornamentik.
Im Übergang vom „Mittelalter“ zur „Renaissance“, als sich Kunst als eigenständiges Terrain vom Handwerk abzugrenzen beginnt, wandern die Inschriften, die zuvor noch außerhalb des Bildes auf dem Rahmen standen, als Signatur ins Bild. Damit wird der Verweis auf den Produzenten dem Bild realiter eingeschrieben. Als Bildbestandteil besiegelt die handschriftliche oder mongogrammatische Signatur den „Schöpfungsakt“. Sie deklariert das Bild zum Werk des genannten Künstlers und bestätigt so die „unumstößliche“ Kunst-Produzent-Produkt-Verbindung.
Externe Kunstfaktoren und kollektive Koproduktion
Ein Projekt des Künstlers Tim Beeby verdeutlicht die Funktion der Signatur im Kontext der Gegenwart und bringt Faktoren ins Spiel, die über das optisch wahrnehmbare Bild hinausweisen und die Bedeutung von Kunst von außen bestimmen. In unsigned untitled undated stellt Beeby seine Bilder nach Größe sortiert in Bilderstapeln aus. Wer will, kann ein Bild mitnehmen, er / sie kann es aber auch signieren, datieren und betiteln lassen, was dazu führt, dass der Künstler das ausgewählte Bild in sein Werkverzeichnis aufnimmt und ein festgelegter Verkaufspreis bezahlt werden muss. Ohne Signatur und ohne Kenntnis des / r Produzent*in läuft der Kunst-Spin ins Leere. Benennt und bestätigt die Signatur hingegen die Autor*innenschaft, wird Kunst als Original potenziell markt tauglich. Der Marktwert wiederum kann, aufgrund der (irrigen) Annahme, dass Preis und Bedeutung des Produkts Kunst korrelieren, seine Wertschätzung womöglich steigern. Hinzu kommt, dass die aufs Spektakuläre fixierten Medien die am höchsten bezahlte Kunst „ikonisieren“.
Der / die Produzent*in als quasi individualisierte „Marke“ labelt das Produkt, während das Produkt das Wissen um deren „Produktpalette“ bestätigt, respektive erweitert.
Neben dem Marktwert gibt es ein Bündel kunstdeterminierender Faktoren und ein Kollektiv von Ko-Produzent*innen, denen explizit keine Autor*innenschaft zugesprochen wird, die aber doch das Produkt Kunst mit zu dem machen, als was es erscheint. Dieses Kollektiv, das neben den Künstler*innen die Kunstwelt bildet, ist keineswegs homogen – die einzelnen Akteur*innen vertreten unterschiedliche Interessen und Positionen – aber es ist wirkungsmächtig. Kurator*innen bestimmen was öffentlich zu sehen ist, wobei sie mit Bedeutung generierenden Konzepten zu „Metakünstler*innen“ werden. Das leitende Museumspersonal entscheidet was in die Sammlung aufgenommen und kanonisiert wird, was in den Schausälen sichtbar ist und was – oft für immer – im Archiv verschwindet. Potente Sammler*innen bestimmen mit ihren Einkäufen, welche Kunst am Markt floriert. Hinzu kommen Kunsthistoriker*innen, -kritiker*innen und -theoretiker*innen, die mit Büchern, Katalogen und Medienbeiträgen Bedeutungen konstruieren und auf Kunst öffentlich aufmerksam machen, wobei Websites und soziale Plattformen eine neue Dimension schnelllebiger, Aufmerksamkeit generieren. Selbst die Tourismusindustrie steigert, wenn sie Kunstattraktionen ins Programm nimmt, deren „popkulturellen“ Wert.
DAS ORIGINAL
Der Körper des Originals und die imaginierten Künstler*innen
Bis heute herrscht die Vorstellung, Kunst werde von einem Künstler oder einer Künstlerin eigenhändig produziert, was nicht zuletzt ihren Status als Original garantiere. Spätestens seit Readymade, Konzept- und Performancekunst ins Spiel gekommen sind, lässt sich diese Vorstellung allenfalls noch auf ein Teilsystem der Kunst anwenden und doch ist es aufschlussreich, Kunst unter dem Aspekt „Handschrift“ und „Körperspuren“ zu betrachten. Individuelle Eigentümlichkeiten des Farbauftrags und der Zeichnung verweisen, wie die Signatur, auf die Handschrift des / r Künstler*in. Sie lassen sich als deiktische Zeichen interpretieren, als Körperspuren der Produzent*Innen, die der Bildmaterie eingeschrieben sind und den Status des Produkts Kunst als Original untermauern. Die Imagination, die Künstler und Bildkörper in Verbindung bringt, erinnert an den Reliquienkult. Für beide gilt: Die Bedeutung des Bildes (der Reliquie) erscheint umso größer, je mehr Bedeutung dem Künstler (Heiligen) zugesprochen wird. Hat der Ruhm – er ist ein Produkt der kollektiven Imagination – ein bestimmtes Level erreicht, findet eine Umkehrung statt: Nicht so sehr die Werke machen nun den Künstler oder die Künstlerin bedeutsam, sondern der berühmte Name die Kunst.
Das Reprodukt als Original
Fame as Fame
Die Singularität von ikonischen Bildern und Stars jeder Couleur basiert heute ganz entscheidend auf ihrer medialen Präsenz und damit der reproduktiven Zirkulation. Andy Warhol, der die ikonologische Verklärung der „primären Wirklichkeit“ thematisiert und selbst betreibt, macht sich diesen Mechanismus zu nutze. Mit seinen Star- und Markenbildern greift er auf massenhaft reproduzierte Objekte, Bilder und Motive zurück. Marilyn Monroe ist ein äußerst populärer Filmstar und das von Warhol als Vorlage benützte Foto wurde bereits für Werbezwecke verwendet. Popularität und durch Reproduktion ermöglichte Omnipräsenz verbinden so heterogene Motive wie Campbell’s Suppendosen und Goethe, Joseph Beuys und Queen Elizabeth, Mao Tse-tung und Schloß Neuschwanstein. Warhol kaschiert die Reproduktionsmechanismen nicht, im Gegenteil, er thematisiert sie und produziert Originale. Wenn er Bildreproduktionen auf einer Grundfläche seriell neben- und untereinander druckt, entsteht ein singuläres Bild. Bei seinen Siebdrucken begrenzt er die Auflage und signiert sie. Der Kult der Signatur verändert offensichtlich den ontologischen Status des Drucks. Zieht man Warhols immensen Erfolg in Betracht, hat sich offensichtlich der „Fame“ der von ihm verarbeiteten Stars und Marken, auf ihn und seine Bilder übertragen. Er zeigt sich nicht zuletzt in Wahols Marktwert. Das Unikat Shot Sage Blue Marilyn von 1964 wurde jüngst für 195 Millionen Dollar versteigert.
Der Flaschentrockner
Auf gewisse Weise noch radikaler als Warhol, der die Brillo Boxes nachbaut und die Vorlagen seiner Siebdrucke mit unterschiedlichen Farben designt – ein digitales Äquivalent findet sich heute im Umgang mit Fotoshop und Fotofilter – ließ Marcel Duchamp mit seinen Ready-mades die Annahme hinter sich, dass Kunst ein eigens und womöglich eigenhändig hergestelltes Künstler*innen-Produkt ist. Bereits 1914 erwarb er einen Flaschentrockner, einen industriell produzierten Gebrauchsgegenstand, den er beschriftete signierte und als Ready-made zum Kunstwerk erklärte. Auch hier macht die Signatur ein Reprodukt zum Original. In Duchamps Ready-mades ist nicht nur eine Neudefinition künstlerischer Autor*innenschaft angelegt, sondern auch die Konzeptualisierung von Kunst und nicht zuletzt ein Neuverständnis des Verhältnisses von Kunstproduzent*in und Kunstrezipient*in. Im Verhältnis von Künstler*in und Publikum sieht Duchamp zwei Pole, die gleichberechtigt an der Werkkonstitution beteiligt sind, wobei „Publikum“ auch die „Nachwelt“ mit einschließt.
Sturtevant
Mit dem Blick auf Kunstpraxen, die in den Achtzigerjahren florierten und die mit referenziellen Anspielungen auf bereits bestehende Kunst operierten, etablierte sich der Begriff „Appropriation Art“. Sturtevant, die bereits Mitte der Sechzigerjahre begann, Kunst zu wiederholen, lehnte den Begriff zur Kategorisierung ihrer Kunst entschieden ab. Jenseits von Referenzen, Aneignungen und Kontexten ging es ihr um die Wieder-Holung von jener Kunst, die sie als maßgeblich erachtete. Anders als das Prinzip Readymade, griff sie Bestehendes nicht nur auf, sondern produzierte es mit den ursprünglichen Verfahren, Werkzeugen und Materialien neu. Das übergeordnete Konzept spielt dabei eine Rolle, das Entscheidende jedoch ist die materiale Realisation, für die nun zwei Künstler*innen von Bedeutung sind. In ihren Titeln – Warhol Flowers oder Beuys Fettstuhl – thematisiert Sturtevant den Erstproduzenten, sich selbst fügt sie als Autorin Künstlerin hinzu. Dadurch emanzipiert sich das Werk gewissermaßen und löst sich aus der singulären, scheinbar unumstößlichen Bindung an eine Künstlerin. Es funktioniert wie eine Art Partitur, die von ihrer ständig neu zu erbringenden Realisation lebt. Bernard Blistène: „die Frage nach dem Original wird zu einer Frage des Umgangs mit dem Original“.
Die Ausweitung der Kunstzone und neue Dimensionen der Autor*innenschaft
Die Kunstmaschine
Die künstlerische Produktion galt lange Zeit als eine Art Gegenmodell zur maschinellen und apparativen Produktion. Dementsprechend wurde der Fotografie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Anerkennung als Kunst immer wieder verweigert. Die Kunstproduktion galt als Terrain des Singulären, Eigenhändigen und Expressiven und wurde im Spannungsfeld von Unterbewusstem und Wissen, von Emotionen und Können angesiedelt. Bereits die Dadaisten unterliefen mit ihrer Maschinen- und Apparate-Affinität derartige Vorstellungen. Warhol spricht dann später von seinem Atelier als „factory“ und stellt fest: „Ich möchte eine Maschine sein“.
Die maschinelle Produktion basiert auf festgelegten Vorgaben, denen sich der Produzent „unterordnet“. Das damit vorgegebene anti-expressive Programm zeigt sich auf andere Weise auch, wenn John Cage seine Werke mit Hilfe von Zufallsverfahren komponiert, oder wenn Jean Tinguely Zeichenmaschinen konstruiert, die gewissermaßen den Abstrakten Expressionismus karikiert. Durchaus symptomatisch und über Tinguely hinausweisend ist es, wenn er auf einer Metaebene agiert und nicht die Zeichnung, sondern eine Apparatur produziert, die die Zeichnung zeichnet. Die Maschine ist der „Produzent“, und der Künstler ist der Produzent des apparativen „Produzenten“. Diese Art der Metaproduktion spielt bis heute immer wieder eine konstitutive Rolle, abstrakter und unter explizit politischen Vorzeichen spielt sie in die vor einiger Zeit noch dominierende Institutionskritik hinein.
Das Konzept
Eine neue Dimension von Autor*innenschaft kommt ins Spiel, wenn im, bis heute nachwirkenden, Konzeptualismus das Verhältnis von Konzept und materiellem Objekt, und das Verhältnis von Autor*innenschaft und Rezipient*innen neu definiert wird. In seiner „Absichtserklärung“ (1968) stellt Lawrence Weiner fest: „1. Der Künstler kann das Werk herstellen. 2. Das Werk kann angefertigt werden. 3. Das Werk braucht nicht ausgeführt zu werden.“ Das Konzept wird hier zum Primären und die materielle Realisierung zum Sekundären. Ein Konzept Walter Marchettis treibt den Konzeptualismus auf die Spitze und postuliert die vollständige Abkehr vom Materiellen. Es lautet: „Denke an ein Werk, doch schreibe es weder nieder, noch führe es jemals aus“. Bei Weiner und Marchetti werden die Rezipient*innen zu potenziellen Korespektive Post-Produzent*innen. Der Eine fordert sie auf, optional die materielle Umsetzung zu übernehmen, der Andere, ein Konzept ohne es je zu notieren, einfach nur zu denken.
Der konzeptuelle Shift, der bereits im Readymade angelegt ist und dem das Selbstproduzierte, Eigenhändige und Handwerkliche nicht mehr als Maßstab dient, erfasst auch die Malerei. Er wirkt, wenn Martin Kippenberger eine Serie von Bildern bei einer Agentur für Plakatmalerei in Auftrag gibt und sie dann unter seinem Namen ausstellt. Der Titel der Ausstellung „Lieber Maler, male mir“ zitiert den von Gus Backus gesungenen Sechzigerjahre-Herz-Schmerz-Schlager. In einer nicht aufzulösenden Melange aus konzeptueller Rationalität und latentem Humor, Subversion und Selbstbehauptung entfaltet der bereits analysierte Kunst-Spin hier seine Wirkung: Kippenberger als ein in der Kunstwelt eingeführter Kunst-Produzent, verleiht den von ihm Auftrag gegebenen und von professionellen Auftragsmalern ausgeführten Produkten Bedeutung.
Weitere Dimensionen der Autorschaft eröffnen sich, wenn mit Kunstpraktiken wie Happening, Performance und Aktion die Produktion materieller Objekte überhaupt aufgegeben wird und an die Stelle der bis dahin nur „deiktischen Präsenz“ im Kunstobjekt, die Aktion und die reale, körperliche Anwesenheit der Künstler*innen tritt. In partizipativen Projekten werden Kunstrezipient*innen zu Mitwirkenden und die Künstler*innen von Fall zu Fall zu „Sozialingenieur*innen“. Künstler*innenpaare und zumal Künster*innen-Kollektive, die an die Stelle singulärer Künstler*Innen treten, sprengen die tradierte Vorstellung singulärer Autor*innenschaft und entwickeln, immer wieder auch politisch motiviert, neue Produktionsmodelle.
Aneignungsstrategien und Identitätskonstruktionen
Der Begriff „Aneignung“ ist ambigue. Zum einen bezeichnet er eine nicht akzeptable, womöglich widerrechtliche Inbesitznahme, zum anderen weist er auf Lernprozesse, auf die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten, die nicht zuletzt das Leben im Kollektiv und Überleben in der Welt ermöglichen. Um überhaupt sprechen zu können, bedarf es der Aneignung einer Sprache. Sie ist eine kollektive Errungenschaft an der die einzelnen Sprecher*innen partizipieren, ohne dass sie jemanden gehört. Eine Sprache wird gelernt und gesprochen, sie ist aber kein Besitz. In diesem Sinne ist auch das Erlernen einer fremden Sprache nicht mit Enteignung gleichzusetzen. Was wiederum nicht ausschließt, dass Sprecher*innen ihre Sprache als einen kulturellen „Baustein“ zur Konstruktion ihres Selbstverständnisses und ihrer Identität betrachten. Setzt man Sprache mit dem Kollektiven und Kulturellen gleich und den einzelnen Sprechakt mit der Herstellung von Kunst, kann zwischen kulturell-kollektivistischen und künstlerisch-individualistischen Aneignungen unterschieden werden. Paradigmatisch sei auf zwei mögliche Modelle verwiesen.
Aneignungsmodell: Kannibalismus
Im Jahr 1928 veröffentlichte Oswald de Andrade sein heute im postkolonialistischen Diskurs viel zitiertes Manifesto Antrópofago. Mit dem Begriff „Menschenfresser“ greift er ein kolonialistisches Stereotyp auf, das die indigene Bevölkerung zu unterentwickelten, brutalen Wilden erklärt und kehrt es als kulturelles Verdauungsmodell ins Positive. Das Manifest richtet sich gegen die simple, kopierende Übernahme westlicher Kunstvorstellungen und mittransportierte Weltbild. Das heißt für ihn, gegen die westliche Praxis „den Geist ohne Körper zu denken“ und „die Tabuisierung des Nichtfassbaren“, gegen Linearität und Utilitarismus, gegen „die Importeure eingemachten Bewusstseins“ und die „technisierten Barbaren“ und nicht zuletzt gegen die Herrschaft der Väter. Dafür setzt er, im Verweis auf die lokalen indigenen Völker, das „Matriarchat von Pindorama“, die „Verwandlung von Tabu in Totem“, die „Karibische Revolution“, die Utopie. Der Avantgardist Andrade lehnt die Imitation westlicher Kunstparadigmen ab, er spricht sich aber keineswegs dafür aus, sie zu ignorieren. Vielmehr gelte es, sie „kannibalistisch“ zu verschlingen, zu verdauen und sie sich so anzueignen: „Anthropophagie. Einverleibung des heiligen Feindes. Um ihn in ein Totem zu verwandeln“. Für die brasilianische Tropicália-Bewegung der 1960er Jahre wurden Andrades Überlegungen wegweisend. Auch heute noch – in einer Zeit der das Utopische ausgetrieben wurde – lässt sich aus ihnen ein Aneignungsmodell ableiten, das jenseits westlicher Dominanz und jenseits der reaktionären Propagierung „kultureller Reinheit“, die interkulturelle „Hybridisierung“ der Kunst betreibt.
Aneignungsmodell: der subjektive Filter
Was bei Oswald de Andrade auf kultureller Ebene die Aneignung qua „Verdauung“ ist, kann auf individueller Ebene der durch psychische Dispositionen und politische Einstellungen geprägte Aneignungs-Filter einzelner Künstler*innen sein. Exemplarisch sei auf ein Projekt Monika Hubers verwiesen. Ihr Archiv Einsdreißig speichert von der Künstlerin aufgenommene Fotos von Fernsehnachrichten. Es umfasst inzwischen über 40.000 Bilder von Protesten, Aufständen, Kriegen und der Omnipräsenz von Gewalt. Bilder, die Huber aus dem Nachrichtenstrom herausgefiltert hat, Fotografierte Nachrichtenbilder, die auf weltpolitische Ereignisse verweisen und gleichzeitige deren mediale Vermittlung dokumentieren. Hubers „Aneignungs-Filter“ basiert dabei auf dem Interesse an politischer Emanzipation und dem Wissen um das Traumatisierende von Gewalt, ein Wissen, das vom Nachrichtenstrom hinweggespült wird. Ihre Übermalungen ausgewählter Bilder unterlaufen die Rhetorik der Nachrichtenbilder und setzen ihnen im Akt der subjektiven Aneignung eine Ikonologie des Aufstands und der traumatisierenden Gewalt entgegen. Der subjektivistische Blick und die daraus resultierende künstlerische Praxis verändern die Wahrnehmung der medialen Bilder und der von ihnen vermittelten Realität.
Die Singularität von ikonischen Bildern und Stars jeder Couleur basiert heute ganz entscheidend auf ihrer medialen Präsenz und damit der reproduktiven Zirkulation.
Identität: (Re)Konstruktionen und Reflexionen
Bereits vor der „identitätspolitischen Wende“ befassten sich Künstler*innen immer wieder unter Einbeziehung des eigenen Körpers mit der Konstruktion und Rekonstruktion diverser Identitäten. Das Spektrum der dabei herbeizitierten Rollen und eingesetzten künstlerischen Strategien ist breit. So propagierte etwa in den Siebzigerjahren Jürgen Klauke qua Selbstdarstellung und Berufsgruppenreferenz ein politisches Programm. Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse zeigt ihn zwölffach. Sein Gesichtsausdruck wechselt ab zwischen zustimmendem Lächeln und distanzierter Skepsis, je nach der über ihm stehenden Berufsbezeichnung. Auf Soldat, Beamter, Richter oder Priester, Berufe also, die die bestehende gesellschaftliche Ordnung garantieren, reagiert er ablehnend, auf andere wie Anarchist, Schwachsinniger, Süchtiger oder Mörder, die die Ordnung unterminieren, reagiert er mit Lächeln. Klauke reproduziert und verklärt hier durchaus ironisch den damaligen Geist der Revolte und der radikalen Negation, an deren Stelle inzwischen zunehmend die moral-politische Belehrung getreten ist. Identität ist eine Konstruktion aus Selbstbildern und Rollenerwartungen mit denen der / die Einzelne konfrontiert ist. Die kursierenden Rollenmuster sind wie ein gesellschaftliches Kostüm, das dem Individuum angepasst wird, respektive dem es sich anzupassen hat, erzwungen und auch gewollt, um etwa den zirkulierenden Idealvorstellungen zu entsprechen.
Bereits in ihren frühen Fotoarbeiten und Kurzfilmen befasste sich Cindy Sherman mit Frauen zugewiesenen Rolle, wenn sie etwa in einem Spielzeugset eine Pappfigur, die als Kleiderpuppe dient, durch ein Foto von sich als erwachsene Frau ersetzt. Was hier angelegt ist entfaltet sich in ihren Fotoarbeiten als körperliche Aneignung, Rekonstruktion und Reflexion von gegenwärtigen und historischen Frauenrollen und Bildern, die die Vorstellung was Frauen sind, sein können und sein sollen prägen. Sherman rekurriert dabei auf die unterschiedlichsten Quellen, nicht zuletzt und immer wieder auf die von Hollywoods Filmindustrie produzierten, auch in die außerfilmische Realität hineinwirkenden Frauenbilder.
Identität ist eine Konstruktion aus Selbstbildern und Rollenerwartungen mit denen der/die Einzelne konfrontiert ist.
Dabei eröffnet sich immer wieder ein intendiertes Gap zwischen ihr und den angeeigneten Kostümen und Maskierungen. In dem Bild Untitled #584 (siehe Titelbild des Beitrags) etwa, in dem Sherman ein von Hollywood inszeniertes Frauenideal aus den Zwanzigerjahren aufgreift, vervierfacht sich die Künstlerin im Bild und verunmöglicht es den Betrachter*innen, sie als genau diese oder jene zu identifizieren. Hinter der perfekten, glanzvollen Inszenierung und den vier Personen, die eigentlich eine sind, blitzt etwas fast schmerzhaft „Uneigentliches“ auf. Tüllkleider sind nur eine elegante Stoffdraperie und auch die leuchtende Seekulisse strahlt künstlich schön.
Identität als politisches Statement
Bei dem in Kamerun geborenen und in Nigeria aufgewachsenen Fotokünstler Samuel Fosso wird die Aneignung personaler Rollen zum politischen Statement. Seine Serie African Spiritis ist eine Hommage an diejenigen, die die Panafrikanische Bewegung und die Bürgerrechtsbewegung in den USA maßgeblich vorangetrieben haben. Fosso verkörpert sie – u. a. Kwame Nkrumah, Aimé Césaire, Martin Luther King, Angela Davis – indem er sich sorgfältig, realitätsgetreu maskiert und kostümiert. Nicht zuletzt greift er hier auf die in der Igbo-Tradition kultivierte Vorstellung der „lebenden Toten“ zurück. Das Politische nimmt unterschiedliche Färbungen an, wenn Fosso in der Black Pope Series als Papst auftritt und dessen rituelle Gesten wiederholt, oder wenn er seiner Emperor of Africa Series als Mao Tse-tung und chinesischer Bauer in einem Weizenfeld auftritt – eine Anspielung auf die von China forcierte wirtschaftliche Machtübernahme in Afrika. Und, wenn Fosso in Le rêve de mon grand-père series die Wunschvorstellungen verkörpert, die sein Großvater in Bezug auf die Zukunft seines Enkels hatte, dann würdigt Fosso seinen Vorfahren, gleichzeitig weist die Verkörperung auf den Abstand, der das traditionelle vom zeitgenössischen Afrika trennt.
Selbstverwandlung
Bei den Rollenaneignungen Shermans und Fossos bleiben die Körper der Künstler*innen unversehrt. ORLAN ließ sich in den Neunzigerjahren nach Schönheitsidealen berühmter Maler der Kunstgeschichte „modellieren“. Die ohne Anästhesie durchgeführte Operation wurde als Performance live im Centre Pompidou übertragen. Später entwirft ORLAN ein futuristisch anmutendes Bild ihrer selbst, das sie sich wiederum einoperieren lässt. In ihren digitalen Hybriden und „Selbstkreuzungen“ verschmilzt sie ihr Gesicht mit Porträts von Frauen anderer Ethnien und über Jahrtausende hinweg mit den Gesichtern mesopotamischer Skulpturen.
Aspekte digitaler Autor*innenschaft
Das Internet als Kommunikationsplattform und die Möglichkeit mit Künstlicher Intelligenz Kunst zu produzieren, werfen die Frage nach der Autor*innenschaft und den Status der Digital-Kunst auf. Bis heute kursiert noch die simplizistische Annahme – latent und auch explizit – Kunst werde von singulären Künstler*innen eigenhändig produziert, eine Vorstellung die spätestens in der Kunst des 20. Jahrhunderts obsolet wurde. Einige Parameter, die sich in der Kunst-Spin-Analyse herauskristallisierten, können mit digitaler Kunst in Verbindung gebracht werden. Der Kunst-Autor*innen-Parameter „eigenhändige Herstellung“ wird spätestens mit der Erfindung des Ready-mades als unabdingbare Voraussetzung der Kunstproduktion obsolet. Künstler*innen greifen auf bereits Produziertes zurück, modifizieren es – wenn überhaupt – und schleusen es ins Kunstsystem ein. Das Prinzip, lässt sich grundsätzlich auch auf bestehende digitale Sachverhalte anwenden, die als Datei über keinen materiellen Körper verfügen.
Die Dematerialisierung des Kunstobjekts zeichnet sich bereits in der Konzeptkunst ab. Folgt man Lawrence Weiners „Manifest“, ist die materiale Realisierung des Konzepts nur eine Option, Konzeptkunst funktioniert auch als bloße Idee. Ideen und Dateien, sind immateriell und lassen sich endlos reproduzieren. Die Reproduzierbarkeit steht dem tradierten Originalverständnis im Weg, was, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen, im analogen Bereich dazu führt, durch Signatur und Auflagenbegrenzung und im digitalen Bereich mittels NFT, künstlich Originale zu produzieren.
Betrachtet man etwa Tinguelys Metamatics zeichnet sich hier – trotz ironischer Untertöne – ein einfaches analoges Modell der apparativen Kunstproduktion ab. Der Künstler zeichnet nicht mehr selbst, er arbeitet auf einer Metaebene und entwirft eine Maschine, die das Zeichnen übernimmt. Die apparativen Mechanismen geben dabei den Spielraum der Zeichnung vor. Das durchaus simple Modell kann, was die Autor*innenschaft anbelangt, auf die komplexen Programme und Algorithmen der digitalen Kunstproduktion angewandt werden. Nicht die Algorithmus sind, so betrachtet, die Autor*innen, sondern diejenigen, die sie programmieren, wobei grundsätzlich zu unterscheiden ist, ob Computerprogramme von Künstler*innen als Tool eingesetzt werden oder ob generative Algorithmen selbst produktiv werden. Nicht zuletzt ist es denkbar, auch generative Algorithmen als Ready-made zu behandeln.
Künstler*innen setzen sich aus verschiedenen Gründen mit Identitätskonstruktionen auseinander, wobei sie sich selbst ins Spiel bringen. Avancierte Computertechnologien ermöglichen es heute sprechende und agierende Bild-Avatare zu generieren, die sich, zumal von technologischen Laien, nicht mehr von ihrem Vorbild unterscheiden lassen. Ersetzt der fremdgesteuerte Avatar die selbstgesteuerte Person? Verschwimmt der Unterschied? Wird der aus dem Bild tretende Avatar am Ende zum personalen Double? Wo sind die Grenzen?
Kunsttheoretiker, -kritiker, -publizist. Er unterrichtete in den 80er und 90-er Jahren als Dozent u. a. an der LMU und der Kunstakademie München, er schrieb einige Jahre als Kunstund Theaterkritiker für die Süddeutsche Zeitung und ist seit 1987 Korrespondent des KUNSTFORUM international. Er leitete das Forschungs- und Ausstellungsprojekt Performing the City. KunstAktionismus im StadtRaum der 60er / 70er Jahre und kuratierte Ausstellungen wie 1aOrte, Freifläche, Vito Acconci – Courtyard in the Wind, Coolcuts – Movie Passion. Zahlreiche Publikationen zur zeitgenössischen Kunst, Gastherausgeber mehrerer KUNSTFORUM-Bände, zuletzt Museumsboom und Act! Die entfesselte Performance.