Identitäten und »Gedächtnis«
Alfred Grosser über Deutsch-Französische Möglichkeiten des Verstehens
Das Wort Identität wird heute ständig verwendet. Die deutsche Identität, die europäische Identität, die Identität der Christen: Allein diese Vielfalt sollte als Warnung dienen. Gibt es überhaupt so etwas wie eine Identität, die einen Menschen oder eine Gruppe genau und eindeutig definiert? Meine Antwort ist – ausnahmsweise! – ohne Wenn und Aber: ein ganz klares Nein. Schon wenn ich mich selber betrachte, so entdecke ich eine Reihe von Identitäten. Ich bin Mann und nicht Frau – und das verschafft mir noch in der französischen wie in der deutschen Gesellschaft eine Menge unverdienter Vorteile. Ich bin Pariser, was bedeutet, daß mir der französische Staat achtmal mehr Geld für mein Kulturleben schenkt, als wenn ich in der Provinz leben würde. Ich bin Beamter, was mich gegen die Identität des Arbeitslosen schützt. Ich bin Vater von vier erwachsenen Söhnen, deren Arbeit das Ruhestandsgeld meiner kinderlosen Kollegen bezahlt. Ich bin Franzose, das heißt, ich genieße materielle Vorteile, von denen Dreiviertel der Menschen in der heutigen Welt nur träumen können. Ich bin Radfahrer, und als solcher fürchte ich die Autofahrer; ich bin Autofahrer, und als solcher fürchte ich die Radfahrer: Ist das nicht ein gutes Beispiel einer gespaltenen, konfligierenden Identität?
Ernster gesagt: Ich habe eine Menge von Identitäten. Jede von ihnen ist mit einer Zugehörigkeit verbunden. Wenn die meiner Person nur aus der Summe dieser Zugehörigkeiten bestehen würde, dann hätte ich, dann wäre ich nur eine schwankende und schwache Persönlichkeit. Sie wird nur fester und stärker, wenn ich…