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Kommentar · S. 70 - 71
Kommentar , 1991

Jochen Paul Schmitt
Die Wucherung und das verlorene Maß

Ästhetische Strategien der Wachstumskritik

In einer kurzen Zeitungsmeldung konnte man unlängst lesen: “Britische Ärzte arbeiten daran, Herzen, Leber und Nieren von Schweinen auf Menschen zu übertragen.” Und Gottfried Benns berühmter Spruch, der ihm immer als reine Böswilligkeit ausgelegt worden ist, wird damit wahr: “Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch.” Die Wissenschaft laboriert an der Transplantation von Schweine-Organen. Die Wissenschaft baut den Schweinemenschen. Darin äußert sich ein Expansionstrieb ohne Maß und Ziel; wir sehen hier ein Beispiel für den Wachstumsfanatismus einer ganzen Gesellschaft.

Wir leben in monströsen Zeiten. In einer maßlos anschwellenden Überflußgesellschaft, die aus allen Fugen zu platzen und in den eigenen Auswüchsen zu ersticken droht – in Algenteppichen, Blechlawinen, Medienfluten, Ozonnebeln. Für den französischen Denker Jean Baudrillard hat unsere Gesellschaft den “Übergang vom Wachstum zur Auswucherung” überschritten. In seinem Buch “Die fatalen Strategien” beschreibt er die Wucherung ganzer gesellschaftlicher Systeme, etwa des Wirtschaftssystems mit seiner Massenproduktion, des Kommunikationssystems mit seiner Bilder- und Informationsflut, des urbanen Systems (“der Stadt, die ein hypertrophes und in jede Richtung auswucherndes Zellgewebe ist”), sogar des biologischen Systems des Menschen: “jener faszinierenden Fettleibigkeit, auf die man überall in den USA stößt”.

Baudrillard ist nicht der einzige philosophische Denker, der das so sieht, aber sicherlich derjenige, der sich am radikalsten (und originellsten) dazu äußert. Zu einem ähnlichen Schluß wie Baudrillard kommt etwa der Soziologe Niklas Luhmann, wenn er feststellt, daß in die gesellschaftlichen Systeme ein “Steigerungsaspekt” eingebaut ist und daß sie “so entwickelt sind, daß sie ihr eigenes Wachstum…


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