Schwindelgefühl im Umbruch
Die Dynamik des Wandels beschleunigt die Fliehkräfte des Kunstsystems
von Paul Kaiser
Als der französische Philosoph Jean-Francois Lyotard im Jahre 1979 den Begriff der Postmoderne als Charakteristikum eines umfassenden gesellschaftlichen Strukturwandels benutzte, war nicht zu erahnen, dass jenes von ihm prognostizierte Ende der „großen Erzählungen“ so lange andauern sollte.1 Ebenso war kaum absehbar, dass in dieser gedehnten Introduktion einer umfassenden Transformation der Welt eine schier unübersichtliche Vielzahl an „kleinen Narrativen“ erzeugt werden würde. Diese forderten eine Auflösung alter Machthierarchien und meldeten unverhohlen eigene Hegemonialansprüche an. In einem zum Vertigo führenden Auf und Ab der Turns – distanzierte Beobachter zählen zwischen 15 und 20 mit dem emphatischen Anspruch eines Paradigmenwechsels antretende Großtheorien à la iconic, performative, postcolonial, spatial oder gender turn – kam es auch in den kulturellen Institutionen zur rigorosen Auflösung von Fachkompetenzen und Gegenstandsfeldern, Förderrichtlinien und Leitbegriffen. Es zeigte sich, dass auch hier die Erfahrung von 40 Jahren vermeintlicher Nach-Moderne eher als die Phase des Vor-Spiels eines modernisierten Kapitalismustyps zu begreifen ist.
Narrative eines Umbruchs zwischen Selbstfeier und Ökonomie
Die bildenden Künstler*innen wurden in diesem Prozess – weitaus stärker als ihre Kolleg*innen in anderen Genres – zu Agenten und Medien des gesellschaftlichen Wandels. Die Gründe für diese Sonderrolle lagen darin, dass sie einerseits prototypisch, teils in prophetischer Avantgarde-Pose, einen Prozess vorwegnahmen, der später – nicht nur im zynischen Begriff der „Ich-AG“2 – zur Lebensgrundlage vieler werden sollte: die Verkopplung von radikaler (Zwangs-)Individualisierung mit den normativen Zugriffen einer globalisierten Arbeitswelt. Andererseits begaben sich viele Künstler in den durch die neuen Möglichkeiten…