Eine un-westliche Moderne auf den Fersen der eigenen Tradition
Anselm Franke, Kurator der 10. Shanghai Biennale im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks
Anselm Franke, Kurator und Kritiker, von 2006 bis 2010 künstlerischer Leiter der Extra City, Kunsthal Antwerpen, bis 2006 als Kurator am KW Institut für zeitgenössische Kunst in Berlin tätig, war Kurator der Taipei Biennale 2012 und ist nun Chefkurator der 10. Shanghai Biennale. Sein Projekt Animismus wurde in diversen Versionen in Antwerpen, Bern (2010), in Wien (2011), Berlin und bei e-flux New York (2012) präsentiert. Im Januar 2013 übernahm er die Leitung des Bereichs Bildende Kunst am Haus der Kulturen der Welt. Dort kuratierte er zusammen mit Diedrich Diederichsen „The Whole Earth“ und mit Annett Busch „After Year Zero“ (beide 2013) und jüngst „Forensis“ zusammen mit Eyal Weizman (2014). Mit ihm traf sich Heinz-Norbert Jocks in Shanghai, um mehr über sein Konzept der Shanghai Biennale zu erfahren.
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Heinz-Norbert Jocks: Wie kam es zu Ihrer Wahl zum Chefkurator der Shanghai Biennale?
Anselm Franke: Ich wurde vom sogenannten Akademischen Komitee als Kandidat ausgewählt. Da sitzen überwiegend Größen der chinesischen Kunstwelt wie Li Xianting oder Gao Shiming drin, sowie Leute wie Chris Dercon und Homi Bhaba. Hintergrund war wohl der relative Erfolg von Ausstellungen wie der Taipeh Biennale zwei Jahre zuvor und auch die Animismus-Ausstellung, die nach Stationen in Europa und den USA im Jahr 2013 u.a. auch in Shenzhen und Seoul gezeigt wurde. Also ein eher spezieller Typ von Ausstellung. Mein Themenvorschlag ist dann offenbar gut angekommen.
Könnten Sie diesen speziellen Typ von Ausstellung einmal umschreiben?
Mir geht es darum, essayistische Ausstellungen zu machen, die einen intensiven Austausch von Ästhetik-immanenten Fragestellungen, Ideengeschichten und Ideologiekritik herstellen und Konvergenzen zwischen bestimmten künstlerischen Verfahren, Interessen und Tendenzen aufzeigen. Das klingt jetzt recht nebelig, ist aber im Endeffekt ein konkretes Programm, dass sich in Ausstellungen gut übersetzt. Es geht darum, einen Bedeutungsteppich zu knüpfen, in dem jede einzelne Arbeit wie eine Geste funktioniert. Wie lässt sich über die individuelle Artikulation einer Arbeit hinaus eine Art Ideenhorizont und ein historischer Kontext umzeichnen, durch den auch die künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten und Verfahrensweisen erkennbar werden?
Warum lautet der Titel der Biennale „Social Factory“? Was verstehen Sie darunter?
Dieser Begriff stellt eine breite konzeptuelle Plattform dar. Wir machen die Biennale hier in Shanghai, und diese Stadt steht, wie früher in den 1980ern Tokio, unter allen chinesischen Metropolen für Asiens Megamodernisierung und, speziell innerhalb der chinesischen Geschichte, für die massive Entwicklung und Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft. Shanghai liefert zudem das Bild einer postmodernen Zukunft: Nach der Weltfabrik kommt die Social Factory. Aber welche sozialen Beziehungen werden hier produziert? Wie geht diese Gesellschaft mit ihren Konflikten, internen Antagonismen und ihrem Pluralismus um? Das sind einige der kritischen Zukunftsfragen für China. Dort verbindet man heute mit einem Begriff wie Social Factory die vorwiegend ökonomisch gesteuerte Neugestaltung der Gesellschaft. Wir sprechen jedoch auch vom frühen 20.Jahrhundert, den noch unter dynastischer Herrschaft stehenden Modernisierungsversuchen sowie der Modernisierungsbewegungen nach dem Zusammenbruch des alten China im Jahr 1911. Auch damals stellte sich in China die Frage: Wie eine ganze Gesellschaft neu begründen? Die Neu-Konstitution der Gesellschaft und die Frage der sozialen Ordnung ist geradezu notorisch in Chinas Moderne. Früher wurde dieser Frage überwiegend mit Appellen an die Kultur, an das Bewusstsein und das Denken formuliert. Es gibt so etwas wie eine chinesische Obsession mit Kulturrevolution, die auf das frühe 20. Jahrhundert zurückgeht, und noch weiter zurück. Kunst sollte bei der Neugestaltung der Gesellschaft eine wesentliche Rolle zuteilwerden. Davon ist heute kaum mehr die Rede, es scheint, als traue man ausschließlich der Ökonomie noch die Produktion von Gesellschaft zu, mit den bekannten Konsequenzen. Das Social Factory-Thema berührt so viele Fragestellungen der Moderne in China, doch es geht auch darüber noch hinaus. Denn dieses Land hat mit der Geschichte der Literati-Kultur eine ungemein faszinierende und einzigartige prä-moderne Geschichte der Produktion von Gesellschaft. Künstler und Bürokraten schufen die alte chinesische Gesellschaft. Vor etwa 2000 Jahren wurde ein schier unglaublicher Administrationsapparat geschaffen, durch den China geeinigt und eine einzigartige Gesellschaft begründet werden konnte. Gelehrte, Politiker, Künstler und Bürokraten existierten hier in Personalunion. Womöglich ist die chinesische Kultur die eigenwilligste und gleichzeitig beeindruckendste Geschichte im Hinblick darauf, was wir „social engineering“ nennen. Ich glaube jetzt, da China einen gewissen Modernisierungsgrad erreicht hat, werden wir eine intensive Beschäftigung der chinesischen Kultur mit ihrer Geschichte und ihren Ursprüngen sehen, die sich in zunehmenden künstlerischen Bezügen auf „Tradition“ auch schon abzeichnet. Der Westen ist nicht mehr der alleinige Bezugspunkt. Mir war daran gelegen, diese Beschäftigung mit „Tradition“ aufzugreifen, aber sie dezidiert aus der regressiven, anti-modernen und nationalistischen, identitären Ecke herauszulösen und mit der Geschichte der „sozialen Frage“ oder gar den Paradoxen der konfuzianischen Gesellschaft zu konfrontieren. Mit Social Factory verbinden wir im Westen noch andere Bedeutungen und Ideen. Diese kennen wir aus der Diskussion über die Transformation des Kapitalismus, hin zum Neoliberalismus und den digitalen Ökonomien. Der aus der italienischen Bewegung des „Operaismo“ kommende Begriff der Social Factory beschreibt das Fabrikwerden der gesamten Gesellschaft, in der sich die Relationen der Produktion auf Bereiche außerhalb der Fabrik, das heißt auf soziale Beziehungen und kognitive Leistungen ausweiten. Darüber wurde u.a. unter dem Begriff der immateriellen Arbeit diskutiert. Dies alles spielt für eine Stadt wie Shanghai eine große Rolle, insofern sie gerade dabei ist, zu einer Konsum-, Informations- Luxus, und bildbasierten Arbeitsökonomie zu werden. In die Kreativindustrien wird in China in der Hoffnung investiert, dass sie Softpower produzieren. Aber da stößt die KP an deutliche Grenzen, die wir hier mit dem Thema der Ausstellung hoffentlich verdeutlichen können. Denn wirkliche Softpower setzt souveränen Umgang mit Pluralismus und Antagonismus voraus, und darin ist China nicht wirklich gut. Man könnte auch sagen, das Statement des Ausstellungsthemas im Kontext Chinas ist, dass man zwar die Fabrik auf die ganze Gesellschaft ausweiten, nicht aber eine Gesellschaft und individuelle Subjektivität nach der Fabriklogik produzieren kann. Wie Wettervorhersagen sind auch die Theorien des Sozialen kaum in der Lage, Modelle zu bauen, die halbwegs zuverlässig voraussagen, was ein Subjekt morgen denken, fühlen, tun oder was für eine Dynamik die Gesellschaft entwickeln wird. Das Produkt, das die Social Factory produziert, ist immer ein unkontrollierbarer Exzess und gleichzeitig historisch determiniert, es folgt seiner ganz eigenen Logik, der wir anhand von Kunst auf die Spur kommen können.
Was wäre ein weiterer Assoziationsraum der Biennale?
Einen solchen, der uns in den Bereich von Big Data, Kybernetik und der kalifornischen Ideologie in China führt. Noch vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte man einen Begriff wie Social Factory mit der sozialen Frage in Verbindung gebracht. Heute verstehen wir darunter eher die sozialen Netzwerke. Versucht man die Displatzierung nachzuvollziehen, so ist die Geschichte der Kybernetik von erheblicher Relevanz. Da stoßen wir plötzlich auf die Ideen, wie sie in den Arbeiten von Stephen Willats anklingen, der mit dem Homeostaten arbeitet, einem Kybernetik-Modell für ein sich selbst balancierendes System. Willats ist ein Künstler, der, mit den Widersprüchen intensiv umgehend, danach fragt, wie sich das Soziale mit kybernetischen Konzepten reformieren lässt. In seinen Arbeiten spiegelt sich in gebrochener Form eine weitverbreitete Techno-Phantasie, nämlich der Irrglaube, Probleme, die in der Politik nicht lösbar sind, könnte man technologisch in den Griff bekommen, in dem man die Gesellschaft wie ein System „managt“.´ Die chinesische Regierung sammelt heute eine Unmenge Daten über ihre Bevölkerung – mehr als jede andere Regierung. Sie tut das weitgehend offen und verknüpft es mit der Idee, die zukünftige chinesische Form der Demokratie nicht über Wahlen, sondern über Feedback und digitale Erhebungen zu realisieren. Da entsteht eine Idee von einer „gemanagten“ Gesellschaft. Das spiegelt kybernetische Vorstellungen, die bis zu fünfzig Jahre alt sind, und post-demokratische und neo-autoritäre Ideen wider, die auch im Silicon Valley teilweise Konjunktur haben. Man muss Kalifornien auch deshalb in Verbindung mit der Social Factory sehen, weil die Ausweitung der Fabrik in das Soziale heute wesentlich im Bereich des Digitalen erfolgt, und zwar derart, dass die soziale Interaktion durch Algorithmen produziert und koordiniert wird. Damit befassen sich in der Ausstellung einige Arbeiten auf sehr direkte Weise.
Zum Beispiel Suzanne Treister?
Ja, sie befasst sich mit der Ideen- und Institutionsgeschichte der Kybernetik und ich deren Verbindung zu Ideen von der Steuerung der Massen nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Geheimdiensten, Militär, und Forschungseinrichtungen. In ihrem Projekt Hexen 2.0 erstellte sie Kartierungen dieser Geschichten, das sind exzessiv, fast deliriöse Landkarten der Ideen- und Technologiegeschichte, die unsere Realität heute maßgeblich bestimmt. Das Gegenstück dazu bildet die epische Arbeit von Edgar Arceneaux über Detroit, eine Art von Archäologie der sozialen Erfahrungsräume. Die amerikanische Stadt stellt heute wohl eher das Gegenbild von Shanghai dar, insofern es sich dabei um einen Ort des industriellen Niedergangs und nicht des massiven Aufschwungs handelt. Arceneaux thematisiert die Grundlagen sowohl einer Zivilgesellschaft als auch einer globalen Lebensform und zeigt die Stadt als soziale Fabrik oder soziales Gefüge.. Detroit wird hier zum Beispiel des Zusammenbruchs urbaner und zivilgesellschaftlicher Institutionen, die das Soziale, die urbane Gesellschaft produzieren. Er imaginiert einen postapokalyptischen Landschaftraum, darin rahmenlose Bilder und Leinwände, die den Niedergang urbaner Institutionen repräsentieren. Deren Namen sind da falsch geschrieben. Statt „banks“ steht da „bkans“. Den von der Logik her verdrehten Schriftzügen gab er übrigens den Namen „Gods of Destroit“. Wie Götter sollen die Institutionen eigentlich den Menschen dienen, dienen aber letztendlich nur sich selbst. Der Zerfall der gesamten Syntax einer Gesellschaft spiegelt sich in dieser Arbeit recht anschaulich wider. Dabei wird das Schicksal der Stadt in eine direkte Verbindung mit dem Aufkommen des Finanzkapitalismus und dessen Automatisierung durch den Algorithmus gebracht. Von daher verweist die Arbeit auf die Ablösung einer industriellen Produktionsform durch eine finanzkapitalistische. Die enorme Diskrepanz zwischen sozialer Erfahrung und algorithmischer Logik wird in der Arbeit sichtbar, weshalb deren Version hier auch „The algorithm doesn`t love you: from Detroit to Shanghai“ heißt.
Welche Themen werden in der Ausstellung außerdem berührt? Welche Bedeutung hat in ihr das Jahr 1978?
Uns gilt das Jahr 1978 als eine Art Scharnier, als ein Wendepunkt sowohl in der Geschichte Chinas, als auch in der Moderne insgesamt – als Moment der Abwendung vom modernistischen Glauben an die Plan- und Konstruierbarkeit von Gesellschaft. Zentral in der Schau ist der Versuch, den Übergang anzudeuten von einer Moderne, die noch an ihre Fähigkeit glaubte, sie könne das Soziale nach Ideen modellieren, zu der heutigen, die diesen Glauben verloren hat und vorwiegend ökonomischen Prinzipien folgt. Das führt dazu, dass sich die Idee, was ein Fakt ist, nur noch im Fahrwasser des Ökonomischen interpretieren lässt. Einige Arbeiten beziehen sich darauf, außer der von Stephen Willats sind da etwa die „Flaggen für soziale Organisation“ von Art & Language, die sich mit dem Unterschied zwischen einer „Corporation“ und einer sozialen Organisation befasst, und da gibt es auch historische Arbeiten von Künstlern wie Tang Chang aus Bangkok, die die Militärdiktatur reflektieren. Im Eingang zur Schau steht ein Klavier von Peter Ablinger und Winlfried Ritsch – ein Klavier, das über eine Art Roboter „spricht“, und zwar den Satz „Seek Truth from Facts“. Dieser Schlüsselsatz aus jener Rede Deng Xiaopings, die 1978 die Reformpolitik einleitete, ist ein altes chinesisches „Prinzip“, fast 2000 Jahr alt, aber es wurde 1938 von Mao Zedong zur Mobilisierung der Massen beschworen. Daher erlaubte dieses Prinzip Deng Xiaoping die Kontinuität aufrechtzuerhalten, aber gleichzeitig den Wandel einzuleiten. Die Biennale stellt nun die Frage: Welche „Fakten“? Von welche sozialem Tatsachen kann Kunst überhaupt sprechen? Künstler wie Ji Yunfei, die sich mit traditioneller Malerei auseinandersetzen, erzählen Geschichten der Gegenwart. Weder schöngeistige noch Geschichten der Selbsterziehung oder der konfuzianischen Harmoniesuche im Namen der kosmischen Ordnung der „zehntausend Dinge“, des alle Dinge miteinanderverbindenden Flusses der Empathie. Das Land und die Emigranten sind sein Thema. Wir haben hier die Arbeit zum The Three Gorges-Stausee, der mehr als eine Millionen Menschen zur Emigration zwang. Dazu gibt es einen klassischen, mehre Meter langen Scroll, der die Geschichte dieser Emigration Revue passieren lässt. Oder auch Liu Ding, der sich dem Sozialistischen Realismus als Genre widmete.
Könnten Sie die Arbeit von Liu Ding einmal genauer beschreiben?
In seinen Arbeiten befragt Liu Ding immer die Grundlagen unseres Kunstverständnisses und die Grundlagen der Kunstproduktion. Hier handelt es um den Ausschnitt aus einem größeren Werkkomplex, in dem er die Formeln des Sozialistischen Realismus noch einmal als solche exponiert. Er stellt das Genre aus, und produziert Werke exakt nach den Formeln – etwa die Köpfe von Volkshelden, 1,5fach vergrößert, mit vereinfachten Gesichtszügen. Noch immer wird sozialistischer Realismus in den Akademien gelehrt. Liu Ding hat auch eine weitere Arbeit in der Ausstellung, die sich anhand von Zitaten und Musik durchaus ironisch mit den 1990er Jahren beschäftigt – mit der Internationalisierung des Kunstfeldes, mit dem Einbruch des westlichen Kunstmarkts und der Kuratoren etc.
Was auffällt, ist, dass Sie sich hier stärker auf die chinesischen Verhältnisse einlassen, im Gegensatz zu anderen Biennalen, die sich weniger auf das Land beziehen, wo sie stattfinden, als global ausgerichtet sind.
Die globale Ausrichtung produziert mittlerweile häufig nur noch Klischees. Das Denken des globalen Imaginären in seinem ozeanischen Möglichkeitsraum war in den 90er Jahren en vogue. Danach ist alles im Fluss. Wir überwinden die Grenzen und surfen auf den Wellen des Kapitals. Diese Vorstellung führte bei Biennalen zu einer bestimmten Genrebildung, die ich nicht mehr für produktiv erachte. Mir kommt es auf eine Kritik im Medium der Ausstellung an, und mir war es entsprechend wichtig, auf die spezifischen Bedingungen der chinesischen Moderne soweit einzugehen, dass kein verdeckter kolonialer Diskurs droht. Ich bin auch überzeugt davon, dass die spezifisch chinesischen Fragen an die Moderne in den kommenden Dekaden eine immer bedeutendere Rolle spielen werden. Die Geschichte verläuft nicht nach dem Skript des Westens. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass Biennalen ihre globale Dimension affirmieren sollten, indem sie die Frage aufwerfen, was überhaupt ein gemeinsamer Erfahrungsraum oder ein globaler Handlungshorizont sein kann. Soziale Bewegungen etwa werden heute unglaublich schnell zu Partikularinteressen. Und gerade die Geschichte Chinas stellt uns vor die Aufgabe, jenseits des Partikularen zu denken und gleichzeitig mit der maximalen Kritik am Universalismus. Der chinesischen Gesellschaft wird man mit westlichen Konzepten nicht gerecht, und somit auch nicht mit einem üblichen Universalismus, denn dieser ist genuin westlicher Prägung. Bisher haben antikoloniale Bewegungen keine wirklichen Alternativen hervorgebracht. Dafür muss man sie kritisieren, ohne dem kolonialistischen Universalismus oder dem falschen globalen Universalismus zu erliegen.
Sie bejahen offenbar die kulturelle Differenz?
Absolut, aber nicht als Identitäts-Essenz. Wenn ich mich für Künstler interessiere, die sich auf Traditionen oder konfuzianistische Gesellschaftsvorstellungen beziehen, dann sicherlich nicht, weil ich an neototalitäre, neotraditionalistische oder postaufgeklärte Gesellschaften glaube, ganz im Gegenteil. Meines Erachtens ist es wichtig, solche Langzeitprägungen kultureller Räume aus einer möglichst unbegrenzten Perspektive in die Erwägungen über das Potential in einem politisch kulturellen Moment einzubeziehen, ohne dass da die Tradition oder das Traditionelle als das Schlechte abgestempelt wird .Gerade in Bezug auf China verursachte das eine gigantische Dichte an Missverständnissen. Das fängt bei Marx und Engels und deren nie ausgeführten mythischen Konzept von der asiatischen Produktionsweise an. Was da als Feudalismus bezeichnet wurde, ist mit dem europäischen nicht vergleichbar. In den nächsten Jahrzehnten wird sich die chinesische Gesellschaft mit ihrer eigenen kulturellen Identität massiv auseinandersetzen, und man muss daran arbeiten, dass sich dieser Prozess nicht in einem elitären Rahmen vollzieht. China hat auch seine eigene Geschichte des Rassismus und der kulturellen Intoleranz. Bleibt die Hoffnung, dass die Traditionen nicht zur Verfügungsmasse der Neo-Traditionalisten werden.
Welche Themen werden von der Biennale noch behandelt?
Die Unterscheidung zwischen Signal und Rauschen, die innerhalb der Musik von Bedeutung ist, spielt innerhalb des von Nicholas Bussmann organisierten Programms eine zentrale Rolle. Dabei geht es um eine Differenzierung zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden, zwischen dem was gehört wird, und dem was als Rauschen nur mitläuft, indem aber immer das Potential anderer „Signale“ steckt.. Das ist ein Bild, über das man die Organisation von Gesellschaft verstehen kann, insbesondere aber ihren Bezug zu Staatsapparaten. Was hat die Literati-Bürokratie vor 200 Jahren anderes gemacht, als bestimmte Signale zu filtern und zu kanalisieren. Das findet heute dann eher auf algorithmischer Ebene statt. Bussmann, der auch als Künstler an der Biennale teilnimmt, lässt einen Chor von Sängern die Signale der chinesischen Presse, also die tägliche Zeitung singen, um aus dem Rauschen der Nachrichten, die hier natürlich einem bestimmten Filter unterliegen, ein anderes Rauschen zu produzieren, so dass der Unterschied zwischen Signal und Rauchen wieder verhandelbar wird. Überhaupt befasst sich eine ganze Reihe von Arbeiten mit Kunst und Bedeutungsproduktion, um die Art wie Kunst sich an diese Differenz zwischen dem gesicherten Signal und dem Ungewußten, Unbekanntem, Unbenannten bewegt. Es geht dabei auch um die Hinterfragung der Produktionsökonomie der Kunst. So in der Arbeit von Natascha Sadr Haghian und Uwe Schwarzer als ein möglicher Abschluss der Ausstellung . Untersucht wird von ihnen die Rolle des Solo-Künstlers, der andere Autorschaften ausklammert und sich zu einer Künstlermarke erklärt, und zwar im Rahmen eines Projektes, welches einen fiktionalen Künstler erfindet. Dessen Arbeiten werden von der Firma mixedmedia entworfen, die auch für andere Künstler, vorwiegend sehr bekannte, arbeitet. So werden die Produktionsmechanismen in den Blick gerückt. Das ist speziell für China aufschlussreich, da es hier Künstler gibt, die nicht nur zehn, sondern hundert Mitarbeiter für sich arbeiten lassen, also Kunstfabriken sind.
War das Ihr Abschlusswort?
Nicht nur in der Kunstszene in Shanghai, sondern wohl auch in ganz China scheint die Zeit des Undergrounds vorbei zu sein. Die Konzentration richtet sich nun ganz stark auf den Markt. Mit der Ausstellung im Power Station of Art, der einzigen öffentlichen Institution für zeitgenössische Kunst in China, versuche ich subtilere Töne anzuschlagen, die nichts mit der Wertschöpfungsmethode des Marktes zu schaffen haben, und das in einer Stadt wie Shanghai, wo allein in diesem Jahr fünf Kunstmessen Besucher anlockten.
Sie arbeiten am Haus der Kulturen in Berlin. Woher rührt Ihre Beziehung zu Asien?
Das ist mir eher widerfahren. Es gibt familiäre Verbindungen. Ich wurde dann irgendwann gefragt, ob ich die Taipeh Biennale kuratieren möchte. Ich war von Taiwan sehr begeistert, und habe mich ausgiebig mit der Geschichte befasst,; daraus wurde dann die Biennale 2012, die ihren wesentlichen Bezug in einem Monster aus der chinesischen Mythologie fand, das mit der Geschichte selbst identifiziert wurde. Die Animismus-Ausstellung, die seit 2010 in 8 Stationen international gezeigt wurde, fand in Asien auch breite Beachtung. Die dort aufgeworfenen Fragen sind für Asien von großer Bedeutung, darunter die Frage nach dem Verhältnis des Modernen zum Nicht-Modernen sowie und zu anderen Kosmologien und Lebensformen. Die Ausstellung wurde dann 2013 in Shenzhen und Seoul gezeigt, jeweils unter Einbeziehung der lokal spezifischen Historie. Es wird in Europa vollkommen unterschätzt, welche Bedeutung die Diskurse um Modernisierung in asiatischen Gesellschaften haben.