Gundula Wolter
Das technische Kleid
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Fortschritts. Als „Mängelwesen“ mit Verstand strebt der Mensch stets danach, seine biologische Determiniertheit durch Erfindungen auszugleichen, bestenfalls zu überwinden. Dahinter verbirgt sich die menschliche Sehnsucht nach Unverwundbarkeit und Gottähnlichkeit, Unsterblichkeit. Inwieweit die Fortentwicklung des “technischen Kleides“ in dem Streben nach Überwindung der naturbedingten Determinanten respektive der Optimierung von Durchsetzungsstrategien gründet, und in welchen Schritten sich die Entwicklung in den letzten 100 Jahren vollzog, soll im Folgenden beleuchtet werden.
Technischer Fortschritt als Potential und Inspiration
Zeitgenössische Kunst, Avantgardemode und technologischer Fortschritt stehen oft auf derselben Plattform. Woher speist sich das Interesse der Kunst- und Modeavantgarde am technischen Fortschritt? Für Künstler sind innovative Materialien und Techniken herausfordernd und inspirierend. Modedesigner können mittels technischer Innovationen ihre funktionsbedingte Begrenztheit und damit ihren kreativen Spielraum sukzessive erweitern. Die Ergebnisse sind materialisierte Visionen, die das gesellschaftliche Verständnis von Kleidung und Technologie reflektieren.
Leuchtende Kleider
Das Verlangen nach Licht ist eine der Sehnsüchte, die die Menschheit seit jeher begleiten. Gott ist Licht, um Sonnenwendfeuer wird getanzt und mit bunten Feuerwerken das neue Jahr begrüßt. Mittels Feuer, Kerzen, Öl, Petroleum und Gas versuchten die Menschen, der Dunkelheit – der Zeit „finsterer Gesellen“, des Satans oder des „Schwarzen Mannes“ – ihre Bedrohlichkeit zu nehmen. Zu einem Quantensprung in der Erhellung der Nacht kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Elektrifizierung, die wir uns nicht einschneidend genug vorzustellen haben. Erstmals konnte die Nacht zum Tag werden.
Auch die Künstler des Futurismus, eine technikbegeisterte künstlerisch-literarische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, berauschten sich…