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Essay · von Vilém Flusser · S. 78 - 80
Essay , 1991

Die sechs Werktage

Von Vilém Flusser

Nicht Pirandello, sondern der Bibel haben wir die folgende surrealistische Idee zu verdanken: Wir sind Werke, Geschöpfe, und haben einen Autor, einen Schöpfer. Wir befinden uns mitten in einem Gesamtkunstwerk, der Schöpfung, und das ist eigens unserthalben hergestellt worden. Und der Schöpfer hat uns mit einem Rückspiegel, dem Bewußtsein, ausgestattet, der uns erlauben soll, rückblickend den Vorgang unserer eigenen Herstellung einzusehen und derart auf unseren Autor zu kommen. Dieser Rückspiegel kann in zwei Richtungen eingestellt werden: Drehen wir ihn nach außen, dann sehen wir die Erzeugungsmethode, nach der wir selbst hergestellt wurden. Beide Einstellungen, die extrospektive wie die introspektive, müssen, wenn erfolgreich, Einsicht in unseren Autor gewähren. Daher sind sowohl naturwissenschaftliche Symposien als auch in Kontemplation versenkte Mönchsgemeinschaften im Grunde genommen pirandellische Zusammenkünfte von Personen auf der Suche nach ihrem Autor. Der vorliegende Aufsatz wird die ins Gebet versunkenen Mönche ehrfurchtsvoll meiden und wird sich mit den etwas zugänglicheren Naturwissenschaftlern befassen.

Laut der surrealistischen Bibelgeschichte ist Naturwissenschaft eigentlich Kritik am Gesamtkunstwerk “Schöpfung”. Es gibt keinen allgemeinen Konsens hinsichtlich der Kriterien, denen zufolge Kunstkritik gemacht wird. Aber eine Sache ist ziemlich deutlich: Wenn man den Entwurf eines Kunstwerks kennt, dann kann man ihn mit dem tatsächlich verwirklichten Werk vergleichen. Mit solch einer Methode kann man feststellen, wieweit es dem Künstler gelungen ist, sein Projekt ins Werk zu setzen und wieweit er von der Tücke des Materials und anderen Umständen gezwungen wurde, von seinem Entwurf abzuweichen. Somit wird ein Kriterium für Kunstkritik ersichtlich. Der Wert eines Kunstwerks ist der…

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