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Titel: Betriebssystem Kunst · von Andreas Seltzer · S. 205 - 208
Titel: Betriebssystem Kunst , 1994

Fülle und Leere

Von Andreas Seltzer

Schauen wir mal. Schlendern wir zum Mittelteil des Kudamms und sehen in die Fenster. Linke Seite, rechte Seite, was da alles in den Läden ist, hat man mit kleinen Änderungen schon tausendmal gesehen. Schaufensterbummeln kann man dieses Gucken schon lange nicht mehr nennen. Der Großstadtmensch ist auch Warenspezialist; Stichproben macht man, Kontrollbesuche da und dort, und was die Mode der Saison angeht, ist man ohne Mühe stets up to date.

Am Wochenende, frisch gewaschen, den Freund, die Freundin eingehakt und die Geschäfte Stück für Stück gemustert – wen interessiert dieser Freizeitfilm denn noch? Menschen am Sonntag, damals in Berlin, die betrachtet man im Kino mit einem bißchen Rührung: das Wannseeplantschen, das Eisbeinessen in der Laubenkolonie, die Flirts im Doppeldeckerbus, die Hut- und Krawattenträger, die im Josty oder im Romanischen Café die Zeitungen und die Passanten studieren… Die Glücklichen, denkt man, die meisten ahnen nicht, daß dieses Vergnügen bald für einige Zeit vorbei sein wird. Aschinger und Mampes Gute Stube, das war einmal und kommt nach dem Kriege nur noch in Schrumpfversionen wieder. Und die Schaufenstergucker sehen jahrelang erst mal viel Leere und ein karges Angebot. Nylons mit Mittelnaht oder den 1 A-Damenschuh mit Korkabsatz und daneben Kernseifenstapel und Schnürsenkel, schwarzbraun wie die Haselnuß, reißfest und das Richtige fürs Schlangestehen und das kilometerlange Wandern durch die Trümmerfelder.

Die kargen Zeiten gehören, wir wissen es, nicht zur Vergangenheit. In Riga, Krakau oder in Petersburg gibt es in den Läden ebenfalls viel Raum für wenig Dinge. Und wie sieht der Westblick…

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