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Ausstellungen: Dortmund · von Reinhard Ermen · S. 235 - 237
Ausstellungen: Dortmund ,

Dortmund
Nam June Paik

I Expose the Music
Museum Ostwall im Dortmunder U 17.03.–27.08.2023

von Reinhard Ermen

45. Biennale di Venezia 1993, Hans Haacke hatte im deutschen Pavillon die Bodenplatten im Hauptraum herausreißen und den Abraum locker auf den Boden verteilen lassen, auf dem Halbrund der Apsis prangte der Schriftzug „GERMANIA“. Man ist versucht, sich zu dieser bildmächtig angeschlagenen Erhabenheit eine entsprechende Musik zu denken; warum nicht das Vorspiel zu „Rienzi“. Doch Wagner war weit weg, Nam June Paik, der zweite Mann von 1993, hatte das Haus umstellt, eine TV Karawane geisterte durchs Gelände und aus den beiden Seitensälen schwappte ein nervöser Soundtrack hinüber ins todernste Mittelstück. Im idealtypischen Kontrast zur Steinwüste mit Ansage gab es rechts und links eine bunte Mixtur aus Paiks Archiv, also Beuys, Cage, Moorman, Joplin oder Bowie, etwas vom Living Theatre, Kultisches aus der Mongolei und tropische Fische. Der Videosynthesizer mischte mit. Die Akustik kam als unabhängige Schicht dazu, Short Cuts rockig, poppig und laut. Ein Zufallsgenerator regelte dieses mediale Wetterleuchten aus vier Kanälen, das 42 Projektoren in die Räume warfen. Für den Pavillon gab es seinerzeit einen goldenen Löwen, Haackes ikonisches Szenario ging als repräsentatives Bild ins kollektive Kunstgedächtnis ein, Paiks Beitrag wurde fast vergessen. 30 Jahre danach ist diese „Sistine Chapel“ erstmals in Deutschland zu sehen. Jon Huffman, der bereits 1993 die technische Einrichtung in Venedig betreute, hat Paiks elektronische Kapelle 2019 für die Tate Modern reaktiviert und jetzt für das Museum Ostwall eingerichtet. Die auf einen großen Saal konzentrierte Version ist überwältigend, – um es mit einer heutigen Vokabel zu sagen, immersiv. Die Ausstellung, in deren Zentrum Paiks performative Arbeit steht, hat damit ein Hauptwerk für Augen und Ohren.

Nam June Paik (1932 – 2006), der Koreaner aus Japan, hatte Philosophie und Musik studiert, in Deutschland ergänzte er diesen Diplomstudiengang durch Musikwissenschaft und Komposition in München und Freiburg, Ende der 50er Jahre landet er in Köln, er taucht in die Szene ein, mit Karlheinz Stockhausen und anderen realisiert er dessen „Originale“. Ein Enfant terrible sucht seinen Platz zwischen den Künsten, darunter ist die Musik die Nummer 1. Die Klaviere, die er 1963 in der Wuppertaler Galerie Parnass zeigt, müssen sich freilich einiges gefallen lassen, seine frühen Fernseher, die von Anfang an Teil seiner Musik sind, spielen Bildstörungen, der Schallplattenschaschlik, der auf dem Rücken eines altersschwachen Radioapparats die Scheiben in Schwingung versetzt, wirkt überdreht aber hintersinnig. Paik praktiziert Fluxus auf seine Art, sprich: fließende Entgrenzung hoch 10. Die revoltierenden 1960er Jahre haben in ihm einen schillernden Protagonisten, das Wort vom „Kulturterroristen“ heftet sich an seine Fersen.

Die Auftritte mit der gelegentlich ziemlich nackten Cellistin Charlotte Moorman machen Skandal, er selbst lässt schon mal die Hosen runter, um etwa der „Mondscheinsonate“ auf die Sprünge zu helfen. Auch als er sich zum universaler Medienkünstler mausert, blieb die Musik Leitfaden einer lebenslänglichen Performance, ist Synonym der durch ihn anvisierten polyphonen Gleichzeitigkeiten, das zeigt die von Rudolf Frieling, Christina Danick und Stefanie Weißhorn-Ponert kuratierte Ausstellung in gut 100 Exponaten. Musik = Zeit = Performance. Hinzu kommt eine produktive Leerstelle, die frühe Idee einer „Sinfonie for 20 Rooms“ von 1961, die Paik nie realisiert aber in verschiedenen Projekten und unter anderen Namen weitergedacht hat, ist Anlass, einen Raum für Gäste aus aller Welt zu öffnen, die sich mit angemessenen Aktionen hier niederlassen sollen. Der ambitionierte Entwurf, eine Skizze aus Prosa, Zeichnung und Grundriss klebt als riesengroße Herausforderung auf der Wand. Als erster hat Aki Onda aus New York hier seine Werkzeuge ausgebreitet, Im Mai folgt Autumn Knight, im Juli Annika Kahrs und zuletzt Samson Young.

Und dann ist da noch ZEN. Zur torkelnden Überfülle gibt es die komplementäre Leere, den buddhistischen Sonderweg zur Erkenntnis hat der hyperaktive Allrounder immer im Gepäck. „There is a piano, with keys – and no hammers“ notiert er Anfang der 60er Jahre: „one comes – plays – (without sounds) and – goes“. Man kann seine aphoristischen Texte (einige sind im Katalog zu finden) lesen wie die Paradoxien der lehrhaften-Zen Anekdoten; das gilt im auch für einige seiner Aktionen. So gibt es in Dortmund zum Ausklang „Zen for Film“, 1964 wohl als Antwort auf Cages 4.33 gedacht. Durch den Projektor rasselt ein Leerfilm in der Endlosschleife, Verunreinigungen, Kratzer und gelegentlich die Schatten der Staunenden sind im flackernden Weiß zu sehen. „Music – for the mind by the mind of the mind“.

Katalog, mit Texten von Lisa Bosbach, Christina Danick, Hendrik Folkerts, Rudolf Frieling, Hanna Hölling, Stefan Mühlhofer, Regina Selter, Stefanie Weißhorn-Ponert, Kurt Wettengl. 248 Seiten, 29,90 Euro