Oliver Zybok
Redefreiheit. Zwischen euphorischer Illusion und eskapistischer Enttäuschung
I. Die Überwindung des Spektakels
Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Demokratie sich nur dann entfalten kann, wenn die Bevölkerung wirklich die Möglichkeiten erhält und sie auch nutzt, aktiv das öffentliche Leben zu gestalten. „Dieses Ideal basiert auf anspruchsvollen Vorannahmen: Es setzt voraus, daß sich eine sehr große Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda beteiligt und nicht allein passiv auf Meinungsumfragen antwortet; daß diese Menschen […] sich mit den daraus folgenden politischen Ereignissen und Problemen beschäftigen.“1 Der Politikwissenschaftlicher und Soziologe Colin Crouch (geb. 1944) spricht hier von einem utopischen Ideal, das einen wichtigen Maßstab für ein demokratisches Verständnis darstellt. Nun ist seit Jahrzehnten eine zunehmende Politikverdrossenheit bei einer Vielzahl von Bürgern jeglicher Nation unverkennbar, die aus verschiedenen mehr oder weniger bekannten Gründen resultieren: von fragwürdigem politischen Krisenmanagement über oligarchischen Lobbyismus, der vor allem die Wirtschaft fördert, über Wahlmanipulationen bis hin zu Legitimationslügen, die Kriege rechtfertigen sollen. Mit ihrer distanzierten Haltung, dem Boykott von Wahlen, schränken die Bürger ihr Recht auf Redefreiheit freiwillig ein.
Nun sorgen Politikverdrossenheit und politische Willkür im Einklang für Tendenzen, die man durchaus als postdemokratisch bezeichnen kann. Man darf dabei aber nicht den Fehler begehen, mit dem Begriff der „Postdemokratie“ das Ende der Demokratie vorauszusetzen, vielmehr kennzeichnet er ihre Verfallserscheinungen. Jacques Rancière (geb. 1940) zufolge ist die Demokratie keine Regierungsordnung, sie ist für ihn vielmehr eine Subjektivierungsweise des Politischen, „das System von Eingriffsformen, die das System der Regierungsformen daran hindern, sich in…