(Re)Konstruktion der Erinnerung
CHRISTIAN BOLTANSKIS UNTERSUCHUNG DES SUBJEKTS UND DES SOZIALEN
VON JOHANNES MEINHARDT
(Re)Konstruktion und Museum
Der historische Einsatz von Christian Boltanskis ersten Arbeiten, die 1968/69 mit einer – schnell in die Konstruktion einer Fiktion umschlagenden – Rekonstruktion seiner Kindheit begannen, liegt im Übergangs- und Schnittpunkt zweier epochaler Bewegungen, die Kunst und Leben in eine unlösbare, wesentliche Beziehung bringen wollten und die eine Erforschung oder sogar Veränderung des Lebens mit Hilfe der Kunst in Gang zu bringen versuchten. Christian Boltanski beginnt mit dem Ende der naiven oder affirmativen, aber auch kritisch-politischen Engführungen von Leben und Kunst in Happening, Nouveau Réalisme, Pop-art und Fluxus, bei Joseph Beuys, Yves Klein, Dieter Roth, die Anfang der 60er Jahre begonnen hatten, das Material des “wirklichen Lebens” zu benutzen, darzustellen und zu demonstrieren oder auf das “wirkliche Leben” bewußtseinsbildend und pädagogisch einzuwirken. Zumindest die direkt politisch-pädagogisch ausgerichteten Teile dieser Bewegung erfuhren 1968 sowohl ihre Erfüllung als auch ihren Zusammenbruch.
Aus dieser Zäsur, diesem Zusammenbruch, der den Glauben an künstlerische Aufklärung schwer erschütterte, der die Naivität vieler Künstler der Gesellschaft gegenüber aufdeckte, gingen aber künstlerische Bewegungen hervor, die Gesellschaft und Leben zum Gegenstand von mehr oder weniger wissenschaftlichen Forschungen machten. Durch strukturalistische Verfahrens- und Betrachtungsweisen waren die Gesellschaftswissenschaften in den 60er Jahren völlig umgestaltet worden: Sie hatten einen Blick auf ihren Gegenstand (die Sprache, die Gesellschaft, das Symbolische, das Soziale) geschaffen, der seinen Gegenstand, an dem der Forscher selbst teilhat, von dem er sich nicht abtrennen kann, nicht “versteht”, sondern als fremden, unvertrauten und unverstandenen von außen konstruiert oder rekonstruiert. Ausgehend von Linguistik, Ethnologie und Psychoanalyse, in denen ein “Nichtverstehen” ihres Gegenstandes sich als Notwendigkeit erwiesen hatte, hatten auch Soziologie und Geschichtswissenschaften begonnen, die Naivität des Verstehens zu durchbrechen und Methoden zu entwickeln, die einen Blick auf die Gesellschaft und das Individuum als einen völlig unbekannten, fremden Gegenstand ermöglichen. Das Problem war, das Bekannteste, Banalste, Alltäglichste, Trivialste als dasjenige zu erkennen und methodisch zu analysieren, das am wenigsten sichtbar und erkennbar, das am unbekanntesten und objektiv fremdesten ist.
Spurensicherung, “ethnological” und “archeological art”, bis zu einem gewissen Grad selbst “minimal” und “concept art” speisten sich aus der Gewißheit, daß sich das Nächstliegende, das Triviale, das im alltäglichen Leben Selbstverständlichste zum Sprechen bringen läßt, wenn es nur methodisch richtig befragt wird. Die “Museen”, die Daniel Spoerri, Claes Oldenburg, Harald Szeemann, Marcel Broodthaers (indirekt auch Daniel Buren) Anfang der 70er Jahre einrichteten, waren Museen des Nicht-Bemerkenswerten, Museen des Alltäglichen und Banalen, Museen unbedeutender Personen oder des Künstlers selbst. Christian Boltanski, der ein Museum seiner biographischen Spuren im Archäologischen Museum von Dijon geplant hatte, war durch seinen Bruder Luc, einen Soziologen, direkt mit solchen Forschungen konfrontiert. Luc Boltanski war Mitarbeiter von Pierre Bourdieu in dessen Buch über die Amateurfotografie “Un Art moyen: Essai sur les usages sociaux de la photographie”, 1965. Eine Kunst, die sich der Fragestellungen und Methoden der Ethnologie, Archäologie und Psychoanalyse bedient, sprengt den traditionellen Begriff des Museums. Für die Ethnologie, die Archäologie, die Geschichte, selbst die “Naturgeschichte” gibt es Museen, in denen kleine, fragile, wertlose Gegenstände in Vitrinen ausgestellt sind: als Dokumente, Zeugnisse, Nachweise – als Gegenstände des Wissens. Alltägliche Gebrauchsgegenstände, deren trivialer Kontext verlorengegangen ist (durch die Zeit, durch den räumlichen und kulturellen Abstand oder auch nur durch die Isolierung im Museum), werden zu Dokumenten, also Trägern von Information oder Wissen. Die banalsten Gegenstände werden durch die Herstellung eines Blicks von “außen”, durch eine umfassende Distanzierung, durch ihre Befreiung von Funktionen und ihrer Unterwerfung unter eine Wissenschaft zu Gegenständen des Wissens.
Bei der Ausdehnung des Begriffs des Museums zeigt sich, daß ein ästhetischer Blick auf Kunstwerke, ein historischer Blick auf Zeugnisse und Dokumente und ein wissenschaftlicher Blick auf Objekte des Wissens dieselbe spezifische Zurichtung des Materials zu intelligiblen, immateriellen Gegenständen betreiben. In allen drei Bereichen schafft eine allgemeine Musealität Gegenstände, die für ein Bewußtsein Bedeutung vermitteln, die nur Träger von Wissen oder Erkenntnis sind. Indem die in Vitrinen ausgestellten Objekte, Relikte, Spuren und Materialien zum “Gegenstand” von mehreren Wissenschaften des Besonderen werden, von Wissenschaften der Gesellschaft, der Geschichte, des Kunstwerks, des Produzierten, des Sozialen und des Individuums, werden sie als “Produkte” gesehen, die Dokumente und “Zeugnisse” sind, aus denen ihre Produktionsbedingungen erschließbar sind und die Aufschluß über ihre Produzenten geben. Sie dienen der Rekonstruktion von Gesellschaften und Individuen: Solche Rekonstruktion ist aber immer eine Konstruktion, die ihren scheinbar ursprünglichen, vorausgesetzten Gegenstand gemäß den Methoden, Hypothesen und Vorstellungen des Ausstellenden fabriziert.
Boltanski verstand seine frühen “Forschungen” als Zeugnisse in einem solchen Sinn: “Es war unsere Ansicht, daß die Elemente unserer Arbeit auf eine Weise untersucht werden können, die es erlauben würde, sie mit den anderen Zeugnissen der menschlichen Tätigkeit zu konfrontieren; deswegen wäre es interessant, diese Konfrontation in authentischen Museen einzugehen, die die Aufgabe haben, das Gedächtnis der Gegenstände und der wiedergefundenen Motivationen, die ihre Herstellung geleitet haben, zu bewahren.”1 Das Zusammenstoßen und -passen von Kunstwerken und alltäglichen “Dokumenten” – etwa in einer Gedächtnisausstellung eines verstorbenen Malers -ist bemerkenswert. “Mich hat es immer erstaunt, daß im Louvre kleine gallorömische Ölfläschchen, also Gebrauchsgegenstände, zu sehen sind und zugleich auch Gemälde, etwa jene von Rubens, Herrlichkeiten, die von einem Künstler geschaffen wurden, der genau wußte, daß er Kunst machte. Ich habe mich für die verschiedenen Abteilungen der Museen interessiert. {…} Immer geht es dabei um ein Spiel mit den Institutionen, um eine Sicht auf den Ort und das, was er enthält.”2
(Re)Konstruktion des Subjekts
Eine “Ethnologie des Alltags”, der viele, vor allem die frühen Arbeiten von Christian Boltanski nahezustehen scheinen, bringt das Triviale und Alltägliche zum Sprechen; sie zeigt das Soziale als einen Gegenstand des Wissens und der Untersuchung. Aber kann es einen solchen Gegenstand “Alltagsleben” überhaupt geben? Ist nicht das leibliche, soziale und psychische Leben der Individuen gerade das, was nie fest genug wird, um sich fixieren zu lassen? Oder das durch eine Fixierung sein Leben verliert?
Die Wissenschaften des Sozialen und der Geschichte versuchen eine authentische “Substanz” des Sozialen zu erfassen, die “Wahrheit” der Ereignisse, des Geschehens und der Individuen; ohne eine solche authentische Wahrheit, die den Gegenstand dieser Wissenschaften bildet, könnten sie nicht existieren. Diese Wahrheit des Sozialen findet sich anscheinend in Zeugnissen und Dokumenten, die ein “objektives Gedächtnis” der Individuen und Ereignisse bilden und so die “wahre” Rekonstruktion des Geschehenen erlauben. Jede Technik des Sozialen – jede Verwaltung – setzt voraus, daß das Soziale klare Identitäten bildet oder sich dazu zwingen läßt.
Aber nichts ist weniger authentisch, nichts ist unsicherer und lügnerischer als Dokumente und Erinnerungen, als “objektives” und “subjektives” Gedächtnis. Die Suche nach beweisenden, bezeugenden, “sprechenden” Spuren erliegt dem Sog einer projizierten Authentizität, die ihren Gegenstand erst dadurch gewinnt, daß sie ihn stillstellt bzw. mortifiziert. Erst das endgültig fixierte Leben, das nur noch als Relikt und Spur von Leben existiert, läßt sich beurteilen, als Gegenstand behandeln und in Wissen transformieren: in eine definierte Person, in eine gesicherte Biographie, in Ereignisse, deren Bedeutung bekannt ist. Die Herstellung von Abstand durch die Wissenschaft, die Musealisierung in der Vitrine, setzt eine Identifizierung als festes, beharrliches, veränderungsloses Objekt voraus: als Relikt, Rest, Spur, Reliquie und Überbleibsel des Lebens, als abwesendes Leben.
Von 1968 bis 1975 untersuchte Christian Boltanski die individuelle Erinnerung: seine eigene und die der anderen. Die Akkumulation der vergangenen Ereignisse im Gedächtnis und deren Synthese in einem Bild, einem Selbstbild, formen die Einheit des Selbst. Aber Erinnerungen sind selbst nur Konstrukte, keine “wahren Rekonstruktionen” des Vergangenen: auch das Selbst besitzt keine eindeutige Wahrheit, sondern entsteht als ein Konstrukt in der fortwährenden Bearbeitung durch den psychischen Apparat. Dieses Selbst, so transparent, authentisch und wahr es für den naiven Blick sein mag, entsteht aus einem Konglomerat von echten Erinnerungen, von Erzählungen der Anderen, von Vorstellungen und Imaginationen, von medialen und technischen Bildern, die von außen kommen: es entsteht durch die Zuschreibung von Bildern, Vorstellungen und Erzählungen zu einem “Selbst”, die diese in sein Selbst-Bild integriert. Und selbst das Selbstbild ist noch ein Bild, welches das Kind übernimmt, und in immer weiteren Identifikationen und Projektionen differenziert. Das Selbst ist nur in geringem Grade individuell: es bildet sich durch die Vermittlung der sozialen Instanzen, die ihm die “Vor-Bilder” liefern, die als Anspruch, Erwartung, Modell an das Individuum herangetragen werden. Die Bilder des Selbst sind kollektive Bilder schon insoweit, wie kollektive Instanzen sie erzeugen; in dem Maße aber, wie sie technische Bilder sind, Bilder der Medien, Abbildungen, die die Modelle für Selbst und Erinnerung liefern, lassen sie sich sogar direkt objektivieren.
Mißtrauen gegenüber der Authentizität der Erinnerung und des Selbst bestimmt die Arbeiten von Boltanski von Anfang an. Er fingiert die Überbleibsel seiner Kindheit – die Gegenstände stammen von seinem Neffen; schreibt Briefe, die von seinem Tod berichten; erstellt die “Rekonstruktion eines Unfalls, der mir noch nicht zugestoßen ist und in dem ich den Tod gefunden habe”; besingt eine Platte mit den Kinderliedern, die ihm vorgesungen worden sein sollen; setzt Fotos anderer Kinder in seine Biographie oder läßt umgekehrt andere Kinder Handlungen und Gesten, an die er sich erinnert, ausführen. “In Wirklichkeit sucht Boltanski überhaupt keine Spuren: er schafft sie, stellt Leben her. Indem er deren Integration sucht, konstruiert er eine Alltäglichkeit. Seine “dokumentarischen” Verfahren benützen die Schrift der Spiegelung.”3
In seiner Biographie beschreibt er diesen Ansatz aus einem überfliegenden Abstand: “1968 Er rekonstruiert seine Kindheit, will sich durch sich selbst ausdrücken. {…} 1970 Er denkt immer noch über seine Kindheit nach, aber er sucht nun eher die Kindheit anderer zu rekonstruieren. Alle Kindheiten ähneln der seinen, er verkörpert die Erinnerung.”4 Da alle Erinnerung tief in die Bilderflut des Sozialen und Medialen eingetaucht ist und in ihrer Tiefe keine Kriterien der Unterscheidung zwischen verschiedenen Schichten oder Wirklichkeitsebenen der Bilder kennt, ist Erinnerung nur eine Konstruktion: eine Zuschreibung, die das Selbst unternimmt, eine Einverleibung oder Ausstoßung von Bildern unterschiedlicher Herkunft.
Ein “déja vu” ist eine Erfahrung, in der die Schichten- und “Wirklichkeits”-Differenz zwischen zwei Typen von Bildern aufklafft: Das wahrgenommene Bild gibt sich als erinnertes Bild zu sehen. Die beiden schlagen ineinander um, weil sie sich einem konventionellen Schema unterordnen, lassen aber den logischen Bruch als Irritation spürbar werden. In den “Erinnerungsfotos” von Christian Boltanski aber soll jeder seine eigenen Erinnerungen wiederfinden; sie bemühen sich, konventionelle kollektive Schemata so genau wie möglich zu treffen. “Dieser Übergang vom Persönlichen zum Kollektiven hat mich immer fasziniert. Selbst wenn ich vorgab, von meinen eigenen Erinnerungen zu sprechen, schöpfte ich weniger aus meinem Gedächtnis als aus der kollektiven Erinnerung. Es reizte mich schon immer, mein eigenes Gedächtnis auszulöschen. Meine Bilder nehmen derzeit nicht allein Bezug auf die museale Kultur, sondern eher auf einen allen Bildern gemeinsamen Grund. Wie Pérec gesagt hätte, handelt es sich um ein ‘Ich-erinnere-mich’, wo sich auf einer und derselben Ebene Museumsbilder, Buchreproduktionen sowie Konfektschachtel- oder Kaffeehausdekorationen vermischen. {…} Ich habe sehr wenig Kindheitserinnerungen. Ich glaube, ich habe diese angebliche Selbstbiographie zur Auslöschung meines Gedächtnisses und zu meinem Schutz gemacht. Ich habe so viele falsche Erinnerungen erfunden, die kollektive Erinnerungen waren, daß die Figur Christian Boltanski keine faßbare Wirklichkeit mehr hatte.”5
Die Betrachter der “Erinnerungs-Fotos” von Boltanski sollen in diesen ihre eigenen Erinnerungen “lesen”, also die Immanenz und Identität des Gelebten mit allen damit verknüpften Gefühlen darin wiederfinden. Das heißt aber, in die Falle des Selbst zu gehen. Im Foto verknüpft sich die Innerlichkeit der Erinnerungsbilder mit dem dokumentarischen Wert der “objektiven Zeugnisse”: Beide sind fingiert, werden erst durch identifizierende Manipulationen hergestellt; beide lügen, weil sie eine Authentizität des Dokuments behaupten, die erst durch die Interpretation erzeugt wird. Im Erinnerungsfoto geschieht der Übergang vom individuellen inneren Bild zum äußeren Dokument mühelos: So lassen sich kollektive Bilder, die die Modelle persönlicher Erinnerung liefern, in falschen Dokumenten simulieren oder fingieren.
Von innen, für sich, ist das Subjekt ein Selbst, Totalität des Bewußtseins; von außen aber ein Objekt, ein Gegenstand von Techniken und Wissenschaften. Das Subjekt wird zum fixierten, festgelegten Gegenstand durch seine Erfassung im Archiv, im Bild, in der Akte. Durch die Akkumulation von Spuren seiner Existenz, von Abdrücken, Fotos und Relikten, die gesammelt, archiviert und geordnet werden, wird es in einer bestimmten Biographie festgeschrieben und identifiziert. Beunruhigend dabei ist, daß die Wissenschaft des Sozialen und die institutionelle Macht genauso die Individualität, Authentizität und Unverwechselbarkeit des Subjekts anstreben wie das Subjekt selbst und als Selbst. Erst durch die Unterwerfung (subjectio) der anonymen Masse unter die Techniken der Fixierung, Unterscheidung und Akkumulation wird das Subjekt zugleich bewußtes Selbst und Objekt der Erfassung. Das objektive Gedächtnis der Akten und Archive ist ein direktes Pendant des subjektiven Gedächtnisses des Selbst: Es konstruiert das Subjekt, indem es dieses scheinbar rekonstruiert.
Boltanski machte diesen Zusammenhang deutlich, indem er falsche Dokumente ausstellte; Inventare, die alle persönlichen Besitztümer einer Person umfaßten, präsentierte; anonyme Fotos und Fotoalben interpretierte, die sozialen Beziehungen in ihnen zu entschlüsseln versuchte; die Fotos von Mitgliedern eines Micky-Maus-Clubs oder einer Schule bei Dijon abfotografierte; die Gegenstände seiner Kindheit in Plastilin nachbildete und ausstellte – Dokumente, die Subjekte determinieren, aber dadurch ihre Funktion verfehlen, daß die Subjekte anonym bleiben oder problematisch sind. Die “Wahrheit” dieser Dokumente ist uneinholbar, ihnen bleibt die leere Suggestion des Zeugnisses.
Die anonyme Figur “Christian Boltanski”, geschaffen aus den Erinnerungen und den Dokumenten von vielen Personen, darunter auch C.B., wurde C.B. zuletzt zu gewichtig. So schaffte er sie wieder ab: Er sprengte sie auseinander, machte sich zum Clown. In den “Saynètes comiques” von 1974 spielt er triviale Alltagsszenen vor gemalten Hintergründen in starren, übertriebenen Posen und Mienen. Die Person entpuppt sich als Puppe und persona (Rolle); die konventionellen Verhaltens- und Ereignismuster zeigen sich als triviale Rollen, die Definitionen und Identifikationen der Subjekte als Zwangsapparaturen, durch die das Subjekt als Selbst wie als Objekt fixiert wird. “1974 Er geht über sich hinaus, er übertrifft sich, er nimmt Abstand von sich und macht sich über sich lustig, er spricht nicht mehr über seine Kindheit, er spielt sie.”6
(Re)Konstruktion des Sozialen
Der Clown ermöglicht einen Blick von außen auf das Gelebte, das von innen gesehen Leidenschaft und Gefühl, Pathos und Affekt ist. Er zeigt dort ein immer wiederkehrendes, kollektives Modell, wo sich im Gelebten absolut persönliche Erinnerung präsentiert. Das Verhältnis zwischen der Anmaßung des Subjekts, das sich selbst als reine Transparenz, als Wahrheit glaubt, und seiner Konstruiertheit, Beschränktheit und Endlichkeit, die ein Blick von außen feststellt, ist das eines gegenseitigen Ausschlusses: Von außen wird das Subjekt durch seine Einschränkungen determiniert und identifiziert, von innen erfährt es sich als Totalität des Bewußtseins.
Durch die Verschiebung der Perspektive von der äußersten Nähe der Identität des Selbst mit sich zu einem distanzierten Blickpunkt wird das Subjekt als objektives Konstrukt sichtbar. Solche Verschiebung der Perspektive auf das Subjekt geschieht aber mit unterschiedlichen Haltungen und Intentionen. Der Clown spielt mit den Rollen, karikiert die konventionellen Haltungen als Masken; der Wissenschaftler läßt das Subjekt zu einem Objekt des Wissens erstarren; der Kritiker denunziert die Beschränktheit des Subjekts und seines Bewußtseins; der Melancholiker erfährt und betrauert die Schwäche, Verwundbarkeit und Vergänglichkeit des Leibes wie des Subjekts.
Boltanski nimmt immer wieder andere Haltungen ein, wechselt die Positionen. In den Jahren zwischen 1975 und 1985 erforscht er die Bereiche der konventionellen affektiven und kulturellen Muster, so wie sie sich als Fotos und in Fotos niederschlagen. In “Kompositionen”, die den sauberen, klischeehaften und erstarrten Arrangements von Amateurfotos nachgebaut sind, inszeniert er die künstliche Komposition der scheinbaren Wahrheit der Medienbilder: Er führt ihre Konstruktion vor, die gerade nicht eine Wirklichkeit rekonstruiert, sondern eine sorgfältig kontrollierte Welt des “Schönen” und der schönen Gefühle erst fabriziert. Der Abstand zwischen den raffinierten Simulationen und den “wirklichen” Lügen in den Fotos verschwindet tendenziell vollständig: Diese Fotos werden zu Objekten des Wissens und der Untersuchung genau dadurch, daß sie im Kunstzusammenhang und als Werke eines Künstlers rezipiert werden. “Sie sind eine seltsame kulturelle Mischung von Erinnerungen an klassische Gemälde und anderem visuellen Ausgangsmaterial wie Filmen, Fotos, Werbung oder Bildern, die in der Luft liegen.”7
Mit der Hilfe von Inszenierungen aus kleinen Figürchen oder Hampelmännern, die er überwiegend selber aus Karton, Korken und Abfällen herstellt, dann stark ausleuchtet, vor einem schwarzen Hintergrund fotografiert und immens vergrößert, evoziert Boltanski modellhaft pathetische Gefühlslagen: Er schafft heroische, tragische, affektive, theatralische, sentimentale Szenen, die aber nicht die geringste referentielle “Wirklichkeit” besitzen. Aber obwohl unverhüllt sichtbar ist, daß diese Szenen mit gebastelten Figuren aus Abfallmaterial inszeniert werden, funktioniert die Suggestion der einfachen Modelle: der Posen, der großen Gesten, der Konfrontationen. Boltanski führt eine sehr beschränkte und völlig kodifizierte Körpersprache des affektiven Pathos vor, die die soziale Wahrnehmung und die Ausbildung der Selbstbilder leitet. In diesen lächerlichen Szenen findet das Subjekt die Modelle seiner großen Gefühle, Bilder und Erinnerungen wieder, die es zu den wichtigsten Teilen seiner authentischen Subjektivität zählt.
Die “Kompositionen” liefern kollektive kulturelle Muster für – vom Innen des Subjekts aus – komplexe und hochstehende Gefühle und Erfahrungen: für Schönheit, Erhabenheit, Pathos. Diese werden als Wirkungen von Szenen aus simplen, “armen” Materialien und genauso simplen, schematischen Gesten oder Posen vorgeführt; die Armut dieser “Hochsprache”, ihre Enge, Lächerlichkeit und Manipulierbarkeit werden deutlich, wenn der Betrachter die Wirkungen spürt. Der durch die Vergrößerung entstandenen Monumentalität, dem scheinbaren, gespenstischen Schweben in einem unendlich tiefen schwarzen Raum, und der Gewalt des Lichtes kann sich auch der nicht entziehen, der sieht, wie diese Wirkung erzeugt wird.
(Re)Konstruktion und Gewalt
Das Subjekt steht aber nicht nur in der Spannung zwischen dem Selbst und dem sozialen Wissen, konstituiert sich nicht nur als Konstruktion der subjektiven Erinnerung im Gedächtnis und des objektiven Gedächtnisses im Archiv oder Museum, sondern es ist auch Objekt der Macht: Objekt der Institutionen der Verwaltung, der Beherrschung, der Vernichtung und der Auslöschung aus dem Gedächtnis. Mit der Macht konfrontiert, geht das Subjekt unter, hinterläßt nur die Spuren seiner Erfassung in den Akten und anderen Dokumenten. Gegenüber der Macht, der Gewalt und deren Ablegern ist das Subjekt von vornherein Opfer: Es ist verletzlich und vergänglich. Die Macht isoliert das Individuum aus der anonymen Masse durch seine Vernichtung: Als Leichnam ist es identifiziert und individualisiert. Der Leichnam aber läßt sich, wie Akten und Dokumente, vernichten, als bloßes Objekt, das er ist. Mit dem Leben verschwindet die subjektive Erinnerung, und mit dem Archiv das objektive Gedächtnis der Institutionen.
Seit 1985, in den “Leçons ténèbres”, beschäftigt sich Boltanski mit den Opfern der Macht und der Gewalt: mit denjenigen, denen noch die Erinnerung genommen wurde und wird, die erst durch ihren Tod aus der anonymen Masse getreten sind, aber anonymes Foto, anonymes Dokument, anonymer Name geblieben sind. Die Fotos von 3000 toten Schweizern, Fotos der Opfer von Verbrechen und Verkehrsunfällen aus der spanischen Zeitung “El Caso”, Fotos von Opfern wie von Tätern aus der Zeitschrift “Detective” – von ihnen bleibt kein Wissen, keine Erinnerung, keine subjektive Spur, auch wenn ein zufälliges Dokument, ein unverständliches Relikt, den Zusammenstoß mit der Gewalt oder der Macht bezeugt. Diese Fotos, Kartons mit Akten, Kisten mit Überbleibseln, diese Abstellkammern und Reservatenlager, diese Stapel, Regale und Keller bewahren keine Erinnerung, sondern sind Orte eines Aufeinanderprallens, das die Individuen nicht nur metaphorisch mortifiziert, wie das Foto, sondern wörtlich.
Michel Foucault spricht von Subjekten, die in die Akten der Kriminalgerichte geraten waren: “Was sie der Nacht entreißt, in der sie hätten bleiben können und vielleicht für immer bleiben müssen, das ist die Begegnung mit der Macht: Ohne diesen Zusammenstoß wäre gewiß kein Wort mehr da, um an ihren flüchtigen Durchgang zu erinnern. {…} Es ist die Knappheit hier und nicht die Weitschweifigkeit, die macht, daß Reales und Fiktion sich gleichgelten. Nichts gewesen seiend in der Geschichte, keinerlei ansehnliche Rolle in den Ereignissen oder unter den bedeutenden Leuten gespielt habend, keine berichtenswerte Spur nach sich gezogen habend, haben sie Existenz und werden sie auf immer Existenz nur haben in der zerbrechlichen Deckung der Wörter.”8 Was von den (fiktiven? wirklichen?) Subjekten bei Boltanski bleibt, ist noch sprachloser: sind Fotos, Kleider und Kisten.Spuren, die nicht mehr zu entziffern sind; Reste, die niemandem mehr zugehören; Relikte, die mit keiner Erinnerung mehr verknüpft sind; anonyme Reliquien.
In den Arbeiten der Werkgruppen “Monuments”, “Archives”, “Lycée Chases”, “Détective” treten Subjekte dem Betrachter nicht mehr als Objekte des Wissens gegenüber (und Wissen richtet sich auf das lebendige Subjekt, sucht dieses in seiner Einmaligkeit zu erfassen), sondern als Objekte der Macht (also Subjekte im wörtlichsten Sinn: Unterworfene). Sie werden nicht mehr durch ein Wissen, durch kollektive Modelle und durch unpersönliche Erinnerungen festgelegt und identifiziert, sondern ausgelöscht, in die Abwesenheit gestoßen, selbst die Abwesenheit von Erinnerung. Die äußerste Grenze des Subjekts: das absolute Verschwinden, das Untergehen des Leibes wie der Erinnerung. “Zehn Jahre später schienen alle diese Kindergesichter wie Leichname zu sein. Die Bilder sind für immer tot, da sie jetzt Erwachsene sind {…} eine anonyme Masse, eine Masse toter Körper. Auf diese Weise waren sie keine Subjekte mehr, sondern Objekte: Material.”9
Die Zerstörung der Erinnerung ist so radikal, daß sie alle Unterschiede löscht; sie ist der Tod im Subjekt selbst. Vor der Anonymität der Fotos oder der Lebens-Zeugnisse, die keine Erinnerung mehr wachrufen, bleibt nur noch eine Position der Verzweiflung oder des metaphysischen Trostes. Ein Eingedenken, das sich nicht mehr auf individuelle oder kollektive Erinnerung stützen kann, benötigt die religiöse Gewißheit, daß eine Erinnerung, ein Überleben, eine Rettung an einem anderen Ort möglich ist. Das Eingedenken weiß, daß ihm auch die Erinnerung schon genommen wurde, daß es nur noch die Spur einer Abwesenheit ist, die schon kein Zeichen mehr ist, ihre Referenz verloren hat.
Die Arbeiten dieser Werkgruppen nähern sich in ihren Formen und ihrem affektiven Gehalt Grabaltären oder Mahnmälern: Stätten, die ein Gedenken ohne Erinnerung ermöglichen sollen, die keine Konstruktion und Rekonstruktion des Verlorenen und Vergessenen mehr unternehmen wollen. Sie wollen nicht mehr wissen, nicht mehr identifizieren, nichts fingieren; sie mahnen an die Zerbrechlich- und Vergänglichkeit des Leibes wie des Subjekts und erinnern an den Untergang aller Erinnerung. Deswegen kann Boltanski auch offenlassen, ob die Fotos Ablichtungen von anonymen KZ-Insassen sind oder von anonymen Verkehrsopfern oder von Kindern vor zehn Jahren: wichtig ist, daß sich hinter dem Schirm des Vergessens eine Erinnerung rührt, auch wenn diese ihren Gegenstand “vergessen” hat und im Akt der erinnernden “Rekonstruktion” erst aus Bildern, Diskursen und Berichten konstruiert.
1 Flugblatt von Jean Le Gac und Christian Boltanski im CNAC, 1973; zitiert in: Boltanski, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris 1984, S. 26
2 Christian Boltanski im Gespräch mit Delphine Renard; Christian Boltanski, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 1984, S. 41
3 Günter Metken: Les Inventaires, in: Boltanski, Musée Nationald’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris 1984, S. 90
4 Biographie 1944 – 1983, in: Christian Boltanski, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 1984, S. 70 + 72
5 Gespräch mit Delphine Renard (Anm. 2), S. 48
6 Biographie (Anm. 4), S. 78
7 Gespräch mit Delphine Renard (Anm. 2), S. 55
8 Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen, Tumult Nr. 4, Berlin 1982, S. 45 und 46
9 Lynn Gumpert: The Live and Death of Christian Boltanski, Christian Boltanski: Lessons of Darkness, Museum of Contemporary Art, Chicago 1988, S. 68
BILDUNTERSCHRIFTEN
CHRISTIAN BOLTANSKI, Der lustige Prediger (Le joyeux prêcheur), 1974, Plakat, Pastell über Fotografie, 103 x 78 cm.Alle Fotos, soweit nicht anders vermerkt: Courtesy Galerie Ghislaine Hussenot, Paris
CHRISTIAN BOLTANSKI, Das Photoalbum der Familie D. (L’Album de Photographies de la Famille D.), 1971, 22,5 x 30,8 x 4 cm. Foto: ICA, Nagoya
CHRISTIAN BOLTANSKI,oben: Die komischen Einakter( Saynétes comiques (L’horrible découverte)), 1974, fetter Bleistift auf Fotografie, Texte, 102 x 71, 15 x 31 cm. Foto: F. Kleinfennunten: Die komischen Einakter (Saynètes comiques (la punition injuste)), 1974, Fotografie und Pastell, Texte, 4 Bilder je 102 x 72 cm
CHRISTIAN BOLTANSKI, Moderne Kompositionen (Compositions modernes), 1982, 2 von 4 Farbfotografien, je 275 x 108 x 10 cm
CHRISTIAN BOLTANSKI, Der Engel der Einigkeit (L’ Ange d’alliance), Installation in der Chapelle de la Salpêtrière, Herbstfestival, Paris, 1986
CHRISTIAN BOLTANSKI, Die Archive (Les Archives), Installation auf der documenta 8, Kassel 1987, 355 S/w-Fotografien (gerahmt), von 60 x 30 cm bis 40 x 20 cm, 6 Metallgitter bilden 3 Wände von jeweils 227 x 284 cm, Raumgröße 384 x 400 x 227 cm
CHRISTIAN BOLTANSKI, Die Engel (Les Anges), Installation in der Chapelle de la Salpêtrière, Paris, Herbstfestival 1986. Courtesy Centre Georges Pompidou, Paris. Foto: B. Hatalle
CHRISTIAN BOLTANSKI, Monument (Monument), 1986, Schwarzeiß-Fotografien, Glühbirnen, 37 Teile je 20 x 15 cm, ca. 225 x 280 cm
CHRISTIAN BOLTANSKI, Monument (Monument), 1986, Fotografien, Lampen, graue und blaue Elemente, 180 x 165 cm
CHRISTIAN BOLTANSKI, oben: Monumente: Lektionen der Dunkelheit (Leçon de ténèbres), Installation in der Chapelle de la Salpêtriére, Herbstfestival, Paris, 1986 unten: Monumente: Die Kinder aus Dijon (Monuments: Les Enfants de Dijon) , 1986, Installation Musée de Grenoble, 1988, Größe variabel
CHRISTIAN BOLTANSKI,oben: Monuntente: Die Kinder aus Dijon ( Les Enfants de Dijon), 1986; Installation im Palazzo delle Prigione, XLII Biennale, Venedig 1986; unten: Detailnächste Seite: Die Schatten (Les Ombres), 1986, 16 – 20 Marionetten aus Holz, Pappe, Draht und Korken, Metallgerüst, Marionetten an Draht aufgehängt, 5 Projektoren, kleine Fächer, Transformator, Marionetten in der Größe variabel (5 – 25 cm), Gerüst: 100 x 50 x 82 cm, Installation und Größe variabel