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Titel: Konstruktionen des Erinnerns · S. 236 - 237
Titel: Konstruktionen des Erinnerns , 1994

Konrad Hoffmann
Bildträger des Erinnerns

Ein berühmter Zyklus der Autorenbilder eines frühmittelalterlichen Prachtevangeliars (sog. “Evangeliar Ottos III”. Bayerische Staatsbibliothek München cod. lat. monac. 4453, gegen die Wende des ersten Jahrtausends entstanden, nach herrschender Lehrmeinung im Klosterskriptorium der Reichenau) bietet sich zur Reflexion unter den Gesichtspunkten des gegenwärtigen Diskussionsspektrums an. Das Medium des repräsentativen liturgischen Buches erscheint hier in ausgeprägtester Form als ästhetisch-technischer Schauplatz einer mehrdeutigen Sequenz von “Erinnern und Vergessen”.

Einerseits läßt sich bei der systematischen Binnengliederung der Motivkorrespondenzen von einer mnemotechnischen Funktion ausgehen. Durch Zuordnung variierter Rahmenarchitekturen (Arkade bzw. Ädikula), geometrischer Muster (Kreis, Mandorla, Raute) und Begleitfiguren (trinkende Menschen resp. Lämmer; assistierende Schreiber) veranschaulicht die Folge der Evangelisten ein didaktisch pointiertes und einprägsames Lehrprogramm der Dogmatik von Offenbarung und Heilsgeschichte. Die sprechenden Differenzierungen der Attribute (Bücher im Schoß der Evangelisten gegenüber den Rotuli der Propheten bzw. “Symbole”, von denen nur der Adler eine geschlossene Rolle trägt), Zahlen (24 als Gesamtzahl der alt- und neutestamentlichen Autoren) und Farben bereichern als flankierende visuelle Mittel die Umsetzung des Bildgedankens, der auf die christologische Deutungstopik der vier neutestamentlichen Zeugen abzielt. Mnemotechnisch lesbar ist diese Bildorganisation im Sinne der beigeschriebenen Merkverse, die die traditionelle patristische Spekulation mit Zügen individueller ekphrastischer Tituli verbinden (beim Evangelisten Lukas so im Blick auf die aus der Quelle trinkenden Lämmer: “Fonte patrum ductas bos agnis elicit undas”: “Die aus der Quelle der Väter geführten Ströme läßt der Stier für die Lämmer fließen”). Die rhetorisch kunstvolle Poetik von Wort und Bild rechnet mit der vergleichenden Lektüre (beider Medien) bei der Einzeldarstellung (deutlich…


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