Die Linie als Weg
Otto Boll
Ein schwarzer Winkel, im Raum schwebend, die Schenkel immer dünner werdend, verjüngen sich gegen Null. Ein Kreis. Schwebend auch er, zweimal wie eine Spindel sich verdickend, zweimal wieder bis zur Auflösung der Linie abnehmend. Würde man die Stärke dieses Reifs abschnittweise messen und die gewonnenen Werte linear aufzeichnen, entstünde eine Welle, die von Null bis zu einem Maximalwert aufsteigend wieder abfällt bis auf Null, um erneut zu steigen und abzufallen. Damit ist ein Teilaspekt von Otto Bolls Objekten beschrieben. Doch selbst die Summierung solcher, wie sehr auch immer treffenden, erklärenden Schilderungen, hätte, selbst wenn ihr die restlos adäquate Umsetzung in Sprache gelänge, dann noch den Mangel, daß die sprachliche Darstellung etwas in Partikel zerhackt und in Ausführlichkeit auswalzt, das in seiner sinnlichen Erscheinung zart, fragil, fast ein Nichts ist; nur eine Andeutung greifbarer Materie. Auch die Fotografie versagt hier. Deutlicher als bei anderen Reproduktionen von Kunstwerken, läßt sie spüren, daß im vermittelnden Bild etwas fehlt.
Der Fährnis, der die Kunstwerke im »Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit« immer ausgesetzt sind, nämlich: daß das Substitut mehr gesehen (oder gehört) wird als das Original, entgeht Boll, indem er aller Reproduktion den Boden entzieht, sprich: seine Objekte in ihrer materiellen Substanz so weit zurücknimmt, daß durch den bei der »Umsetzung« in ein Medium wie dieFotografie kaum zu vermeidenden »Reibungsverlust« so viel wie alles verloren geht. Dieser Effekt ist von Otto Boll bewußt in seine Arbeit miteinkalkuliert. Boll fordert die unmittelbare Auseinandersetzung mit seinen beinah haardünnen Strahlen, Winkeln, Kreisen, Ellipsen. Das grundsätzliche…