War der moderne Kunstbegriff nur eine kurze Episode ?
von Noemi Smolik
Es ist ein Entwurf, der „von Europa bis Amerika, von Kanada bis Brasilien, von Persien bis Japan… die oft über Jahrtausende aufgebauten und gehaltenen Kulturbastionen der Folklore überwältigt und an der Oberfläche vernichtet.“1 So erklärt Werner Haftmann, documenta Mitbegründer und Ideengeber ihrer ersten drei Ausgaben, in seinem, ganze Generationen von deutschen Kunsthistorikern*innen prägenden Buch Malerei des 20. Jahrhunderts, was er unter modernem Lebensentwurf versteht. Haftmann wurde erst vor kurzem als gnadenloser SA-Jäger italienischer Partisanen entlarvt, der nach 1946 in Italien als Kriegsverbrecher gesucht wurde. Kein Wunder daher, dass angesichts solcher militanter Äußerungen, der französische Kulturphilosoph Bruno Latour von der Moderne als einer Erscheinung spricht, die sich asymmetrisch verhält und die daher immer auch einen Kampf bedeutet, „in dem es Sieger und Besiegte gibt“.2
„Die Besiegten“ richten die documenta 15 aus
Folgt man Haftmann und Latour Argumentation dann sind es „die Besiegten“, in der Sprache der documenta-Leitung die Vertreter des globalen Südens – das indonesische Kollektiv ruangrupa – das die documenta 15 ausrichtet. Das Kollektiv nahm sich vor, nicht einzelne Kunstwerke von bekannten Künstlern*innen zu zeigen, sondern ihre eigenen Aktivitäten und die der eingeladenen weiteren Kollektive zur Diskussion zu stellen. Und man begegnet überall vielen Sitzecken, die zum Dialog einladen und vielen Dokumentationen. So in der documenta-Halle der Präsentation des von der kubanischen Künstlerin und Aktivistin Tania Bruguera gegründeten Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR) [S. 150] oder dem thailändischen Kollektiv Baan Noorg Collaborative Arts and Culture, [S. 158] das auf einer Skateboardrampe…