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Titel: Ressource Kreativität · von Thomas Macho · S. 118 - 125
Titel: Ressource Kreativität , 2017

Der Preis des Schöpferischen

Zwischen Kreativität und Zerstörung
von Thomas Macho (Text) und Steve Antony (Illustrationen) 

Wie kommt Neues in die Welt? Die Antwort scheint nahezuliegen: durch einen klugen Einfall, durch eine überraschende Idee, durch einen guten Rat. Zugleich wissen wir auch: Das Neue kommt in die Welt – durch die Zerstörung des Alten. Davon erzählen die Mythen verschiedener Kulturen. Gerade die kreativsten Gottheiten sind häufig auch die destruktivsten; sie sind zornig, neidisch oder rachsüchtig, und ihre Neigung zu Wutanfällen kann geradezu als universalreligiöses Prinzip gewürdigt werden. Woran sonst sollte der Rang eines Gottes, seine Überlegenheit, erfahren werden, wenn nicht an seiner Unberechenbarkeit? Woran sonst sollte seine Schöpfungskraft gemessen werden, wenn nicht an seiner Fähigkeit zur Zerstörung?

Zerstörungswut:

Erst habe ich alles geschaffen, dann habe ich alles zerstört, und jetzt mache ich alles neu

Gott ist weder eine gute Mutter, noch ein freundlicher Vater, wie ein Romanheld Kurt Vonneguts – Kilgore Trout – anlässlich einer Umweltschutzdebatte treffend bemerkt: „Haben Sie je einen von Seinen Vulkanausbrüchen oder Wirbelstürmen und Springfluten erlebt? Mal was von den Eiszeiten gehört, die er alle Halbmillionen Jahre in Szene setzt? Und wie ist es mit dem großen Ulmensterben? Sowas nennt sich nun Naturschutz. Und das kommt von Gott, nicht vom Menschen. In dem Moment, wo wir endlich unsre Flüsse sauber haben, wird er wahrscheinlich die gesamte Milchstraße hochgehen lassen wie einen Zelluloidkragen. Das nämlich war der Stern von Bethlehem, verstehen Sie.“1

Vonnegut hat Recht. Und die Bemerkungen seines Protagonisten lassen sich nicht nur auf die gefährlich boshaften und jähzornigen Götter auf dem Olymp, im römischen Pantheon, in altägyptischen, indischen oder mittelamerikanischen Himmeln, beziehen, sondern auch auf den Schöpfergott der jüdisch-christlichen Tradition. Wer den Kosmos und seine Ordnung aus dem Chaos hervorbringt, kann eben durchaus auf die Idee kommen, den Kosmos wieder ins Chaos zurückstürzen zu lassen.

Das Unglück beginnt schon im Paradies. Erst heißt es: „Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn.“ (Gen 1,26–27) Doch spätestens nachdem das Gott ähnliche „Abbild“ vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, wird es aus dem Paradies vertrieben, und zwar – man kann es nicht anders sagen – aus Gründen schlichter Konkurrenz. „Seht, der Mensch ist geworden wie wir, er erkennt Gut und Böse. Daß er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon ißt und ewig lebt!“ (Gen 3,22)

Wenig später wird gar die ganze Schöpfung zurückgenommen. „Da reute es den Herrn, auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, sie gemacht zu haben.“ (Gen 6,6–7)

Konkret hat solche Zerstörungswut Gestalt angenommen in der Sintflut. Und sie wird erneut Gestalt annehmen am Jüngsten Tag: im vielfach prophezeiten Untergang der Welt. Erst die gründliche Zerschlagung der Schöpfung, die endgültige Trennung von Guten und Bösen, wird das kreative Temperament Gottes beflügeln: bei der Gründung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Denn der „erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr“. (Apk 21,1)

In der heiligen Stadt Jerusalem wird Gott, verspricht die apokalyptische Vision, mitten unter den Menschen wohnen. „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“ (Apk 21,4–5) Erst habe ich alles geschaffen, dann habe ich alles zerstört, und jetzt mache ich alles neu. Die Logik wirkt vertraut: Sie erinnert an die Operationen eines kleinen Kindes, wie sie Pierre Gripari in seiner Novelle Der kleine Jehova porträtiert hat.2 Und sie erinnert an die Thesen vom Ursprung der Religionen, die Harald Strohm – insbesondere im Blick auf die indische Religion und die Mithras-Mysterien – entwickelt hat.3 Schon im Kinderspiel wird die Errichtung und Zerstörung von Welten geprobt: Der Turm aus Bauklötzchen muss am Ende wieder umgeworfen werden.

Produktive Zerstörung:

Auf der mit dem Schindermesser abgezogenen Haut kann das Gesicht Michelangelos erkannt werden

Die Idee einer dialektischen Verschränkung von Schöpfung und Zerstörung hat sich – im Zuge der Säkularisierungsprozesse – auch nachhaltig manifestiert in den Diskursen um menschliche Kreativität. Denken wir an Michelangelo, den Renaissance-Künstler, der als „divino“, als „göttlich“, beschrieben wurde: In der Sixtinischen Kapelle hat er der Schöpfungsgeschichte – dem bekannten Bild von Gott, der Adam mit dem Finger berührt – zuletzt das Altargemälde des Jüngsten Gerichts hinzugefügt, das er – mehr als zwanzig Jahre nach dem Deckengemälde – zwischen 1536 und 1541 malte.

Da sehen wir Christus als Weltenrichter, der aus einer lichterfüllten Glorie ins Bild tritt, ein apollinischer Gott, der die Diskussionen des fortgeschrittenen 16. Jahrhunderts um Kalenderreformen, Meridiane und Sonnenlöcher in Kathedralen4 aufgenommen zu haben scheint; links neben ihm sitzt Maria. Ihr Blick führt den Betrachter an den linken unteren Rand der zentralen Struktur, die San Lorenzo mit dem Rost besetzt; ihm gegenüber sitzt San Bartolomeo mit dem Schindermesser und der Haut, die ihm abgezogen wurde. Auf der Haut kann das Gesicht Michelangelos erkannt werden.

Gelegentlich wurde dieses grausige Selbstporträt, das den geschundenen Apostel und die Haut des Malers in die Nähe Christi rückte, mit einem späten Gedicht Michelangelos assoziiert, das er wohl nach dem Tod der Vittoria Colonna (am 25. Februar 1547) verfasst hatte. Michelangelo war damals 72 Jahre alt. Er klagte: „Wie eine Hummel brummt es stets in meinem Gehirn, ein Sack umhüllt mir Nerv’ und Knochen. Mich schmerzt das Pech von gleich drei Blasensteinen. Das Augenblau zermahlen und zerstochen, Zähne, die Instrumententasten gleich, und klappern sie, klingt jedes Wort gebrochen. Jeden läßt mein Gesicht vor Schreck erbleichen; es reicht, mit meinem Kleid ins Feld zu treten, um alle Raben aus der Saat zu scheuchen.“5

Die Schöpfung zerstört auch den Schöpfer; und das Genie ist – gerade unter den Vorzeichen des Jüngsten Tages –…


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