Relektüren
Folge 68
Rainer Metzger
„Geben Sie fünf Kindern fünf verschiedene Spielzeuge, so ist es absolut unmöglich, daß die Verteilung dieser Objekte reibungslos vor sich geht; der erste wählt ein Spielzeug, und sofort möchten auch der Zweite, der Dritte, der Vierte und der Fünfte den gleichen Gegenstand besitzen. Hier sieht man übrigens, daß es durchaus so etwas wie einen rationalen Grund des mimetischen Begehrens gibt: da nämlich pertinente Kriterien zur Wahl des einen oder anderen Gegenstandes fehlen, fungiert die Wahl des Anderen selbst als das gesuchte Kriterium. Der Andere sieht in meiner Wahl etwas, das ich selbst nicht gesehen habe, und gemeinsam geben wir erst unserem Objekt seinen Wert, so daß die Wahl so gesehen als durch und durch motiviert erscheint. Sozial gesehen ist dieser Konflikt schädlich, führt er doch stets zur Auseinandersetzung, und alle Mechanismen der Höflichkeit, des guten Tons, die Verbote, die Tabus, ja Kultur überhaupt, sind nichts anderes als Kontrollinstanzen, die den stets drohenden Konflikt unterbinden sollen.“ In diesen Sätzen skizziert René Girard auf das Nachvollziehbarste den Ausgangspunkt seiner Theorie. Le désir mimetique, das mimetische Begehren zeichnet das Menschentier aus. Das Animal Rationale ahmt alles nach und reißt sich alles unter den Nagel, es will nachmachen und es will haben. Unweigerlich entstehen daraus Konflikte, und sie sind aus Gründen menschlicher Verfasstheit unvermeidlich. Gewalt entsteht.
Als junger Mann war Girard, geboren am Weihnachtstag 1923 in Avignon, in die USA gekommen, wo er, zuletzt in Stanford, Literaturwissenschaft lehrte. Dort ist er 2015 auch gestorben. Abstammungsgemäß war er als Romanist tätig, doch die…