Surreale Aromen
Das volatile Erbe Marcel Duchamps
von Caro Verbeek
Trauen wir den Nasenzeugen? Trauen wir dem Künstlerwitz? Eine detektivische Spurensuche, eine spekulative Rekonstruktion und ein utopischer Vorschlag für die künftige Kunstgeschichtsschreibung.
Kaum ein klassisch-moderner Künstler wird so oft mit Geruch und Flüchtigkeit in Verbindung gebracht wie Marcel Duchamp (1887 – 1968). Die meisten internationalen Ausstellungen der Surrealisten, die er als Gesamtkunstwerke betrachtete, versah er absichtlich mit Düften und Parfüms. Zedernholz, Kaffee, brennende Hanfseile und verführerische Düfte erlebten die Tausenden von Besucher*innen der sensationellen Ausstellungen, die zwischen 1938 und 1959 stattfanden. In den folgenden Abschnitten werde ich drei Kunstwerke von Duchamp besprechen und kontextualisieren, die sich entweder konzeptionell oder direkt mit dem Geruchssinn befassen.1
Belle Haleine: Der charakteristische Geruch von Rrose Selavy
1921 brachte Man Ray ein Fläschchen des immens populären Parfums Un Air Embaumé – Eau de Violette von Rigaud aus New York mit und schenkte es seinem Freund. Duchamp eignete sich den Flakon an, indem er die Farbe des Glases von Pfirsich in Grün änderte und ein neues, individuelles Etikett entwarf. Ein Bild von Duchamps weiblichem Alter Ego Rrose Selavy ziert den Deckel. Schließlich benannte er das Parfüm in Belle Haleine – Eau de Voilette um, und eine weltberühmte, assistierte Herstellung erblickte das Licht der Welt. Der Titel ist eindeutig ein Wortspiel, das sich sowohl auf Mundwasser als auch auf die klassische Schönheit Helene von Troja bezieht. Interessanterweise verrät das Wortspiel auch etwas über die zeitgenössische (und sehr alte) Verwendung von Parfüm als Medizin: in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Eau…